Dokumentiert:

1. Kampf gegen die Wiederbewaffnung und Aufstellung der Bundeswehr

(...) Als Konrad Adenauer 1965 im ersten Band seiner »Erinnerungen« Rückschau auf die wohl schwierigste Zeit seiner Amtsführung hielt, stellte er mehr oder weniger lakonisch fest, dass der Gedanke, seinerzeit einen Verteidigungsbeitrag in Europa leisten zu wollen, »im deutschen Volk sehr unpopulär« gewesen sei.

Wer sich die Mühe macht, die Umfrageergebnisse aus den ersten Jahren der Bundesrepublik herauszusuchen, der stößt anfangs auf eine regelrechte Ablehnungsfront, die von nahezu Dreiviertel der Bevölkerung getragen wurde: Im Dezember 1949 sprachen sich nach Angaben des Bielefelder Emnid-Instituts 74,6 Prozent der Befragten dagegen aus, wieder Soldat zu werden, und im November 1950 mit 73,4 Prozent beinahe ebensoviel. Diese Ergebnisse änderten sich jedoch bereits Mitte der fünfziger Jahre beträchtlich. Unter der massiv gestiegenen Furcht vor einem sowjetischen Angriff und angesichts der Einschränkung, einer Wiederbewaffnung nur in Form einer Beteiligung an einer europäischen Armee zustimmen zu sollen, wuchs die Anzahl der Befürworter nach der gewaltsamen Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes im Dezember 1956 auf 63 Prozent. Das Potential der Gegner war inzwischen auf knapp 25 Prozent gesunken.

Die wichtigsten Etappen des Widerstands gegen die Remilitarisierung spielten sich in einzelnen Stufen zwischen 1950 und 1955 ab. Die ersten Ansätze zu einer Friedensbewegung erlebten im Sommer 1950 unter der drohenden Gefahr, dass der Korea-Krieg auf Europa überspringen und der Ost-West-Konflikt in Deutschland eine Entscheidungsschlacht finden könnte, einen breiten Aufschwung. Bereits Ende August erklärte Bundeskanzler Adenauer in einem an die Alliierte Hochkommission gerichteten geheimen Sicherheitsmemorandum seine Bereitschaft, ein deutsches Kontingent im Rahmen einer europäischen Streitkraft aufstellen zu wollen. Dieser Schritt, der ohne Absprache mit seinen Kabinettsmitgliedern erfolgt war, führte zu einem Zerwürfnis mit Bundesinnenminister Gustav W. Heinemann (CDU), der schließlich am 9. Oktober 1950 zurücktrat. Am selben Tag ging im Eifelkloster Himmerod eine Geheimtagung ehemaliger Wehrmachtsoffiziere zu Ende. Ergebnis war eine Denkschrift zur Wiederbewaffnung, in der die Aufstellung einer deutschen Armee im Rahmen einer westeuropäischen Streitmacht vorgeschlagen wurde. Noch im selben Monat wurde der CDU-Bundestagsabgeordnete Theodor Blank damit beauftragt, eine Dienststelle aufzubauen, in der alle, wie es etwas vernebelnd heißt, »mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen« behandelt werden sollten.

Während der ersten Bundestagsdebatte über die Wiederbewaffnung im November erklärte Adenauer seine Bereitschaft für einen deutschen Verteidigungsbeitrag an einer Europa-Armee. Oppositionsführer Kurt Schumacher lehnte eine Beteiligung daran mit dem Argument ab, dass die Deutschen dabei nicht als gleichberechtigte Partner akzeptiert würden. Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits mehrere Geheimtreffen des SPD-Vorsitzenden mit den Ex-Generälen Adolf Heusinger und Hans Speidel stattgefunden, in denen Schumacher nicht nur sein grundsätzliches Einverständnis zur Remilitarisierung zu erkennen gab, sondern in seinen Vorstellungen von der Divisionsstärke einer deutschen Armee auch noch die seiner Gesprächspartner bei weitem übertraf.

Es waren Gewerkschaftler, Sozialdemokraten, Christen und Kommunisten, vor allem aber auch die Mitglieder der westdeutschen Freien Deutschen Jugend (FDJ), die sich gegen den Wiederaufrüstungskurs zur Wehr setzten. Sie wandten sich gegen den Einbau von Sprengkammern an der Loreley, erinnerten am 1. September mit dem »Anti-Kriegstag« an den Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen, mit dem der Zweite Weltkrieg begonnen hatte, und sie versuchten trotz Verbots am 1. Oktober bundesweit einen »Tag der hunderttausend Friedenskämpfer« durchzuführen. Da das Auftreten der kommunistischen Friedensbewegung nur einseitig die Abrüstung des Westens forderte und gleichzeitig die Aufrüstung des Ostens als Beitrag zum Frieden guthieß, war ihr Effekt jedoch begrenzt. Das traf auch auf den »Stockholmer Appell« zu. Die Unterschriften-Kampagne des Weltfriedensrates für ein Verbot aller Atomwaffen war numerisch zwar erfolgreich, politisch aber weitgehend wirkungslos. Ihre Durchführung wurde begleitet von massiven Behinderungsversuchen. In West-Berlin wurden auf einen Schlag 1 500 FDJ-Mitglieder allein aus dem Grunde festgenommen, weil sie Unterschriften sammelten. Im August beschloss die Landesinnenministerkonferenz eine Reihe von Maßnahmen gegen die kommunistisch gesteuerte Friedensbewegung: Kongresse, Konferenzen und Demonstrationen gegen die Remilitarisierung wurden verboten.

Auch das gesamte Jahr 1951 war durchzogen von starken Aktivitäten der Friedensbewegung. Kongresse, Konferenzen, Kundgebungen, Demonstrationen und Aktionen wurden veranstaltet, um eine Wiederbewaffnung zu verhindern. Nicht wenige dieser Manifestationen waren von der SED in Ost-Berlin beeinflusst, wenn nicht gar gesteuert. Am deutlichsten wurde das bei dem Versuch, eine bundesweite Volksbefragung gegen Remilitarisierung durchzuführen, deren politische Zielsetzungen mit den von der Volkskammer und der DDR-Regierung vertretenen identisch waren. Zu diesem Zweck wurde in Essen auf einem Kongress ein zentraler Ausschuss gegründet, der die Durchführung der Kampagne übernehmen sollte. Nach zahlreichen Veranstaltungen wurde die Volksbefragung schließlich von Bundesinnenminister Robert Lehr (CDU) mit der Begründung verboten, damit sollte die »freiheitlich demokratische Grundordnung der Bundesrepublik (...) untergraben« werden. Trotz des Verbots, das von Gustav Heinemann, Helene Wessel, Martin Niemöller und anderen heftig kritisiert wurde, begannen einzelne Komitees mit der Durchführung der Volksbefragung. (...)

Zu einer blutigen Konfrontation zwischen Polizei und jugendlichen Demonstranten kam es am 11. Mai 1952 in Essen. Eine »Friedenskarawane der Jugend«, zu der 30.000 Demonstranten in die vor allem wegen ihrer Rüstungsindustrie bekannte Stadt kamen, wurde im letzten Moment verboten. Als die Jugendlichen dennoch einen Zug bildeten, trat ihnen ein großes Polizeiaufgebot entgegen, das sie mit aller Gewalt zu zerstreuen versuchte. Gegen die Flüchtenden wurden nicht nur Gummiknüppel, sondern auch Schusswaffen eingesetzt. Zwei der Demonstranten wurden schwer verletzt; der 21-jährige Philipp Müller, ein Mitglied der verbotenen FDJ aus München, starb an einem Rückenschuss. In den Nachrichten wurde der Sachverhalt zunächst völlig verdreht. Angeblich hatte die FDJ auf die Polizei geschossen, die dann dazu gezwungen gewesen sei, das Feuer zu erwidern. Gegen keinen der für die Todesschüsse verantwortlichen Beamten wurde jemals ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Aber elf von Hunderten von Demonstranten wurden in Dortmund vor Gericht gestellt und zu Gefängnisstrafen verurteilt.
(...)

Einen Höhepunkt erlebte die sich neu formierende Friedensbewegung nach der Unterzeichnung der Pariser Verträge im Oktober 1954. Als der Wehrbeauftragte der Bundesregierung, Theodor Blank, auf Wahlveranstaltungen der CDU auftrat, kam es in einer Stadt nach der anderen zu massiven Protesten und zum Teil auch zu Tumulten. In Gießen, Nürnberg, Augsburg, Fulda und anderen Orten musste der Politiker, der bundesweit als Personifikation der Remilitarisierung wahrgenommen wurde, von Polizeikräften vor Übergriffen geschützt werden. Auch Diskussionsveranstaltungen mit anderen Vertretern der »Dienststelle Blank« führten häufig zu mehr als nur verbalen Auseinandersetzungen. Landauf, landab stießen die Befürworter einer neuen deutschen Armee auf Unverständnis, Wut und Empörung.

Die Friedensbewegung erlebte 1955 einen weiteren Höhepunkt und musste dennoch wieder einmal eine politische Niederlage einstecken. Nachdem klar war, dass sich eine parlamentarische Mehrheit für die Verabschiedung der Pariser Verträge wohl nicht verhindern ließ, sich aber gleichzeitig eine Welle des Protests gegen die dadurch möglich werdende Wiederbewaffnung zu formieren begann, beschloss der Parteivorstand der SPD in Bonn, eine außerparlamentarische Kampagne gegen das Vertragsvorhaben zu starten. Mit einer Auftaktveranstaltung in der Frankfurter Paulskirche, auf der ein gegen Wiederbewaffnung und für Wiedervereinigung ausgerichtetes »Deutsches Manifest« verabschiedet wurde, begann eine mehrere Wochen anhaltende Protestkampagne, die »Paulskirchenbewegung«.

Obwohl Bundeskanzler Adenauer deren Teilnehmer als Vertreter der »Straße« diffamiert hatte und keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit erkennen ließ, dass die Entscheidungskompetenz allein dem Parlament vorbehalten bliebe, beteiligten sich Zehntausende an Kundgebungen und Demonstrationen, um ihren Befürchtungen vor einer neuen deutschen Armee und einer Vertiefung der Spaltung Deutschlands Ausdruck zu verleihen. Höhepunkte waren Großkundgebungen von SPD und DGB in München, Stuttgart, Frankfurt und Dortmund. Hunderttausende von Bundesbürgern unterzeichneten in einer bundesweiten Unterschriftensammlung das »Deutsche Manifest«. (...)

Gekürzter Text von Wolfgang Kraushaar

 

Dokumentiert:

2. Kampf gegen die atomare Bewaffnung des Bundeswehr

Je klarer die Bundesregierung zu erkennen gab, daß sie die Bundeswehr atomar aufrüsten wollte, desto stärker schälte sich Ende der 50er Jahre eine Anti-Atomtod-Bewegung heraus. Der stärkste Impuls ging dabei von einer Gruppe international angesehener Wissenschaftler aus. Als Reaktion auf Adenauers Verharmlosung der taktischen Atomwaffen, die er auf einer Pressekonferenz als »Fortentwicklung der Artillerie« bezeichnete, stellten 18 Professoren der Universität Göttingen im April 1957 in einer gemeinsamen Erklärung fest, daß jede einzelne solcher Waffen eine Vernichtungskraft wie die Hiroshima-Bombe habe. Die Naturwissenschaftler, darunter die Atomphysiker Max Born, Otto Hahn, Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker, forderten die Bundesregierung auf, grundsätzlich auf eine Atombewaffnung zu verzichten. Die »Göttinger Erklärung« wurde in der Folge zur Plattform für die Gegner einer Atombewaffnung der Bundeswehr. Bereits bei den Maikundgebungen der Gewerkschaften erklärten sich Hunderttausende mit diesem Appell solidarisch. Kurz darauf ergriffen 99 Intellektuelle, darunter der Hamburger Verleger Ernst Rowohlt, die Initiative und forderten die Bundesregierung in einem offenen Brief dazu auf, einen Verzicht auf eine Atombewaffnung jeglicher Art zu erklären. Im Juli fand mit ähnlicher Zielsetzung in der Frankfurter Paulskirche eine »Frauenkonferenz gegen die Atomrüstung« statt, und kurz vor den Bundestagswahlen im September forderten 20 Schriftsteller, darunter der Hamburger Hans Henny Jahnn, die Bundesbürger dazu auf, ihre Entscheidung im Bewußtsein der von der Nuklearbewaffnung ausgehenden existentiellen Gefährdung zu treffen. Bei einer ganzen Reihe von Wahlkampfveranstaltungen wurde mit Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß der stärkste Befürworter einer Atomrüstung zur Zielscheibe wütender Proteste. Kundgebungen in München, Hamburg, Essen und anderen Städten gingen in Tumulten unter oder konnten nur unter starkem Polizeischutz zu Ende geführt werden.

Der Konflikt um die Atombewaffnung der Bundeswehr war einer der tiefstgreifenden, welche die Bundesrepublik erschütterten. Nach den jahrelangen Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung war die Parteiendemokratie damit erneut einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt. (...)


Da von Anfang an keine Aussicht bestand, bei der Abstimmung über die Atombewaffnung die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag anzutasten, blieb der Opposition nur die Hoffnung auf eine außerparlamentarische Bewegung. Auf Initiative des SPD-Bundesvorstands kamen im Februar 1958 in Bad Godesberg Politiker, Gewerkschaftler sowie Kirchenmänner zusammen und riefen die Kampagne »Kampf dem Atomtod« ins Leben. Wenige Tage später unterzeichneten in Köln außerdem 44 Professoren einen Appell, mit dem die Gewerkschaften zum Protest gegen die Atomrüstung aufgerufen wurden. Zum Auftakt der Kampagne versammelten sich einen Monat später 1.000 Gegner der Nuklearbewaffnung in der Frankfurter Paulskirche. Am Ende der Veranstaltung, die von weiteren 10.000 Menschen im Freien verfolgt wurde und auf der auch der DGB-Vorsitzende Willi Richter sprach, gab der SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer das Bekenntnis ab, solange keine Ruhe zu geben, »solange der Atomtod« das deutsche Volk bedrohe. In den Wochen darauf folgten dem Aufruf Hunderttausende und beteiligten sich im gesamten Bundesgebiet an Demonstrationen, Schweigemärschen, Fackelzügen und Protestkundgebungen. An der größten Veranstaltung Mitte April auf dem Hamburger Rathausmarkt nahmen allein 170.000 Menschen teil. Auch die nahezu 2.000 Maikundgebungen wurden von den Forderungen und Parolen der Anti-Atomtod-Kampagne beherrscht. Eine wichtige Rolle spielten auch die Universitäten und Hochschulen. Am 20. Mai führten Studenten, die im Vorfeld eigene Ausschüsse gebildet hatten, in zahlreichen Städten Schweigemärsche und Kundgebungen durch. An den Protestansprachen beteiligten sich auch einzelne Professoren und Assistenten.

Als die SPD versuchte, in den von ihr regierten Bundesländern Hessen, Hamburg und Bremen einzelne Volksbefragungen zur Atombewaffnung durchzuführen, rief die Bundesregierung dagegen das Bundesverfassungsgericht an.

Bundeskanzler Konrad Adenauer vertrat die Überzeugung, daß Verteidigungsangelegenheiten der alleinigen Gesetzgebungskompetenz des Bundes unterliegen und insofern nicht Gegenstand einer Volksbefragung auf Landesebene sein könnten. Dieser Argumentation folgte das Bundesverfassungsgericht und erklärte Ende Juli die bisher beschlossenen Volksbefragungsgesetze für verfassungswidrig. (...)  Die SPD ließ keinen Zweifel daran, daß sie das Urteil des höchsten deutschen Gerichts respektierte und von den geplanten Volksbefragungen Abstand nahm. Obwohl sie gleichzeitig betonte, auch weiterhin an den Zielen der Kampagne »Kampf dem Atomtod« festhalten zu wollen, trat in der Folge des Karlsruher Urteilsspruches eine starke Demobilisierung ein. Auch wenn es vereinzelt noch zu Kundgebungen und Protesten kam, war den meisten Aktivisten klar, daß die Anti-Atomtod-Bewegung gescheitert war.

Ein Zerfallsprodukt der Kampagne »Kampf dem Atomtod« war die nach britischem Vorbild ins Leben gerufene Ostermarsch-Bewegung. Sie war das wohl wichtigste kontinuitätsstiftende Element in Jahren einer tendenziellen Demobilisierung des Protests und stellt in gewisser Weise die Verbindungsklammer zwischen 1958 und 1968 her. Je mehr die Anzahl der Teilnehmer im Laufe der Jahre wuchs - von 1.000 im Jahr 1960 auf 50.000 im Jahr 1963 und 150.000 im Jahr 1967 -, desto stärker festigte sich auch ihr organisatorischer Kern. Im Januar 1961 wurde der Zentrale Ausschuß (ZA) gegründet und die Bezeichnung auf »Ostermarsch der Atomwaffengegner« festgelegt.

Die Ostermarsch-Bewegung öffnete sich im Laufe der Zeit mehr und mehr auch anderen Konfliktthemen wie der Notstandsgesetzgebung und dem Vietnam-Krieg. Obwohl die Ostermarschbewegung in mancher Hinsicht die APO vorbereitet hat, wurde sie von ihr Ende der sechziger Jahre überrollt und schließlich - von den Radikalen als historisch überholt angesehen - eingestellt. Nachdem 1969 nicht mehr zu Ostermärschen, sondern zu »Osteraktionen« aufgerufen wurde, löste sich ihr Organisationskern schrittweise auf. Ein Jahrzehnt lang gab es dann keine Ostermärsche mehr. Sie wurden erst wieder zum Leben erweckt, als mit dem Nachrüstungsbeschluß der NATO eine erneute Massenmobilisierung einsetzte, die zwischen 1981 und 1983 aus der Friedensbewegung eine regelrechte Volksbewegung machte. Dies jedoch ist eine andere Geschichte.

 

Gekürzter Text von Wolfgang Kraushaar

 

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