Max Weber und die antike Stadt 1. Das Dreierschema
Königsherrschaft - Adelsherrschaft -
Volksherrschaft In dem 1922 posthum erschienen Buch von Max Weber:
Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. (Zwei
Teile in einem Band. Zweitausendeins, Frankfurt 2005) ordnete Weber eine
Fülle von Beobachtungen über die Entwicklung von mittelalterlichen wie von
antiken Städten in das Dreierschema: Königsherrschaft - Adelsherrschaft -
Volksherrschaft. Weber sprach von "der Polis unter dem
Königtum" (Weber, Wirtschaft
und Gesellschaft: 977), von der "entwickelten Adelsherrschaft" (Weber,
Wirtschaft und Gesellschaft: 980) und der Stufe der Demokratie (Weber,
Wirtschaft und Gesellschaft: 984) Dies angebliche Dreierschema der antiken
Stadtentwicklung findet sich gleichlautend in den Geschichtsbüchern an
deutschen Schulen. So heißt es im "dtv-Atlas Weltgeschichte" unter dem
Stichwort "griechische Stadt (Polis)": "Im Anfang wird die
Regierungsform der Unterworfenen übernommen, das Königtum. ... In
Lakonien, Argos, Arkadien, Elis und Makedonien besteht das Königtum unter
Einschränkung seiner Gewalt weiter. In anderen Landschaften wird das
Königtum durch den Adel entmachtet... Am Schluss der Entwicklung steht die
Demokratie ('Herrschaft des Volkes')..." (dtv-Atlas Weltgeschichte,
München, 38. Aufl. 2005: 49) Die angebliche Übergangszeit von der Stufe der
Adelsherrschaft zur Demokratie nennt Weber: "... eine Zeit, in welcher
der alte gentilcharismatische Adel seine rechtliche Sonderstellung in der
Stadt ganz oder teilweise schon eingebüßt und mit dem Demos der
griechischen, der Plebs der römischen, dem Popolo der italienischen, den
Liveries der englischen, den Zünften der deutschen Entwicklung die Macht
teilen und sich ihm folglich ständisch hatte gleichordnen müssen. Diesen
Vorgang (im Singular!) haben wir jetzt zu betrachten." (Weber,
Wirtschaft und Gesellschaft: 984) Die Stadtentwicklung der Antike wie des
Mittelalters betrachtete Max Weber als einen einzigen, identischen
Vorgang. Zum Modell dieser angeblich einheit-lichen und parallelen
Entwicklung diente ihm die Geschichte Venedigs: "Das klassische Beispiel dafür ist Venedig.
Die Entwicklung Venedigs war zunächst bestimmt durch die Fortsetzung jener
mit steigendem leiturgischen Charakter (Leiturgie = Zwangsdienst für den Staat, wb)
der spätrömischen und byzantinischen Staatswirtschaft steigenden
Lokalisierung auch der Heeresrekrutierung, welche seit der Zeit Hadrians
im Gange war. Unter dem Dux standen als Kommandanten des Numerus die
Tribunen. Auch ihre Gestellung war formell eine leiturgische Last,
faktisch aber zugleich ein Recht der örtlichen Possessorengeschlechter,
denen sie entnommen wurden, und wie überall wurde diese Würde faktisch in
bestimmten Geschlechtern erblich, während der Dux bis in das 8.
Jahrhundert von Byzanz aus ernannt wurde. ... Die erste Revolution, welche
in Venedig zum Beginn der Stadtbildung führte, richtete sich wie in ganz
Italien im Jahre 726 gegen die damalige bilderstürmerische Regierung
(in Byzanz, wb) und ihre Beamten und trug als dauernde Errungenschaft
die Wahl des Dux durch tribuzinischen Adel und Klerus ein." (Weber,
Wirtschaft und Gesellschaft: 962). Nachdem die Macht des Dux oder der
Königsherrschaft vom Adel beseitigt war, wurde die Adelsmacht zunehmend
von der Macht des Populo, des Stadtvolkes von Venedig, abgelöst. Weber
fährt fort: "Es fällt nun die Ähnlichkeit dieser
'demokratischen' Entwicklung mit dem Schicksal der antiken Städte
ins Auge, deren meiste eine ähnliche Epoche des Emporwachsens der
Adelsstädte, beginnend etwa mit dem 7. Jahrhundert v. Chr., und des
raschen Aufstiegs zur politischen und militärischen Macht, verbunden mit
der Entwicklung der Demokratie oder doch der Tendenz dazu, durchlebt
haben." (Weber, Wirtschaft und
Gesellschaft: 973). Wer die vorhandenen Ähnlichkeiten als Gleichheit
und Identität nimmt, macht es sich unmöglich, Gründungslogik und
Entwicklungsrichtung der griechischen Stadt zu
verstehen. 1.1. Angebliche
Königsherrschaft Um eine Phase der Königsherrschaft in der antiken
Polis behaupten zu können, nimmt Weber Zuflucht zur mykenischen Kultur und
beginnt seine Ausführungen: "Wir haben zunächst die antike
Geschlechterstadt mit der mittelalterlichen zu vergleichen. Die
mykenische Kultur im griechischen Mutter-land ..." (Weber, Wirtschaft
und Gesellschaft: 972f). Auch der dtv-Atlas behauptet, dass die
einwandernden Griechen die Königsherrschaft von den "Unterworfenen
übernommen" übernommen hätten. Nun sind die Historiker sich ziemlich
einig, dass zwischen Gesellschaft des mykenischen Königtums und den frühen
Griechen aus homerischer Zeit ein Kulturbruch liegt. In der "Geschichte
des antiken Griechenland" von O. Murray, J.K. Davies und F.W. Walbank
(Düsseldorf, 2006) heißt es: "Die Folge des Zusammenbruchs der
mykenischen Kultur war das sog. 'Dunkle Zeitalter' (dark age), das etwa
300 Jahre dauerte. Die Diskontinuität zur Vergangenheit war dabei fast
vollkommen; die Griechen wussten später von kaum einem der wichtigeren
Aspekte jener Welt ...: So kannten sie weder die gesellschaftliche
Gliederung noch die materielle Kultur noch das Schriftsystem der
mykenischen Welt. ... Die griechische Welt seit dem achten vorchristlichen
Jahrhundert ist also nicht das Produkt der mykenischen Zeit ..."
(Murray, Geschichte: 17). Die griechische Gesellschaft von seefahrenden
Bauernkriegern, von der Homer berichtet, war eine völlig andere als die
asiatisch beeinflusste zentrale Verwaltungsökonomie Mykenes. An anderer
Stelle gibt das auch M. Weber zu, wenn er schreibt: Das
Griechentum, wie wir es kennen, beginnt erst, "... nachdem auch die
großen orientalischen Reiche, ... sowohl die ägyptische wie die
hethitische Macht, zerfallen ..., der Monopolhandel und der Fronstaat der
orientalischen Könige also, dem die mykenische Kultur im kleinen
entsprach, zusammengebrochen war. Dieser Zusammenbruch der ökonomischen
Grundlage der Königsmacht hat vermutlich auch die sog. dorische Wanderung
ermöglicht." (Weber, Wirtschaft und
Gesellschaft: 975). Die mykenische Königsmacht kann - anders als M.
Weber annimmt - im antiken Griechenland kein Faktor der Polisbildung
gewesen sein. Der griechische Basileus ("König"), wie wir ihn
aus Homer kennen, war kein Herrscher über Untertanen. Die Griechen der
frühen Wanderzeit kannten ebenso wenig wie die Germanen eine
Königsherrschaft im mittelalterlichen Sinn, was auch Max Weber weiß:
"Der König ist Heerführer und am Gericht gemeinsam mit den Adligen
beteiligt, ... hat aber namentlich in der Odyssee, eine wesentlich nur
häuptlingsartige, auf persönlichem Einfluss, nicht auf geregelter
Autorität beruhende Gewalt." (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft:
973). Vor Troja agierten viele griechische "Könige"
(Basileus) gleichzeitig und nebeneinander in einem einzigen Heereszug.
Agamemnon berichtete seinem Gastgeber: "Zwölf angesehene Basilees
handeln in unserem Volk als Führer, der dreizehnte aber bin ich."
(Odyssee, 8, 390f). Einer dieser zwölf Basileus ("Könige") war auch
Odysseus, ökonomisch ein reicher Bauer oder Gutsherr ohne Untertanen
außerhalb seines Gutshofes. "Auch der König aber tut Hausarbeiten,
zimmert sein Bett, gräbt den Garten. Seine Kriegsgefährten sitzen selbst
am Ruder. (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft:
974). Odysseus war noch kein Stadtbewohner. Die
Gefährten, die ihn auf seinen Kriegs- und Raubzügen begleiteten, waren
freiwilligen Gefolgsleute, die an der Beute beteiligt
waren. In der Zeit, in der das homerische Epos
anzusiedeln ist, konnte jeder wohlhabende patriarchale Gutsherr als
Heerführer ein "basileus", ein König, sein - kein Vergleich mit einem
mittelalterlichen Königtum. Auch Weber stellte fest: "Die Beziehungen sind
patriarchal, Eigenwirtschaft deckt allen normalen Bedarf." (Weber,
Wirtschaft und Gesellschaft: 974) Wenn jeder patriarchale Gutshof für
seinen Eigenbedarf wirtschaftete und seinen eigenen Wehrverband
aufstellte, dann gab es weder ein politisches Bedürfnis für einen
königlichen Territorialherrscher, noch gab es ein frei verfügbares
wirtschaftliches Mehrprodukt, von dem ein Territorialkönig hätte leben
können. Die Teilnehmer am Zug gegen Troja kennen keine andere "Steuer" als
ihr freiwilliger Heeresdienst. Ohne Steuer existiert keine Königsmacht.
Max Weber findet nur angebliche "Reste" des
Königtums, aus dem er eine angeblich ursprüngliche Königsherrschaft
konstruiert: "Die historische Zeit kennt, bis zur Entwicklung der
Tyrannis, außerhalb Spartas und weniger anderer Beispiele (Kyrene) das
gentilcharismatische Königtum nur in Resten (?? wb) ... und zwar
stets als Königtum über eine einzelne Polis, auch damals
gentilcharismatisch, mit sakralen Befugnissen, aber im übrigen, mit
Ausnahme von Sparta und der römischen Überlieferung, nur mit
Ehrenvorrechten gegenüber dem zuweilen ebenfalls als 'Könige' bezeichneten
Adel ausgestattet." (Weber,
Wirtschaft und Gesellschaft: 974). Weber berichtet korrekt die Fakten,
will aber nicht den naheliegenden Schluss ziehen, dass ein König mit
Machtmonopol nicht am Anfang der antiken Stadtentwicklung gestanden
hat. Da die Auffassungen der antiken Schriftsteller
nicht in sein Dreierschema passen, werden sie von M. Weber einfach für
irrelevant erklärt: "Die entscheidenden Züge der spartanischen
Polis (die bei den antiken Autoren übereinstimmend als besonders alt
und urwüchsig galten, wb) machen viel zu sehr den Eindruck einer
rationalen Schöpfung, um als Reste uralter Institutionen zu gelten."
(Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: 992). Nur im Widerspruch zu antiken Quellen und im
offenem Gegensatz zu den Sachzwängen, denen wandernde Volksheere von
Bauernkriegern in alter Zeit unterworfen waren, kann man die
Königsherrschaft als "uralte Institution" annehmen. 1.2. Angebliche
Adelsherrschaft Max Weber spricht von einem "Adel" in der Antike,
wie er vom Adel im Mittelalter spricht, ohne einen Unterschied anzugeben:
"... in der Antike ..., wo die Stadt ja ursprünglich als Sitz des Adels
entstand." (Weber, Wirtschaft u. Gesellschaft: 944). Nur gelegentlich
apostrophiert er außer seinem "ursprünglichen Königtum" auch diesen "Adel"
als "gentilcharismatisch". (Weber, Wirtschaft und
Gesellschaft: 984) Wie es jedoch keinen Sinn macht, einem Agamemnon
als homerischen "König" (Basileus) eine mittelalterliche Königsgewalt
zuzuschreiben, ebenso wenig Sinn macht es, in der Antike von einem Adel zu
sprechen, der gegenüber einer "nichtadeligen" Bürgerschaft von Geburt an
ökonomisch und juristisch privilegiert gewesen wäre. Weber identifiziert seinen "antiken Adel"
teilweise mit den traditionellen Stammesältesten, den patriarchalen
Honoratioren: "Die entwickelte Adelsherrschaft setzte überall an Stelle
des homerischen Rates der nicht mehr wehrhaften Alten den Rat der
Honoratiorengeschlechter." (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft:
980). Dieser angebliche Adel war m.E. mit den
Stammeshäuptern und ihren Tischgenossen identisch. Im Ursprung
repräsentierte dieser patriarchale Rat der Polis also keineswegs die
Herrschaft einer abgetrennten sozialen Schicht über den nichtadeligen
Rest, als vielmehr die Repräsentation jedes einzelnen Stammes (Phyle) oder
Wehrverbandes (Phratrie) an der Leitung der Polis. Die antiken
Honoratioren der Polis waren "Abgesandte" ihrer Phratrie und ihres
Heeresverbands in der gemeinsamen Verwaltung der Stadt, nicht gemeinsam
Herrschende über die Polis. Sie handelten in der Polis nicht wie der
italische Stadtadel aus eigener Machtvollkommenheit, sondern gleichsam als
Delegierte ihres Stammes, bzw. Geschlechtes und ihres
Wehrverbandes. Kultisch abgesichert war diese "Genossenschaft"
der Stämme bzw. Geschlechter durch das gemeinsame Mahl der
Stammesvorsteher: "Das Wesentliche aber an der Verbrüderung der
Geschlechter war nach der Anschauung die Verbrüderung der Geschlechter zu
einer kultischen Gemeinschaft: der Ersatz der Prytaneen
(Mahlgemeinschaften, wb) der einzelnen Geschlechter durch das
gemeinsame Prytaneion der Stadt, in welchem die Prytanen ihre gemeinsamen
Mahle abhielten." (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: 975).
Adel mit einem ökonomischen und militärischen
Monopol (Bodenbesitz und Waffenrecht), der über Nichtadelige herrscht, war
in der Frühzeit allein das Resultat einer Erobererschicht. Allenfalls
könnten deshalb die Spartaner insgesamt "Adel" genannt werden, denen die
unterworfenen Einheimischen (Heloten) als Ausgebeutete minderen Rechts
gegenüberstanden: "Die spartanische Hoplitenschaft hat das gesamte den
Kriegern gehörige Land und die darauf sitzenden Unfreien als gemeinsamen
Besitz behandelt und jedem wehrhaft gemachten Krieger den Anspruch auf
eine Landrente gegeben. In keiner anderen Polis ist man so weit gegangen."
(Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: 1021). Weil jedoch die Spartaner
im hellenischen Raum eine Sonderstellung einnehmen, muss M. Weber entweder
von seiner "griechischen Adelsherrschaft" Abschied nehmen oder den
Spartanern das Adelsprädikat vorenthalten. Er entscheidet sich für
letzteres: "Ein Adel war in Sparta in historischer Zeit unbekannt".
(Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: 991) Wo immer Max Weber ins historische Detail geht,
zerrinnt ihm die "Adelsherrschaft" über die Polis zwischen den Zeilen:
"Freilich lag der antiken Polis offiziell zunächst die Gliederung in
Sippen und ihnen übergeordneten rein personalen und oft (mindestens der
Fiktion nach) auf Abstammungsgemeinschaft ruhenden, je einen nach außen
wiederum streng exklusiven Kultverband bildenden Gemeinschaften zugrunde.
Die antiken Städte waren in der, praktisch keineswegs bedeutungslosen,
Anschauung ihrer Zugehörigen zunächst gewillkürte Vergesellschaftungen und
Konföderationen von Personenverbänden teils primär sippenhaften, teils,
wie wahrscheinlich die Phratrien (Gefolgschaften, wb) primär
militärischen Charakters, die dann in den späteren Einteilungen der Städte
nach verwaltungstechnischen Gesichtspunkten schematisiert wurden." (Weber,
Wirtschaft und Gesellschaft: 945) "Von den Phratrien (Gefolgschaften, wb) ist sicher anzunehmen,
dass sie in die Vorzeit der Polis zurückreichen. Sie waren später
wesentlich Kultverbände, hatten aber daneben z.B. in Athen, die Kontrolle
der Wehrhaftigkeit der Kinder und ihrer daraus folgenden Erbfähigkeit. Sie
müssen also ursprünglich Wehrverbände gewesen sein ... Ursprünglich mögen
die Phylen oft aus einem Kompromiss einer schon ansässigen mit einer
erobernd eindringenden neuen Kriegerschicht entstanden sein. ... In jedem
Fall waren in historischer Zeit die Phylen nicht lokale, sondern reine
Personalverbände, meist mit gentilcharismatisch erblichen, später mit
gewählten, Vorständen: 'Phylenkönigen' an der Spitze." (Weber,
Wirtschaft und Gesellschaft: 976f.). Diese von den Quellen gestützten Aussagen stehen
im klaren Widerspruch zu der von M. W. behaupteten 'ursprünglichen Adelsherrschaft'.
Stammesführer waren patriarchalische "Familienoberhäupter", die nur
innerhalb ihrer Familie bzw. ihres Heeresgefolges Befehlsgewalt hatten.
Das ist die griechische Gesellschaft Homers. Adelsherrschaft im
mittelalterlichen Sinn ist demgegenüber kein durch Verwandtschaft und
freiwillige Gefolgschaft gewachsener Personenverband, sondern eine
Territorialherrschaft über wirtschaftlich Abhängige. Nach antiker
Quellenlage und entsprechend der Sachzwängen von ursprünglich nomadisch
lebenden und allmählich sesshaft werdenden Völkerschaften kann
territoriale Adels- oder Königsherrschaft in Griechenland nicht
ursprünglich sein. 2. Kriegerischer Zweck des
antiken Stadtverbandes Die Gründung von Städten als Zusammenschluss
mehrer Dörfer markierte in früher Zeit den Abschluss der Wanderzeit von
nomadischen Bauernkriegern und den Beginn der Dauersesshaftigkeit in einer
landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft. Die antiken Städtegründer waren
keine Händler oder Handwerker wie im Mittelalter, sondern es waren
Landleute und Bauern. Die antike Stadt brachte anders als im Mittelalter
keinen wirtschaftlichen Neubeginn, keinen ökonomischen Bruch, sondern war
die notwendige Fortsetzung der bisherigen landwirtschaftlichen Produktion
hauptsächlich für den Eigenbedarf. Die große Masse der antiken Stadtbürger
lebte weiterhin außerhalb der Stadt auf ihrem Landgut. Wer in der Stadt
lebte, konnte sich sowohl einen zweiten Wohnsitz leisten, wie auch das
Fernbleiben von seiner Landwirtschaft, die ihm das Einkommen sicherte. Der
Bedarf an Luxusgütern wurde teils durch Seeräuberei, teils durch reisende
Handwerker gedeckt. "Wenn wir heute den typischen 'Städter' im ganzen
mit Recht als einen Menschen ansehen, der seinen eigenen
Nahrungsmittelbedarf nicht auf eigenem Ackerboden deckt, so gilt
für die Masse der typischen Städte (Poleis) des Altertums ursprünglich
geradezu das Gegenteil. Wir werden sehen, dass der antike Stadtbürger
vollen Rechts, im Gegensatz zum mittelalterlichen, ursprünglich geradezu
dadurch charakterisiert war, dass er einen Kleros, fundus ..., ein volles
Ackerlos, welches ihn ernährte, sein eigen nannte: der antike Vollbürger
ist 'Ackerbürger'". (Weber,
Wirtschaft u. Gesellschaft: 928.) Die Stadt war zunächst und vor allem eine
Kriegswaffe für die Defensive. Solange die halbnomadischen griechischen
Bauern mit ihrem ganzen Volk, Frauen und Kindern in der Wanderzeit
bewaffnet umhergezogen waren, leistete das bewaffnete Volk den Schutz der
Menschen und des Viehs und der Ernte. Sobald günstiges Acker- und
Weideland gefunden, erobert und besetzt worden war, musste es gegenüber
der Vorbevölkerung und gegenüber nachrückenden Eindringlingen verteidigt
und behauptet werden. Diesen Schutz leistete nun die
Stadt. Max Weber stellte ganz richtig fest: "... Die
Stadt im Sinn der Vergangenheit, der Antike wie des Mittelalters,
innerhalb und außerhalb Europas, (war) eine besondere Art von
Festung und Garnisonsort..." (Weber, Wirtschaft u.
Gesellschaft: 930) "Der
militärische Burgenbau ist sehr alt, zweifellos älter als der Kriegswagen
und auch als die militärische Benutzung des Pferdes." (Weber,
Wirtschaft u. Gesellschaft: 931). Kriegerische Gewalt war nötig um Sesshaftigkeit
gegenüber der Vorbevölkerung durchzusetzen. Krieg war nötig, um ihren
sesshaften Besitz gegenüber Nachkommenden zu verteidigen. Für diesen Zweck
ist die gemeinsam genutzte Burganlage ebenso eine Kriegswaffe wie das
gemeinsame Auftreten in Waffen. "Wenn man noch immer streitet, wie
lange Athen mauerlos gewesen sei, so enthielt es doch in der Akropolis,
wie außer Sparta wohl alle Hellenenstädte, eine Felsenburg ...
Normalerweise gehört jedenfalls zur orientalischen wie zur
antik-mitteländischen Stadt und ebenso zum normalen mittelalterlichen
Stadtbegriff die Burg oder Mauer." (Weber, Wirtschaft u. Gesellschaft:
931). Die Gründung der Polis war militärisch nötig zur
Absicherung oder auch Erweiterung dieses gewaltsamen Landerwerbs:
"Spezifisch im Gegensatz zum Mittelalter war also in der Gliederung der
Geschlechterstadt zunächst rein äußerlich die stereotypierte Zahl der
Phylen, Phratrien, Geschlechter. Dass sie primär militärische und sakrale
Abteilungen bildeten, spricht sich darin aus. Diese Einteilungen erklären
sich daraus: dass die antike Stadt primär eine Siedlungsstadt von
Kriegern ist ..." (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft:
979). Die antike Polis trat an die Stelle des
bewaffneten Heereszugs, der teils durch Verwandtschaft, teils durch
freiwillige Gefolgschaft miteinander verbunden war. "Nach innen war die Polis als ein militärischer
Verband absolut souverän. Die Bürgerschaft schaltete in jeder Hinsicht
nach Belieben mit dem Einzelnen. Schlechte Wirtschaft, speziell Vergeudung
des ererbten Kriegerloses ..., Ehebruch, schlechte Erziehung des Sohnes,
schlechte Behandlung der Eltern, Asebie (Gottlosigkeit, wb), Hybris
(Überheblichkeit, wb): - jedes Verhalten überhaupt, welches die
militärische und bürgerliche Zucht und Ordnung gefährdete ... wurde ...
hart gestraft... Der Bürger blieb in erster Linie Soldat. Neben
Quellwasser, Markt, Amtsgebäude und Theater gehört nach Pausanias zu einer
Stadt das Gymnasion. Es fehlte nirgends. Auf Markt und Gymnasion verbringt
der Bürger den Hauptteil seiner Zeit." (Weber, Wirtschaft und
Gesellschaft: 1027). "Die spezifisch antike Stadt, ihre herrschenden
Schichten, ... die Interessen ihrer Demokratie sind alle, ... primär
politisch und militärisch orientiert." (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft:
1021). Im Mittelalter gab es neben und außerhalb der
Städte die militärisch organisierte Gewalt des Adels und der Könige. In
der Antike waren die Städte die einzige und am höchsten entwickelte
militärische Kraft. "Die antiken ... Städte ... waren vielmehr Träger
der höchst entwickelten militärischen Technik. Zunächst in den
Geschlechterstädten der ritterlichen Phalange, dann aber, und vor allem,
des disziplinierten Hoplitenkampfes." (Weber, Wirtschaft und
Gesellschaft: 1019). 2.1. Regionale statt
personale Gliederung der Stadtgesellschaft War das erste Element der antiken Stadt ihr
Festungscharakter, der Menschen, Vieh und Ernten vor Feinden schützte, so
war das zweite Element der antiken Stadt die Vermischung der in der
Wanderzeit getrennt agierenden und lebenden Stämme (Phylen) und
Gefolgschaften (Phratrien). Hinzu trat die einheimische Vorbevölkerung,
die erst recht nicht in die alte personale Ordnung passte. An die Stelle
einer personalen Gliederung der Gesellschaft trat eine regionale
Gliederung. Vergleiche mit anderen Stadtgründungen in alter
Zeit bringt mehr historisches Verständnis in die Entstehung der
griechischen Polis als das mittelalterliche Venedig. So berichtet Weber u.
a. von Jerusalem: "Die Rekonstituierung der Polis Jerusalem durch Esra
und Nehemia lässt die Überlieferung sippschaftsweise, und zwar durch
Zusammensiedlung von Delegationen jeder politisch vollberechtigten
landsässigen Sippe erfolgen. Nur die sippenlose und politisch rechtlose
Plebs wird nach Ortsangehörigkeit gegliedert. ... Jeder hellenische und
römische Synoikismos und jede kolonisatorische Eroberung verlief in der
Frühantike mindestens der Fiktion nach ähnlich wie die Neukonstituierung
von Jerusalem..." (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft:
948). "Die Stadt war ... überall in der Welt in starkem
Maß Zusammensiedlung von bisher Ortsfremden. ... Die
Zusammengesiedelten bleiben oft konnubial getrennte Sonderstämme. Oder, wo
dies nicht der Fall ist, bleiben die Zuzügler Mitglieder ihrer bisherigen
Orts- und Sippenverbände."
(Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: 947). "Auf Sippenverbänden ruhte auch der hellenische
Synoikismos (Zusam-menschluss
mehrer Wehrdörfer zu einer Wehrstadt, wb) (Weber, Wirtschaft und
Gesellschaft: 948). "Dass Städte durch Zusammensiedlung Einheimischer
mit Stammfremden entstehen, wusste auch die römische Legende sehr
gut." (Weber, Wirtschaft und
Gesellschaft: 948). "Das war nun bei den mittelalterlichen
Stadtgründungen namentlich des Nordens durchaus anders. Der Bürger trat
wenigstens bei Neuschöpfungen als Einzelner in die Bürgerschaft ein. Als
Einzelner schwur er den Bürgereid. Die persönliche Zugehörigkeit zum
örtlichen Verband der Stadt, und nicht Sippe oder der Stamm garantierte
ihm seine persönliche Rechtsstellung als Bürger." (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft:
948). Die Gründer der antiken Polis waren also nach
Verwandtschaft (Phyle) und Gefolgschaft (Phratrie) geordnete Bauernkrieger
nach ihrem Sesshaftwerden auf erobertem Land. Weber stellte richtig fest: "Wenn ... in der
Antike an die Stelle oder neben die alten personalen Geschlechterverbände,
Phlyen und Phratrien die Einteilung des Stadtgebietes in Demoi oder
Tribus erfolgte und diese Körperschaften und ihre Repräsentanten
nun allein die politische Gewalt in Händen hatten, so bedeutete das
zweierlei: Zunächst die Zersprengung des Einflusses der Geschlechter. Denn
deren Besitz war, seiner Entstehung durch Beleihung und Schuldverfall
entsprechend, zum sehr großen Teil Streubesitz und kam nun nirgends mehr
mit voller Wucht, sondern nur in den einzelnen Demoi mit seinen einzelnen
Partikeln zur Wirkung. Dort, im einzelnen Demos, war er jetzt zu
registrieren und zu versteuern ... Ferner und vor allem aber bedeutete die
Zerschlagung des ganzen Stadtgebietes in Demoi: die Besetzung aller Rats-
und Beamtenstellen mit Repräsentanten dieser ... Wenigstens der
ursprünglichen Absicht nach sollte das die ausschlaggebende Stellung
nicht stadtsässiger, sondern landsässiger Schichten und ihre
Herrschaft über die Stadt bedeuten. Also nicht ein politisches Aufsteigen
des städtischen erwerbenden Bürgertums, ... sondern gerade
umgekehrt den politischen Aufstieg der Bauern. Im Mittelalter ...
war von Anfang an das Gewerbe, in der Antike aber ... die
Bauernschaft Träger der 'Demokratie'" (Weber, Wirtschaft und
Gesellschaft: 1017). Die antike Stadt in Griechenland war eine Gründung
von Bauernkriegern, nicht von Kaufleuten und Handwerkern. Die
Stadtgründung ersetzte als defensive "Kriegswaffe" das wandernde Volk
unter Waffen. Die Stadt ersetzte zunehmend die alte personale Gliederung
des Volks in Stämmen und Gefolgschaften durch eine regionale Gliederung
(Dörfer und Regionen). Wal Buchenberg, 03.04.2006 |