Parteienkrise und Staatskrise

An den sächsischen Kommunalwahlen im Juni 2008 beteiligten sich nur knapp 46 Prozent der Wahlberechtigten. Bei den Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein vom 25. Mai 2008 lag die Wahlbeteiligung ebenfalls unter 50 Prozent. Geringer werdende Wahlbeteiligung ist ein langfristiger Trend unserer Demokratie. Organisiert und genutzt werden Wahlen jedoch von Parteien. Parteien sind der Kitt und die Verbindungsschicht zwischen Staat und Gesellschaft. Der gesellschaftliche Einfluss der Parteien bröckelt nach allen Seiten weg. Die Parteien sind in der Krise und die Parteienkrise ist der Vorläufer einer Staatskrise.

 1. Parteienkrise

1.1. Rückgang der passiven Unterstützung der Parteien

Eine sinkende Wahlbeteiligung hat noch keinen direkten Einfluss auf die Besetzung von Verwaltungs- und Regierungsposten in Kommunen, Ländern und im Bund. Die Zahl der zu vergebenden Sitze steht vor der Wahl fest, und die Sitze werden auf die Parteienvertreter verteilt in Relation der auf sie entfallenden Stimmen. Dass diese Wahlstimmen in absoluten Zahlen ständig sinken, hat darauf keinen Einfluss. Aber sinkende Wahlbeteiligung heißt sinkendes Vertrauen in die Parteien und damit sinkendes Vertrauen in den Staat. Mit der Wahlbeteiligung fällt die Zustimmung zur politischen Elite, zur politischen Klasse. Und umgekehrt: Mit sinkender Zustimmung zur politischen Elite sinkt die Wahlbeteiligung.

Siehe dazu die Grafik Wahlbeteiligung:

 

 

Das nachlassende Interesse an den Parteien und den Wahlen, die sie veranstalten, wäre noch gravierender, wenn unsere Alten, nicht an dem Wahlritual festhalten würden.

Bei den über 60jährigen ging die Wahlbeteiligung an Bundestagswahlen zwischen 1953 und 2002 um zwei bis drei Prozent zurück. Bei den Jüngeren aber um 6 bis 10 Prozent. Der Parteienstaat ist zur Seniorenbeschäftigung geworden.

Siehe dazu die Grafik Wahlbeteiligung nach Altersgruppen.

 

 

1.2. Rückgang der aktiven Unterstützung der Parteien

Es schwindet nicht nur die passive Unterstützung der Parteien in Wahlen, sondern auch die aktive Unterstützung durch Mitgliedschaft. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg hatte die Sozialdemokratische Partei Deutschlands mehr als eine Million Mitglieder. Von da an ging es bergab bis zum Tiefpunkt 1933. Nach 1945 stieg die Mitgliederzahl bis Mitte der 70er Jahre wieder auf eine Million Mitglieder. Seither rutschen die Mitgliederzahlen. Es fehlt nur wenig und die Mitgliederzahl hat sich halbiert.

Dieser Mitgliederrückgang ist keine Besonderheit der SPD. Die CDU ist in keiner anderen Situation.

Siehe die Grafik Mitgliederentwicklung:

 

 

Auch unter Überalterung haben beide Großparteien gleichermaßen zu leiden: In der SPD sind 43 Prozent der Mitglieder über 60 Jahre alt. In der CDU liegt das Durchschnittsalter der Parteimitglieder bei 56 Jahren. Parteizugehörigkeit ist eine Sache der Alten geworden.

 

1.3. Die großen Parteien verlieren an die kleinen

Bei der Bundestagswahl 2005 verlor die SPD an die CDU 600.000 Wählerstimmen. SPD und CDU zusammen verloren jedoch 1 Million Wähler, die nicht mehr zur Wahl gingen. Gleichzeitig verloren SPD und CDU 3 Millionen Wähler an die kleinen Parteien. Seit 1960 haben die sogenannten "Wechselwähler" um 400 Prozent zugenommen, und sie wechseln zunehmend von den großen Parteien zu den kleinen.

Siehe dazu die Grafik Wählerverluste.

 

Der Einfluss der großen "Volksparteien" bröckelt nach allen Seiten weg.

 Scheinbar kämpften CDU und SPD bei der Bundestagswahl 2005 gegeneinander. Aber dieser politische Richtungsstreit zwischen SPD und CDU hatte nur ein Gewicht von 600.000 Wahlstimmen.

Fast das doppelte Gewicht hatte der politische Richtungsstreit zwischen SPD und CDU auf der einen Seite und den (potentiellen) Nichtwählern auf der anderen Seite. Da ging es um 1 Million Wählerstimmen.

Und das sechsfache Gewicht hatte die Konkurrenz zwischen den beiden Volksparteien und den kleinen Parteien. Dabei ging es um 3 Millionen Wählerstimmen.

So manche Politikerin und Politiker in den kleinen Parteien machen sich die Illusion, dass sie eine große Partei "beerben" könnten.

So träumte FDP-Möllemann einmal von 18 Prozent für seine Partei. Die Grünen mussten erleben, dass sie nach schnellen Anfangserfolgen nicht weiter wuchsen. Den "Linken" wird es nicht anders ergehen.

Das Parteiensystem in der Bundesrepublik verliert seine Macht nach dem Muster einer Gaußschen Glockenkurve: Solange der Einfluss der Großparteien stark war, banden sie viele Wähler und viele Mitglieder. Die Machtkurve war schmal und hoch und erreichte ihren Zenith Mitte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Seitdem verlieren die Großparteien nach allen Seiten hin Wähler und Mitglieder, seitdem sinkt die Kurve in sich zusammen und wird immer breiter.

Politisch wirkt sich das so aus, dass der Parteieneinfluss insgesamt schwächer wird und die Parteien sich gegenseitig zunehmend hemmen und paralysieren. Die Parteienkrise wird zur Regierungs(bildungs)krise.

Der Machtverlust der Parteien hat seine Ursachen nicht in veränderten Kräfteverhältnissen von Links und Rechts, sondern in einer wachsenden Diskrepanz zwischen dem Staatsapparat (oben) und dem Staatsvolk (unten). Deshalb trifft der Schwund der Parteienmacht linke wie rechte Parteien. Das große Vorbild der europäischen Linken, die Kommunistische Partei Italiens, schaffte bei der diesjährigen Parlamentswahl nicht einmal die 4-Prozent-Hürde.

Siehe Grafik Wahlergebnisse der KPI .

 

 

Der historische Gegner der KPI, die Democrazia Christiana, ist ebenfalls zerfallen und hat sich aufgelöst.

Es handelt sich um eine Krise der politischen Repräsentation durch Parteien, nicht um eine Krise von rechten oder linken Strömungen.

2. Parteienkrise heißt Staatskrise

Parteien spielen eine zentrale Rolle in unserer Staatsorganisation. Außer der Beteiligung an Wahlen lässt unsere Verfassung faktisch keine Bürgerbeteiligung an der Staatstätigkeit zu.

Parteien wählen vor jeder Wahl die Kandidaten für Parlaments- und Staatsämter aus. Nach der Wahl bleiben die gewählten Parlamentarierinnen Abgeordnete ihrer Parteien, nicht der Wähler. Parlamentsabgeordnete sind "Parteibeauftragte", keine "Volksbeauftragte".

Parteien führen den politischen Meinungsstreit und verwandeln politische Meinungen in politische Initiativen (Gesetzesvorlagen, Verwaltungsvorschriften etc.), die (eventuell) in staatliches Handeln münden.

Tatsächlich sind in unserer Demokratie nur die Parteien politisch mündig. Die einzelnen Bürger, das Staatsvolk, sind in der repräsentativen Demokratie unmündige Untertanen, die in den Parteien Fürsprecher brauchen, um sich auf Staatsebene Gehör und Einfluss zu verschaffen. Die Parteien werden aber zunehmend als politische Mittler ignoriert und abgelehnt. Diese politische Repräsentationskrise nährt sich aus mehreren Quellen.

 2.1. Schrumpfender Bildungsvorsprung der Eliten

Einerseits stieg der Bildungs- und Informationsstand der Bürger. Ein wirklicher Bildungsabstand zwischen "denen da oben" und "uns unten" ist nicht festzustellen. Sobald ein abgebrochener Student den Außenminister geben kann und eine Apothekenhelferin die Verwaltung einer Weltstadt hinkriegt, da ist nur schwer noch zu vermitteln, dass unsere Staatselite etwas besseres sei als wir und deshalb lebenslange Privilegien verdient hätte.

Wo noch ein Informationsabstand zwischen denen da oben und uns unten besteht, wird der künstlich durch staatliche Monopolisierung von Information (Beratungen hinter verschlossenen Türen, Geheimdienste, Überwachung, staatliche Datenpools, etc.) und durch Geheimhaltung aller relevanten Informationen aufrecht erhalten.

 2.2. Schrumpfender Gestaltungsspielraum der Eliten

Hinzu kommt, dass der politische Spielraum der Partei- und Staatspolitiker ständig schrumpft. Ihr Handlungsspielraum schrumpft nicht nur durch die Erosion der Nationalwirtschaften in der kapitalistischen Weltwirtschaft, er schrumpft nicht nur durch den neuen "Überstaat" EU, der Handlungsspielraum der politischen Klasse schrumpfte vor allem durch ihr eigenes Handeln. Er schrumpfte als Folge der zunehmenden Verrechtlichung, als Resultat der Tausenden von Gesetzen und Verordnungen, die sie über das Staatsvolk herunterregnen lassen.

In Geld geschätzt kann eine Bundesregierung jedes Jahr rund 2 Prozent des Bundeshaushaltes mehr oder minder frei verwalten. Über 98 Prozent der jährlichen Staatseinnahmen ist längst durch bestehende Gesetze und Verordnungen verfügt. Der Gestaltungsspielraum der Regierung bewegt sich also bei zwei Prozent vom Ganzen.

 Alles in allem: Unsere Politikerinnen und Politiker geben eine immer schwächere und immer schlechtere Figur ab. Das weiß jeder außer sie selbst.

 2.3. Wachsende Distanz zwischen Staat und Gesellschaft

Eigentlich sollten Parteien Mittelglieder zwischen Staat und Gesellschaft sein. Tatsächlich sind sie längst mit dem Staat verwachsen: Parteipolitiker wurden zu Staatspolitiker, Parteifinanzen wurden zu Staatsfinanzen, Parteiinteressen wurden zu Staatsinteressen. Die Gesellschaftsmitglieder sehen zu Recht in den Parteien nicht mehr ihre Repräsentanten, sondern Repräsentanten des Staates.

 Die traditionelle Verbindung der Parteien zu gesellschaftlichen Milieus und zu sozialpolitischen Fragestellungen ist verschwunden. Das gilt für große und kleine Parteien gleichermaßen. Die Parteien haben keine gesellschaftliche Verankerung und Basis mehr. Die Parteiführer verlassen sich auf anonyme Meinungsumfragen, nicht auf Menschen und Milieus in ihrer Nähe.

 Die Bürger, das Staatsvolk, wurden gebildeter und informierter, haben aber in der Parteiendemokratie keinen politischen Einfluss und keine Stimme - mit Ausnahme derjenigen, die gewohnt sind mit Minister oder Staatssekretären am Telefon zu sprechen. Wo Bürger ohne großes Eigentum sich Stimme und Einfluss bei der Staatselite verschaffen, können sie das nur im Bruch mit den politischen Gewohnheiten und im Bruch mit den etablierten Parteien: durch Demonstrationen, Blockaden, Streiks usw.

 3. Was auf uns zukommt

Da die Parteienherrschaft im Zentrum unserer Verfassungsordnung steht, wird die Parteienkrise auch zur Verfassungs- und Staatskrise. Je länger sie dauert, um so tiefer.

Die Parteiendemokratie war gedacht als Mittelding und Puffer zwischen einer autoritären Herrschaft und der direkten Demokratie. Der Puffer hat sich verbraucht. Wir werden in Zukunft mehr autoritäre Herrschaftsformen erleben, die sich ohne die Parteien und über die Parteien hinweg direkt "ans Volk" wenden. Putin lässt grüßen. Berlusconi spielt dieses Spiel. Ein Sarkosi bildete sich ein, er könne in diese Rolle schlüpfen. Auch Barak Obama, der voraussichtlich nächste US-Präsident, ist so eine "volkstümliche Führerfigur". Bei uns suchen einige schon nach einer Obama-Kopie. Wer "deutscher Obama" bei Google eingibt, kann sich an der Suche beteiligen.

 Wal Buchenberg, 11.06.2008

 

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