Austromarxismus

"Seit der amerikanische Sozialist Louis Boudin im Jahre 1904 die Bezeichnung »Austromarxismus« prägte, hat sie allgemein Anerkennung gefunden. Auch von den Mitgliedern der solcherart getauften Schule wurde sie akzeptiert. Man kann im Grunde von einer österreichischen „Schule“ innerhalb des Marxismus sprechen; es handelte sich indessen nicht um eine Schule im scholastischen oder rabbinischen Sinne, also um Gruppe von Gelehrten, die man dadurch charakterisieren könnte, dass man eine bestimmte Menge von Lehrsätzen aufzählt, zu denen die Gruppe sich bekennt oder die in ihr als gültig anerkannt sind. Gewisse einsame Tendenzen und gewisse spezielle Interessen lassen sich gleichwohl feststellen.

Alle bedeutenden Theoretiker der österreichischen Sozialdemokratie - Max Adler, Otto Bauer, Rudolf Hilferding, Karl Renner, Friedrich Adler — hielten sich für Marxisten im vollen Wortsinne, sahen aber zugleich im Marxismus nicht ein sich selbst genügendes, geschlossenes „System«. Im ersten Band der »Marx-Studien«, der 1904 erschien, erklärten die Herausgeber (Adler und Hilferding) in einem einleitenden Artikel, daß sie dem Geist Marxens treu seien aber nicht den Ehrgeiz hätten, dem Buchstaben die Treue zu halten. Derartige Erklärungen allein besagen natürlich nicht viel, da die Marxisten, selbst die dogmatischsten und frömmsten, solche Parolen ständig im Munde führten („Der Marxismus ist kein Dogma«, »Man muß das Erbe von Marx schöpferisch weiterentwickeln« usw.). Der Grad der »Offenheit« der verschiedenen marxistischen Richtungen kann daher nicht an solchen Deklarationen gemessen werden, sondern nur an ihrer tatsächlichen Anwendung. In dieser Hinsicht unterschieden sich die Österreicher aber wesentlich von der typischen Orthodoxie. Sie betonten nicht nur die Verbundenheit des Marxismus mit jenen früheren Richtungen, die Marx selbst nicht als »Quellen« der Lehre autorisiert hatte (vor allem Kant) sondern sie sahen auch nichts Unrechtes darin, aus dem Vorrat an Ideen, Begriffen und Fragen zu schöpfen, der sich später in der nichtmarxistischen Philosophie und Soziologie auftat — vor allem bei den Neukantianern. Sie meinten aber, dem Geist der Lehre nicht untreu zu werden, wenn sie diese durch anderswo aufgegriffene Motive zu bereichern versuchten. Sie wollten deutlich machen, daß die marxistische Theorie und auch die sozialistische Idee ganz und gar zum Bestand der kulturellen Tradition Europas gehören, und sie betonten eher die Gemeinsamkeiten, geistigen Zusammenhänge und vielfältigen Kontakte zwischen dem Marxismus und verschiedenen Strömungen der europäischen Philosophie und Gesellschaftstheorie, statt die absolute Neuheit des Marxismus hervorzukehren. (...)

Sie wollten zeigen, daß der Marxismus eine wissenschaftliche Theorie im vollen Wortsinne ist (...)

Ist der Marxismus eine wissenschaftliche Theorie oder die Ideologie des Proletariats? Für die Orthodoxen war die Antwort einfach: Er ist das eine wie das andere. (...)

Definiert man dagegen den Marxismus als »Ideologie des Proletariats«, dann ist der Akt der Anerkennung des Marxismus zugleich ein Akt des politischen Engagements und nicht bloß eine theoretische Stellungnahme, und er kann von diesem Engagement nicht unabhängig sein. Diejenigen, die diesen Standpunkt einnahmen (vor allem Lenin), betonten natürlich weiterhin den wissenschaftlichen Charakter der Doktrin, sahen jedoch in der Theorie ein Instrument des politischen Kampfes und wären nicht bereit gewesen, anzuerkennen, und sei es nur theoretisch, daß die Entwicklung der Theorie ebenfalls von einer immanenten, von der politischen Situation unabhängigen Logik bestimmt ist oder daß diese immanente Entwicklung mit den Bedürfnissen des politischen Wirkens in Kollision geraten könnte. Bei der Propagierung der Lehre beriefen sie sich denn auch nicht auf klassenunabhängige Erkenntnisregeln, sondern auf Klasseninteressen. Die österreichischen Marxisten stellten in dieser Hinsicht das genaue Gegenteil des Leninschen Vorgehens dar. Wenn sie die marxistische Theorie vertraten, so wollten sie sich an alle wenden, die rational denken, und nicht nur an jene, denen es darum ging, daß die Theorie aufgrund ihrer klassenmäßigen Stellung richtig sein mußte. Nicht anders war es im Bereich der Ethik. Die Österreicher unterstrichen vor allem den Universalismus des marxistischen Standpunkts sowohl im intellektuellen wie im moralischen Sinne. Nach ihrer Ansicht genügte es, richtig zu denken, um den Marxismus anzuerkennen, und um die sozialistische Idee anzuerkennen, genügte es, die allgemein menschlichen, nicht spezifisch klassengebundenen Werte ernst zu nehmen, die der Sozialismus jedoch am vollkommensten zu verwirklichen versprach. In der letzteren Frage nahmen sie einen ähnlichen Standpunkt ein wie Jaurès, auch wenn sie in Fragen der Doktrin sehr viel rigoristischer waren. Sie sahen im Marxismus eine Fortsetzung der »natürlichen« Entwicklung der gesellschaftlichen Erkenntnis und im Sozialismus eine ebenso »natürliche«, an die moderne Gesellschaft angepaßte Interpretation traditioneller allgemein menschlicher Werte. (...) 

Für die Austromarxisten war jener allgemein menschliche Sinn des Sozialismus ein in der Tat wichtiges Thema und nicht bloß rhetorisches Beiwerk. Sie charakterisierten deshalb die Gesellschaft der Zukunft, wenn von ihr die Rede war, weniger durch Begriffe der Macht und institutionelle Veränderungen als vielmehr durch die freie Selbstverwaltung des arbeitenden Volkes. In der Vergesellschaftung des Eigentums sahen sie ein Instrument sozialistischer Umgestaltungen und nicht eine erschöpfende Definition des Sozialismus, denn dieser setzt vor allem die Vergesellschaftung der Produktionsprozesse selbst voraus, also die Kontrolle der gesamten Gemeinschaft der Produzenten über das gesamte Wirtschaftsleben. Sie glaubten, daß das Kantsche Prinzip, das uns gebietet, das menschliche Individuum stets als Zweck und nie als Mittel zu behandeln, vollkommen mit den Grundsätzen des Sozialismus harmoniere und daß ein Sozialismus, der etwas anderes anstrebe als die freie Entfaltung miteinander vereinter Menschen, eine Parodie auf seine eigenen Grundsätze sei.

Trotzdem identifizierten sie sich keineswegs mit dem Bernsteinschen Revisionismus und gehörten in politischer Hinsicht zum radikalen Flügel innerhalb der europäischen marxistischen Bewegung bzw. schufen sie eine eigene Variante des Radikalismus, welche die Anerkennung der demokratischen Diktatur des Proletariats einschloß und den Gedanken an einen allmählichen Aufbau sozialistischer Organisationen im Schoße der kapitalistischen Gesellschaft ablehnte.

Während des Krieges und später nahm das Schicksal der wichtigsten Theoretiker des Austromarxismus einen unterschiedlichen Verlauf. Hilferding und Renner gingen zu einem sozialdemokratischen Standpunkt im heutigen Sinne über. Adler und Bauer (und auch Friedrich Adler) beharrten auf dem Standpunkt der radikalen sozialistischen Linken, die sich weder mit der Sozialdemokratie noch mit dem leninistischen Kommunismus identifizierte, sondern — erfolglos — versuchte, der Verständigung zwischen beiden feindlichen Lagern zu dienen.

Neben der Monatsschrift »Der Kampf« (ab 1907) gaben die österreichischen Marxisten die bereits erwähnten »Marx-Studien« heraus. Darunter waren Werke, die mit Sicherheit zu den theoretisch bedeutsamsten Errungenschaften der marxistischen Literatur gehören: Adlers »Kausalität und Teleologie im Streite um die Wissenschaft« (1904) »Die Staatsauffassung des Marxismus«(1922), Bauers »Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie« (i9o7), Hilferdings Auseinandersetzung mit Böhm-Bawerk um die Marxsche Wertlehre (1904) sowie Hilferdings »Das Finanzkapital« (1910).“

Aus: Lezek Kolakowski: Die Hauptströmungen des Marxismus. Band 2. München. Neuausgabe 1988. 275 – 279.