Alt und verbraucht


Vor dem Arbeitsgericht sind erschienen ein 60jähriger Lohnarbeiter im grauen Anzug mit Rechtsanwalt als Kläger und die Rechtsanwältin der beklagten Elektrogroßhandlung GmbH.

Der Kläger war von der Großhandlung laut Arbeitsvertrag für den Außendienst eingestellt worden, um eine Kundenregion zu betreuen und bekam dafür eine Grundvergütung von 1270.- Euro plus erfolgsgebundene Provisionsvorauszahlung von 1640.-, zusammen 2910.- brutto.

Viermal war dem Lohnarbeiter in den letzten Jahren ein einvernehmliches Ausscheiden aus der Firma angeboten worden, aber jedes Mal konnte man sich über die Höhe der Abfindung nicht einigen. Am 24.5.2002 war ihm fristlos ohne Anhörung des Betriebsrates gekündigt worden. In der Woche darauf wurde er schwer krank und musste im Anschluss an die Krankheit in eine Kur. Seine Klage richtete sich gegen diese fristlose Kündigung. Allerdings konnte und wollte er nicht auf Weiterbeschäftigung klagen, weil er auch nach seiner Kur nur bedingt arbeitsfähig war. Vor allem das Autofahren war ihm aus gesundheitlichen Gründen verboten. An Außendienst war jetzt nicht mehr zu denken. Seine Firma hatte ihm zwar nach seiner Kündigungsklage noch einen Änderungsvertrag angeboten, mit dem er nur noch im Innendienst arbeiten sollte, aber auch hier waren die Konditionen so ungünstig für ihn, dass er den neuen Arbeitsvertrag nicht unterschrieben hatte.

Der 60jährige erzählt, dass außer ihm noch fünf ältere Kollegen von der Firma gekündigt worden sind.
Arbeitsmarktstatistiken zeigen, dass dies kein Einzelfall ist. Wer alt und verbraucht ist, der verursacht dem Kapital höhere Kosten und bringt weniger Profit: „Schätzungen ergaben, dass ältere Arbeitnehmer in sehr kleinen und in sehr großen Betrieben einem besonders hohen Risiko gegenüberstehen, frühzeitig aus dem Arbeitsleben auszuscheiden.“  LitDok. 99/2000-1, a956.
In Großbetrieben ab 5000 Beschäftigten sank zwischen 1990 und 1995 der Anteil der älteren Arbeitnehmer ab 55 an der Belegschaft - obwohl durch die demografische Altersstruktur immer mehr Lohnabhängige in dieser Altersgruppe liegen.“ LitDok. 1998/99 a-1552.
Derzeit sind nach den massiven Restrukturierungsprozessen der deutschen Wirtschaft in den neunziger Jahren nur noch gut 450.000 Beschäftigte über 60, und nur 2,1 Mio. Arbeitnehmer zwischen 55 und 59 Jahre alt.“ LitDokAB 2000, a-173.

Der Richter sagt, es gehe der gesamten Braubranche in der Region schlecht, und schlägt die Umwandlung der fristlosen Kündigung in eine fristgerechte personenbedingte Kündigung wegen Krankheit vor.
Der Kläger wäre damit einverstanden, falls er noch eine Abfindung bekommt. Die Geschäftsführung der Elektrogroßhandlung will keine Abfindung zahlen.
Der Richter meint, man könne ja noch über den Kündigungszeitraum diskutieren. Und ob die Zahlung einer Geldsumme „Abfindung“ oder „Restlohnzahlung“ genannt würde, spiele doch eine untergeordnete Rolle.

Die Verhandlung wird unterbrochen. Der Rechtsanwalt berät sich mit dem Kläger, die Rechtsanwältin telefoniert mit der Geschäftsführung. Nach fünf Minuten ist eine Einigung erreicht:
Die fristlose Kündigung vom 24.5.2002 wird in eine fristgemäße Kündigung zum 31.12.2002 umgewandelt. Für den Großteil dieses Zeitraums hat der Gekündigte wegen der Lohnfortzahlung durch die Krankenkasse keine Lohnforderungen an die Firma. Er bekommt jedoch noch sieben Monatsgehälter als „Restlohnvergütung“. Alle gegenseitigen Ansprüche aus dem Lohnverhältnis sind damit erledigt. Für  20.400 Euro, für die keine Sozialabgaben fällig werden, hat sich die Firma von dem unprofitablen Lohnarbeiter freigekauft.

In alter Zeit konnten sich Sklaven oder Leibeigene von ihren Herren freikaufen. Heute ist es umgekehrt: das Kapital kauft sich von unprofitablen Lohnarbeitern frei. Das ist für die Kapitalisten eine unproduktive Ausgabe, daher fordern sie eine weitgehende Aufweichung des Kündigungsschutzes.
Sklaven mussten von ihren Herren ernährt und unterhalten werden, auch wenn sie nicht mehr arbeitsfähig waren. Alte und verbrauchte Lohnarbeiter fallen nicht ihren kapitalistischen Arbeitsherrn, sondern der Gesellschaft zur Last. Das ist der Fortschritt des Sozialstaats.
Wal Buchenberg, 28.1.2003