Steffen Lehndorff

Wie lang arbeiten Lohnarbeiter in Deutschland"

- Die tatsächlichen Arbeitszeiten der Vollzeit-ArbeitnehmerInnen in Deutschland liegen im Schnitt rund zweieinhalb Stunden über dem Tarifniveau.  

-  Die faktische Normalarbeitszeit abhängig beschäftigter Vollzeitkräfte in beiden Teilen Deutschlands ist im Durchschnitt die 40-Stunden-Woche.

- Nach den tarifvertraglichen Arbeitszeitverkürzungen der 80er Jahre sind die tatsächlichen Arbeitszeiten in der zweiten Hälfte des zurückliegenden Jahrzehnts wieder länger geworden. (...)

In jüngster Zeit mehren sich Vorschläge, die lahmende Wirtschaft durch Verlängerung der Arbeitszeiten zu beleben. Dabei ist meistens nicht klar, was eigentlich gefordert wird: Geht es um die Verlängerung der tarifvertraglichen Arbeitszeiten? Dann darf nicht von der Branche mit den kürzesten Arbeitszeiten – der westdeutschen Metallindustrie mit ihrer 35-Stunden-Woche – auf die gesamte Wirtschaft geschlossen werden.

Oder geht es um die Verlängerung der tatsächlich gearbeiteten Stunden? Dann darf nicht einfach unterstellt werden, diese seien ebenso lang oder kurz wie die in den Tarifverträgen vereinbarten Arbeitszeiten.

Vielmehr sollte zunächst einmal geklärt werden, wie lang die Arbeitszeiten in Deutschland tatsächlich sind, bevor über die Zweckmäßigkeit oder Schädlichkeit ihrer Verlängerung gestritten wird. Eine solche Bestandsaufnahme ist nicht zuletzt deshalb angebracht, weil in der aktuellen Debatte gelegentlich mit Durchschnittszahlen operiert wird, die die Arbeitszeiten von Vollzeit- und Teil-zeitbeschäftigten umfassen (vgl. z.B. iwd 2003a). Zwar hat die Zunahme der Teilzeitarbeit seit den 70er Jahren in bedeutendem Maße zum Rückgang der durchschnittlichen Arbeitszeit beigetragen (OECD 1998). Es ist jedoch zu bezweifeln, dass mit den Forderungen nach Arbeitszeitver-längerung auf einen Abbau von Teilzeitarbeit abgezielt wird. Deshalb sollten die Arbeitszeitvergleiche seriöserweise auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Vollzeitbeschäftigung beschränkt werden.

Für den folgenden Überblick haben wir den Mikrozensus sowie die Europäische Arbeitskräfte-stichprobe ausgewertet; außerdem ziehen wir veröffentlichte Daten aus dem IAB-Betriebspanel heran.

Die tatsächliche Arbeitszeit ist länger
als die tarifvertragliche Arbeitszeit

Zunächst ein Blick auf die tarifvertraglichen Arbeitszeiten.

Zunächst hatte es in Westdeutschland im Zeitraum Mitte der 80er bis Mitte der 90er Jahre deutliche Verkürzungen des tarifvertraglich vereinbarten Niveaus von 39,6 auf 37,4 Wochenstunden gegeben.

In Ostdeutschland gingen die durchschnittlichen tarifvertraglichen Arbeitszeiten Anfang und Mitte der 90er von 40,2 auf 39,1 Wochenstunden zurück. Mitte der 90er Jahre war jedoch das vorläufige Ende dieser Serie tarifvertraglicher Arbeitszeitverkürzungen erreicht. Seitdem liegen die tariflichen Arbeitszeiten im gesamtdeutschen Durchschnitt unverändert bei 37,65 Wochenstunden (BMWA 2003: 50). (...)

In der Debatte um Arbeitszeitverlängerungen wird häufig auf diese tarifvertragliche Arbeitszeitdifferenz – sei es auf Wochen- oder auf Jahresstundenbasis – Bezug genommen (vgl. z.B. iwd 2003b). Dabei wird gewöhnlich übersehen, dass die betrieblich vereinbarten Arbeitszeiten in vielen Fällen von den Tarifverträgen abweichen. Ein Grund dafür ist die Tatsache, dass nicht alle Unternehmen tarifgebunden sind (2001 arbeiteten in Westdeutschland 63% der Beschäftigten, in Ostdeutschland 44% in Betrieben mit Tarifbindung; Kohaut/Schnabel 2003).

Je geringer die Tarifbindung ist, desto größer der Anteil der Beschäftigten, deren Arbeitszeiten nach oben nur noch durch das Arbeitszeitgesetz begrenzt werden. Die zuverlässigsten Informationen zu den betrieblich vereinbarten Wochenarbeitszeiten enthält das Betriebspanel des IAB, eine große und regelmäßig durchgeführte repräsentative Unternehmensbefragung (Bellmann/Ellguth/Promberger 2003).

Im Jahre 2002 lagen die durchschnittlichen vereinbarten Wochenarbeitszeiten in Deutschland insgesamt bei 38,9 Stunden (privater Dienstleistungssektor und verarbeitendes Gewerbe) bzw. 38,7 Stunden (Angestellte im öffentlichen Dienst). Damit befanden sie sich rund 1,2 Wochenstunden oberhalb des Tarifniveaus.

Dies sind Durchschnittswerte. Eine Betrachtung der Verteilung der Arbeitszeiten nach Stunden-intervallen zeigt nun für den Dienstleistungssektor in Westdeutschland, dass in fast 40 % der Betriebe die vereinbarte Arbeitszeit 40 Wochenstunden oder mehr beträgt, obwohl es kaum noch Branchen mit einer tarifvertraglichen Arbeitszeit von 40 Wochenstunden gibt.

Bisher haben wir die tarifvertraglichen und die betrieblich vereinbarten Arbeitszeiten betrachtet. Die Zwischenbilanz lautet: Erstens liegen die vereinbarten Arbeitszeiten im Schnitt rund 1,2 Wochenstunden über dem durchschnittlichen Tarifniveau. Zweitens liegen die vereinbarten Arbeitszeiten über dem Durchschnitt, wenn der Betrieb nicht tarifgebunden ist oder keinen Betriebsrat hat. Drittens spielt die 40-Stunden-Woche weiterhin eine große Rolle als faktische Arbeitszeit-norm, und dies nicht nur im Osten, sondern auch im Westen Deutschlands. (...)

Faktische Normalarbeitszeit in Deutschland
ist die 40-Stunden-Woche

In einem dritten Schritt betrachten wir nun die tatsächlichen Arbeitszeiten. Wir bedienen uns dazu des Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes sowie der u.a. auf dem Mikrozensus auf-bauenden Europäischen Arbeitskräftestichprobe. Der Mikrozensus ist die umfangreichste repräsentative Haushaltsbefragung, in der regelmäßig Fragen zur Arbeitszeit der erwerbstätigen Haus-haltsmitglieder gestellt werden. Da diese Art von Erhebung in allen EU-Ländern harmonisiert durchgeführt wird, bietet sie zudem eine Basis für internationale Vergleiche.

Die folgenden Daten zu den tatsächlichen Arbeitszeiten beruhen auf den Angaben der Befragten zur Selbsteinschätzung ihrer „normalerweise“ pro Woche gearbeiteten Stunden. (...)  Die faktische Normalarbeitszeit abhängig beschäftigter Vollzeitkräfte in beiden Teilen Deutschlands ist im Schnitt die 40-Stunden-Woche. Im Vergleich mit den oben genannten Zahlen zur durchschnittlichen betrieblich vereinbarten Wo-chenarbeitszeit von 38,9 Stunden in der privaten Wirtschaft, die bereits rund 1,2 Wochenstunden oberhalb des Tarifniveaus lag, macht dies einen weiteren Niveauunterschied von etwas über einer Wochenstunde aus. Die Differenz zwischen tarifvertraglicher und tatsächlicher Arbeitszeit in Deutschland beträgt im Schnitt zwei bis zweieinhalb Wochenstunden.

Wie der Blick auf die Arbeitszeitveränderungen in den 80er und 90er Jahren zeigt, ist diese Differenz zwischen tarifvertraglichen und tatsächlichen Arbeitszeiten in Westdeutschland im zurückliegenden Jahrzehnt größer geworden

 In den 80er Jahren waren die Arbeitszeiten mit dem Beginn des Wirtschaftsaufschwungs zunächst angestiegen, folgten dann aber den tarifvertraglichen Arbeitszeitverkürzungen wie an einem allmählich länger werdenden Gummiband. Diese Verkürzungstendenz hielt während der gesamten Periode wirtschaftlichen Wachstums einschließlich des so genannten Vereinigungsbooms 1990 bis 1992 an.

Nach Überwindung der Rezession von 1993 begannen die tatsächlichen Arbeitszeiten – wie in derartigen Situationen zunächst üblich – wieder anzusteigen. Im Unterschied zur Wachstumsphase der 80er Jahre hielt jedoch dieser Anstieg in der zweiten Hälfte der 90er Jahre an, obwohl die wirt-schaftlichen Wachstumsraten deutlich schwächer waren als in den 80ern. Eine gewisse Verkürzung der tatsächlichen Arbeitszeiten trat erst mit dem Erlahmen des Wirtschaftswachstums in 2001 ein, parallel zum Rückgang der Beschäftigtenzahlen. Diese – wenn auch geringfügige – Arbeitszeitverkürzung ist für wirtschaftliche Stagnations- und Rezessionsphasen typisch und kommt auch in einem leichten Rückgang der bezahlten Überstunden zum Ausdruck (Bach et al. 2002). (...)

Während also die Arbeitszeiten der vermeintlichen „Freizeitweltmeister“ im EU-Mittelfeld lie-gen, haben andere Länder mit einer hochgradig leistungs- und wettbewerbsfähigen Wirtschaft wie Frankreich oder die Niederlande deutlich kürzere Arbeitszeiten als Deutschland. Auf der anderen Seite ist die Arbeitsproduktivität pro Stunde in Großbritannien, dem Land mit den längsten tatsächlichen Arbeitszeiten von Vollzeitbeschäftigten in der EU, deutlich niedriger als in den Ländern mit kurzen Arbeitszeiten (Tabelle 5).

Tabelle 5: Arbeitsproduktivität je geleisteter Arbeitsstunde in der EU

(2001; Kaufkraftparitäten; EU 15 = 100)

B  = 124,8

DK = 105,1

D  = 106,8

EL = 67

E  = 81,8

F  = 117,9

IRL = 110,2

I   = 111,5

NL  = 116,9

UK  = 85,5

Quelle: Eurostat Strukturindikatoren

Die Gegenüberstellung von Arbeitszeiten und Arbeitsproduktivität provoziert eine zugespitzte Schlussfolgerung: Kurze Arbeitszeiten wirken als „Produktivitätspeitsche“, während lange Ar-beitszeiten Anlass zur Zeitverschwendung geben. (...)

Deutschland ist in den 90er Jahren zu einem der Vorreiter betrieblicher Arbeitszeitflexibilisierung in Europa geworden: Nach einer im Jahre 2000 durchgeführten EU-Managementbefragung reagieren 84% der Unternehmen im deutschen verarbeitenden Gewerbe auf schwankenden Kapazitätsbedarf mit einer Anpassung der Arbeitszeiten, gegenüber 70% im EU-Durchschnitt (European Commission 2000: 154; zum Beispiel der Automobilindustrie vgl. Lehndorff 2001).

Insbesondere die Arbeitszeitkonten haben in Deutschland einen Boom erlebt wie in nur wenigen anderen europäischen Ländern (European Commission 2003; Seifert 2001). (...)

Gekürzt aus: http://iat-info.iatge.de/iat-report/2003/report2003-07.pdf