Alexander King
Haiti - Ein Staat
in der Krise
Seit Monaten demonstrieren
in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince Studenten und
Oppositionelle und fordern den Rücktritt des Präsidenten Jean-Bertrand
Aristide. Am Rande solcher Demonstrationen kam es immer wieder zu
gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Anhängern des
Präsidenten. Dabei gab es wiederholt Tote und Verletzte. Im Herbst 2003
begann in der westhaitianischen Hafenstadt Gonaïves ein Aufstand. Eine
bewaffnete Gruppe mit dem Namen »L’armée cannibale« eroberte schließlich
Anfang Februar die Stadt, in der vor genau 200 Jahren die Unabhängigkeit
Haitis ausgerufen worden war. Von dort aus brachen die Rebellen, verstärkt
durch andere bewaffnete Gruppen und ehemalige Militärs, die aus ihrem Exil
in der Dominikanischen Republik zurückkehrten, auf, um weitere Städte und
Dörfer zu erobern. Sie stoßen vielerorts auf keinen nennenswerten
Widerstand seitens der Staatsgewalt. Eine Armee gibt es nicht, nur 5 000
schlecht ausgerüstete Polizisten. Die Rebellen brachten auf diese Weise
rund 20 Ortschaften unter ihre Kontrolle und beherrschen nun einen
Streifen von der Westküste bis zur dominikanischen Grenze im Osten. Damit
sind alle Versorgungswege zwischen der Hauptstadt im Süden und den
nördlichen Zentren wie Cap-Haïtien und Port-de-Paix unterbrochen. Auch
über die Grenze kann der Norden nicht mehr versorgt werden. Der nördliche
Grenzübergang Ouanaminthe ist ebenfalls in der Hand der Rebellen. Im
Norden des Landes bahnt sich deshalb eine Hungersnot an. Im Süden planen
die Rebellen den Marsch auf Port-au-Prince. Die Opposition in der
Hauptstadt hat sich von den bewaffneten Rebellen distanziert – trotz der
gemeinsamen Gegnerschaft zur Regierung Aristide.
Strukturelle Gewalt
Die Kommentare in der
bürgerlichen Presse bemühen oft altbekannte Stereotype, um diesen Konflikt
zu deuten. Da wird auf die gewaltvolle 200jährige Geschichte des Landes
verwiesen, auf die Diktaturen, auf 33 Putsche. Da wird vermutet, daß die
Gewalt, die Haiti solange beherrschte, auch nach dem demokratischen
Aufbruch 1986/1990 in den Köpfen der Menschen fortexistiere und sich nun
angesichts des sozialen Elends Bahn breche. Da wird viel über die
Persönlichkeitsstruktur des haitianischen Präsidenten spekuliert, wie er,
der Hoffnungsträger aller Linken und Dritte-Welt-Engagierten, v.a. aber
der haitianischen Massen, zum korrupten Despoten werden konnte und ob
nicht die USA vielleicht an allem schuld seien. Fakt ist: Die Gewalt, die
Haiti nicht nur in den 200 Jahren seiner Unabhängigkeit, sondern erst
recht in den davorliegenden rund 150 Jahren seiner Kolonialgeschichte
beherrschte, lebt nicht nur in den Köpfen der Haitianer fort. Sie
existiert real. Sie existiert in den sozialen Beziehungen innerhalb der
haitianischen Gesellschaft. Sie existiert in den Beziehungen zwischen
Haiti und dem Weltmarkt. Es ist die Gewalt der ökonomischen Verhältnisse.
In Haiti existieren unvorstellbarer Reichtum und unvorstellbare
Armut direkt nebeneinander. Sie bedingen sich wechselseitig. Und sie sind
eng mit den Bedingungen des Weltmarkts verwoben. Diese Wechselbeziehung
hat eine lange Geschichte. Sie beginnt mit der Kolonisierung Haitis durch
Frankreich, mit Sklavenwirtschaft und einem unvergleichlichen Transfer von
Reichtum. Sie fand ihre Fortsetzung in der konkurrierenden ökonomischen
Durchdringung durch imperialistische Mächte Ende des 19. und Anfang des
20. Jahrhunderts. Die sprichwörtliche »Kanonenbootpolitik« stammt aus
dieser Zeit, als deutsche Kanonenboote im Hafen von Port-au-Prince
kreuzten, um deutsche Kaufleute, die im Zusammenhang mit einem
Putschversuch verhaftet worden waren, freizupressen. Die Durchdringung
mündete schließlich in die komplette Umformung der haitianischen
Volkswirtschaft in den Jahren der US-amerikanischen Besatzung 1915–1934,
als Haiti für die weltmarktorientierte kapitalistische Produktion
zugerichtet wurde. Entwicklungshilfeprogramme der 60er bis 80er Jahre
führten diese Zurichtung fort, und selbst der Sturz der Diktatur Duvalier
1986 und die Rückkehr des Präsidenten Aristide aus dem Exil 1994 waren
jeweils mit Offensiven einer neoliberalen Entwicklungsstrategie verbunden
(Handelsliberalisierung, Fertigungsindustrie etc.). Die Leidtragenden
dieser Strategien waren meist Bauern und Handwerker. Nutznießer war die
haitianische Großbourgeoisie, die sich aus wenigen Familien zumeist
deutschen und libanesischen Ursprungs zusammensetzt.
Kapitalistische Modernisierung
Die haitianische
Krise ist ein ökonomische. Die aktuellen Auseinandersetzungen sind
Ausdruck dieser Krise. 1994 marschierte eine internationale Eingreiftruppe
in Haiti ein, setzte dem Militärregime des Generals Raoul Cédras ein Ende
und brachte den gewählten Präsidenten Aristide aus dem Exil zurück in den
Palais National. Der demokratische Aufbruch, der 1990 zur Wahl Aristides
zum Präsidenten geführt hatte und sich in dem Erstarken einer unendlichen
Vielzahl sozialer und demokratischer Initiativen ausdrückte, war dennoch
unwiderruflich erstickt worden – durch die Schergen des Militärregimes,
die sogenannten FRAPH (Forces Révolutionaires Armées pour le Progrès en
Haiti), die in den Jahren des Putsches 1991-1994 Hunderte, wenn nicht
Tausende Anhänger der Partei des Präsidenten, Lavalas, umbrachten.
IWF und Weltbank verordneten Haiti 1995 ein
Strukturanpassungsprogramm üblichen Inhalts: Halbierung der Lohnsumme im
öffentlichen Dienst, Liberalisierung im Bereich der Telekommunikation,
Privatisierung der Staatsbetriebe (u.a. Zement- und Mehlproduktion, Hafen-
und Flughafenverwaltung, Stromerzeugung). Aristide unterschrieb das
Vertragswerk, verzögerte aber danach die Umsetzung der unpopulären
Maßnahmen. Nachdem er (aus Verfassungsgründen) 1995 das Amt des
Präsidenten an seinen Gefolgsmann René Préval abgeben mußte, fiel die
pluralistische Lavalas-Bewegung auseinander. Im Parlament bildete sich
eine Abspaltung unter dem Namen OPL (Organisation du Peuple en Lutte), die
eine schnellere Umsetzung der Strukturanpassung forderte. Begleitet von
vielen zum Teil gewalttätigen Protestaktionen gegen geplante
Privatisierungen kam es zu einem Patt in der Legislative, das dazu führte,
daß es in Jahren 1997/1998 nicht einmal mehr gelang, eine Regierung mit
Parlamentsmehrheit einzusetzen. Der Konflikt entschied sich zugunsten der
Gruppe um Aristide und Préval, der schließlich per Dekret einen ihm
genehmen Ministerpräsidenten Edouard Alexis einsetzte und das Parlament
entmachtete.
Nach diesem Manöver, in dem die Opposition quasi
ausgeschaltet wurde, mischten sich die Karten neu, und die Regierung
Préval/Alexis machte sich nun selbst eifrig an die Umsetzung der
»Strukturanpassungsmaßnahmen«, denen sie sich zuvor widersetzt hatte. Nach
Aristides Wiederwahl zum Präsidenten im November 2000 und mit der
übergroßen Mehrheit der Lavalas im Parlament, deren rechtmäßiges
Zustandekommen die Opposition anzweifelte, wurde dieser Kurs fortgesetzt.
Die Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes und die
Teilprivatisierung der staatlichen TELECO wurde dabei am konsequentesten
umgesetzt. (Nur Zufall? Aristides Frau Mildred ist an einem privaten
Anbieter beteiligt.) Die Schließung des Zement- und des Mehlwerks und der
Verkauf an internationale Konsortien unter Beteiligung der haitianischen
Bourgeoisie sicherten Aristide wenn auch nicht die Unterstützung, so doch
zumindest das Stillhalten der mächtigsten Familien des Landes.
Die Linke
Die sogenannte Petite Bourgeoisie, die
politisch in der OPL organisiert war, war der Verlierer dieser
Entwicklung. Sie war nicht nur entmachtet, sondern zunehmend Repressionen
ausgesetzt. Sie entwickelte sich im folgenden zum intellektuellen
Bezugspunkt der Opposition.
Die Petite Bourgeoisie setzt sich aus
wohlsituierten Intellektuellen zusammen. Sie haben beste Verbindungen zur
europäischen Sozialdemokratie und sind über diverse Parteien in der
Sozialistischen Internationale vertreten. Diese Verbindungen ins Ausland
sind ihr stärkster Trumpf. Durch sie gelang es ihnen, ihr politisches
Anliegen auf die internationale Agenda zu setzen. Das Einfrieren der
EU-Hilfsgelder vor vier Jahren ist auch auf ihren Einfluß auf die
damaligen sozialdemokratischen Regierungen in Europa zurückzuführen. Sie
sehen sich heute noch als Linke. Dabei sind sie längst von ihrer Klasse
eingeholt worden, gehören sie doch einer privilegierten Bildungselite an.
Sie leben in den schönsten Vierteln der Hauptstadt Port-au-Prince.
Ihr linker Idealismus trieb sie in kommunistische Parteien und in
die Reihen der Unterstützer Aristides bzw. in den Widerstand gegen die
Militärjunta von Raoul Cédras. Ihre soziale Lage verhinderte jedoch, daß
sie dem Volk (La Masse) jemals wirklich nahekamen. Sie sind
Universitätsdozenten, Wissenschaftler oder Kunstschaffende. Sie haben
weniger Kontakt zum Volk als die Großbourgeoisie (La Classe), die diesem
durch ein brutales Ausbeutungsverhältnis verbandelt ist. Für ihre
politischen Ambitionen fehlt ihr jegliche gesellschaftliche Verankerung.
Weshalb sie jahrelang im eigenen Saft schmorte, ihre internen
verwandtschaftlichen Beziehungen pflegte, immer wieder neue Parteien und
Bündnisse auf immer derselben dünnen Grundlage ins Leben rief und
zwischenzeitlich gar zusehen mußte, wie sich das Großkapital mit der
Regierung Aristide verbrüderte.
Die Staatskrise
Das war zur Zeit des letzten Amtsantritts von Aristide Anfang 2001
– unmittelbar nach den umstrittenen Wahlen und am Beginn der sogenannten
Crise post-électorale. Sie steht am Beginn der heutigen
Auseinandersetzungen. Im Mai 2000 hatte die Opposition durch eine
manipulierte Auszählung bei den Parlamentswahlen nahezu alle Sitze
verloren. Wohlverstanden: Die Wahlen hätte die Partei des Präsidenten in
jedem Fall gewonnen. Durch Manipulationen bei der Auszählung gewann sie
jedoch fast alle Sitze. Die Opposition nutzte den offensichtlichen Betrug,
um ihren Anspruch an der Macht, den sie in freien Wahlen nie hätte
verwirklichen können, nun über die Skandalisierung dieses Wahlbetrugs und
eine Internationalisierung des Konflikts durchzusetzen. Die Opposition
fuhr fortan eine Eskalationsstrategie und ging dabei auch Bündnisse mit
Vertretern untergegangener Militärregimes ein, wie beispielsweise mit
Exdiktator Prosper Avril. Die Regierung bot zunächst Neuwahlen in den
Wahlkreisen an, in denen die Auszählung manipuliert worden war,
schließlich sogar generelle Neuwahlen des Parlaments. Die Opposition
reagierte stets mit einer Radikalisierung ihrer Forderungen – bis hin zur
Forderung nach dem Rücktritt des Präsidenten (»Option zéro«). Mit dieser
Strategie der Option zéro trägt sie einen Teil der Verantwortung für die
aktuelle Situation.
Die Petite Bourgeoisie, die sich von Lavalas
unterdrückt und um ihre sozialen Perspektiven gebracht sieht, wird auch
mit ihren neuen Bündnispartnern und erst recht in der Konstellation, die
sich heute bietet, verlieren. Vielleicht wird sie einige persönliche, aber
ganz bestimmt nicht ihre politischen Ambitionen verwirklichen können.
Schwacher Staatsapparat in einer
Klassengesellschaft
Selbstverständlich trägt auch Aristide
Schuld an der Eskalation der Gewalt. Er hat lange billigend in Kauf
genommen und vielleicht sogar befördert, daß sich Jugendgruppen
bewaffneten und systematisch Jagd auf Oppositionelle machten. Zum einen
führte dies zu einer Verhärtung der Fronten zwischen Regierung und
Opposition, zum anderen sind es genau diese Banden, die heute gegen die
Regierung rebellieren. Der Profiteur dieser Entwicklung ist eine dritte
Kraft, die FRAPH bzw. die Anciens militaires.
Nach seiner Rückkehr
aus dem Exil 1994 hatte Aristide die Armee aufgelöst. Seither gab es
Gerüchte, daß alte Seilschaften aus dem Militär und der FRAPH-Miliz im
Verborgenen weiterexistieren, teilweise im Exil in der Dominikanischen
Republik, und daß sie über jede Menge Waffen verfügen, die 1994 nicht
eingesammelt worden waren. Diese Kräfte strömen nun aus der
Dominikanischen Republik ein und verstärken die Reihen der Rebellen. Die
demokratische Opposition in der Hauptstadt distanziert sich. Sie weiß:
Wenn diese Kräfte siegen, wird nicht nur Aristide stürzen, auch für ihre
eigenen Ambitionen wird es das Ende bedeuten.
*
Alexander King ist Diplomgeograph und lebt in Berlin. Die Analyse wurde
für die Informationsstelle Militarisierung IMI e.V., Tübingen,
erstellt.
Gekürzt aus:
Junge Welt 28.2.04
Weggekürzt habe ich den
Schlussteil dieses informativen Textes, der mit dem Satz eingeleitet wird:
„Die Menschen in Haiti haben Anspruch auf Hilfe...“
Nein, den Problemen in
Haiti kommt man nicht mit ausländischen Sozialarbeitern und Polizisten
bei. Den Haitianern wird am meisten geholfen, wenn man ihre
Selbstbestimmung respektiert und allen ausländischen Druck, sei er nun
wirtschaftlich, militärisch oder politisch fernhält.
W.
Buchenberg
|