Massenentlassung
Vor dem Arbeitsgericht erschienen sind der Personalleiter einer Fabrik für Dosenverschlüsse und Flaschendeckel mit Rechtsanwältin als Beklagte und elf Immigranten-Arbeiter im Alter zwischen 25 und 45 Jahren mit zehn Rechtsanwälten und zwei Dolmetscherinnen als Kläger.

Sie klagen gegen ihre betriebsbedingten Kündigungen vom 22.04.02 bzw. 22.03.02, denen die Anmeldung beim Arbeitsgericht als Massenentlassung und die Erstellung eines Sozialplanes unter Mitwirkung des Betriebsrates vorausgegangen war. Die Entlassenen hatten über den Sozialplan Anspruch auf zum Teil nicht unerhebliche Abfindungen über 30.000 Euro. Trotzdem wollen diese Elf lieber ihren Arbeitsplatz behalten und klagen sowohl gegen die Rechtmäßigkeit der Kündigungen wie für Wiedereinstellung mindestens für die Dauer des Rechtstreits.
Der Richter ruft die Namen der Kläger und ihrer Rechtsanwälte auf. Er gibt sich wenig Mühe, die türkischen und kroatischen Namen auch nur annähernd in verständlicher Aussprache vorzulesen. Die Immigranten-Arbeiter sind das wohl gewohnt und melden sich brav mit „Hier!“.

Normalerweise sitzen vor dem Arbeitsgericht je zwei Vertreter der Kläger- und der Beklagtenseite an einem halbrunden Tisch vor der Brüstung, die den Richter und seine beiden Beisitzer vom einfachen Volk trennt. Wer in den Zuhörerreihen mit ein paar Meter Abstand zum Verhandlungstisch sitzt, hat große Mühe, etwas zu hören.
Einige Prozessteilnehmer beklagen sich, dass sie nichts verstehen. Mit großem Stühlerücken wird ein doppelter Sitzring um den Verhandlungstisch gebildet, damit alle zwei Dutzend Anwesenden der Verhandlung folgen können

Dann wird die beklagte Firma benannt, was Nachfragen und Unmutsäußerungen auslöst. Das örtliche Werk beschäftigt rund 600 Lohnarbeiter in vier Produktionsschichten am Tag und ist Teil eines weltweiten Konzerns, dessen Aktien je zur Hälfte die Allianz AG und e.on hält, und der in jedem der letzten sechs Jahre seine Gewinne steigern konnte. Aber wem genau gehört dieses Werk?
Es gab eine Schmach GmbH (alle Namen geändert), es gab eine Schmach GmbH & Co. KG, es gab eine Schmach-Lübeck AG, es gab eine Anker-White AG. Die GmbH war in eine AG umgewandelt worden, und diese dann in eine GmbH & Co. KG, diese war schließlich an die Anker-White AG verkauft worden.
Welche Firma ist nun der richtige Ansprechpartner in diesem Verfahren? Der Personalchef weiß nur zu berichten, dass die jeweils bestehenden Arbeitsverhältnisse von der Übernahme-Firma mit übernommen worden sind. Der Personalchef und seine Rechtsanwältin haben Vollmachten von der GmbH & Co. KG. Diese ist jedoch, wie sich herausstellt, zwar beim Handelsregister beantragt, aber noch nicht eingetragen. Rechtlich existiert diese Firma also noch nicht. Die Kündigungen sind von der AG ausgesprochen worden.

Der Richter ist etwas verwirrt, beginnt aber erst einmal mit der Verhandlung.
Vorab melden sich zwei Rechtsanwälte, die einen Vergleichsvorschlag für ihren jeweiligen Mandanten haben. Für den einen Kläger wird ausgeführt, dass ihm als älterer Arbeiter die Kündigung nach den vorliegenden Sozialplanregeln zu Unrecht zugemutet worden ist. Seine Rechtsanwältin schlägt als Vergleich vor, dass die Kündigung akzeptiert würde, wenn dieser Arbeiter für den Zeitraum von fünf Jahren bei möglichen Neueinstellung der Firma ein bevorzugtes Wiedereinstellungsrecht hätte. Der Personalchef meint dazu, er wäre allenfalls mit einem Zeitraum von 3 Jahren einverstanden. Der Richter unterbricht dieses zweiseitige Gespräch und schlägt vor, es sollte außerhalb des Verfahrens fortgesetzt werden. Als die Rechtsanwältin dann nach beendigter Verhandlung den Personalchef wieder in der Sache ansprach, ließ er sie kühl abblitzen und verwies sie an die Rechtsabteilung des Unternehmens. Die Rechtsanwältin beschwerte sich, sie fühle sich „vorgeführt“. Was half’s? Der Richter hatte nichts zu Protokoll genommen.

Ein zweiter Rechtsanwalt führt aus, dass sein Mandant innerhalb des Sozialplans auf die Kündigungsliste gekommen sei, weil die Geschäftsleitung wider besseres Wissen an den Betriebsrat falsche Angaben über seine persönlichen Umstände gemacht habe. Als die Personalabteilung im Vorfeld der Kündigungen die Sozialdaten der Beschäftigten erfragte, hatte sein Mandant wahrheitsgemäß angegeben, dass er verheiratet sei und Unterhaltspflichten für eine Tochter habe. Das sei dem Betriebsrat verschwiegen worden.
Der Personalchef erwiderte: „Das stand nicht in der Lohnsteuerkarte. Er hat Steuerklasse I und seine Tochter ist 26 Jahre alt!“ Der Rechtsanwalt erwiderte: Nicht die Lohnsteuerkarte ist entscheidend, entscheidend ist, was den Tatsachen entspricht. Tatsache ist, dass der Mann verheiratet ist, und seine Tochter schwerbehindert.“ Der Betriebsrat sei bewusst falsch informiert worden.

Wieder unterbricht der Richter die zweiseitige Debatte: Das sei alles in den Schriftsätzen „ausführlich und einfühlsam“ dargestellt. Das müsse nicht noch einmal vorgetragen werden.
Er fragt nun die Firmenvertreter nach den Umständen, die zu den betriebsbedingten Kündigungen geführt haben. Und führt selber aus, dass betriebsbedingte Kündigungen dann rechtens sind, wenn zum Zeitpunkt der Kündigung begründet davon ausgegangen werden kann, dass nach Ablauf der Kündigungsfrist das Arbeitsvolumen so weit reduziert ist, dass ein Beschäftigungsbedürfnis im Ausmaß der erfolgten Kündigungen entfällt.

Damit hatte der Richter der Kapitalseite eine breite goldene Brücke gebaut. Eigentlich hätte der Personalchef nur noch sagen brauchen: Ja, genau so war’s! Zum Zeitpunkt der Kündigung konnten wir davon ausgehen, dass sich das künftige Arbeitsvolumen um 35% reduziert!

Der Personalchef tappst jedoch an der goldenen Brücke des Richters vorbei und verliert sich in die Untiefen der Produktionstechnik des Weißblechdrucks. Er berichtet von reduzierten Ofendurchgängen. Er erklärt, warum an der neuen Hochgeschwindigkeitslinie in der Endfertigung nur manchmal mit Hochgeschwindigkeit und reduzierter Arbeiterzahl gearbeitet wird, meist aber wegen oder trotz moderner Technik Probleme auftreten und dann durch die Nacharbeit höherer Arbeitsbedarf erforderlich wird. Er muss sich gegen den Vorwurf rechtfertigen, warum trotz Massenentlassungen eine Vielzahl von Fremdarbeitern mit Zeitverträgen in seiner Firma arbeiten.
Einer der Rechtsanwälte fasst den allgemeinen Eindruck zusammen: Man könne sich daraus kein klares Bild über die personellen Auswirkungen des neuen Unternehmenskonzepts und der neuen Technik machen.

In welchem Zusammenhang die Kündigungen mit dem Wechsel der Eigentumsformen und Eigentümer standen, wird nicht angesprochen. Niemand fragt nach, ob nicht das Unternehmen leichter und teurer verkauft werden konnte, wenn es bezogen auf den Jahresumsatz weniger Arbeiter beschäftigt und so den Eindruck höherer Produktivität und größerer Profitabilität erwecken kann.

Der Richter schweigt zu allem. Er hatte ja vordem schon seinen Rechtsstandpunkt bekannt gegeben. Danach kommt es nicht auf den wirklichen Arbeitsbedarf an, sondern nur auf eine begründete Prognose der Geschäftsleitung.
Der Richter verschafft sich eine Beratungspause, indem er den Personalchef bittet, Vollmachten von der AG anzufordern, denn die habe die Kündigungen ausgesprochen und sei daher als das beklagte Unternehmen anzusehen.
Die Verhandlung wird unterbrochen, bis die Vollmachten von der Firma zum Arbeitsgericht gefaxt sind.

Nach fünfzehn Minuten geht die Verhandlung weiter. Der Richter ruft jede einzelne der elf Kündigungsklagen auf und erfragt die aktuellen Anträge. Die Klägeranträge lauten: „Es soll festgestellt werden, dass die Kündigung unwirksam ist. Hilfsweise wird beantragt, dass der Kläger bis zur rechtlichen Klärung des Falls zu den alten Bedingungen weiterbeschäftigt wird.“ Elfmal heißt der Gegenantrag der Unternehmensseite: „Die Klage wird abgewiesen!“

Welche Chancen gibt es für die Weiterbeschäftigung bis zur endgültigen Klärung der Klage? Es fällt das Wort „Weiterbeschäftigungsanspruch“. Der Richter wird scharf: „Es gibt keinen Anspruch auf Weiterbeschäftigung!“
Ein Rechtsanwalt wirft ein: „Es gibt aber dazu ein einschlägiges Urteil des Bundesarbeitsgerichts von 1986!“ Der Richter: „Nicht alle Richter sind mit diesem Urteil glücklich“. Ein Rechtsanwalt antwortet ebenso spitz wie treffend: „Hier geht es nicht um das Glück der Richter!“ Der Richter bekommt rote Flecken im Gesicht und befindet: „Hier sind Sie nicht vor dem Bundesarbeitsgericht! In den zehn Jahren, in denen ich hier den Vorsitz führe, wurde noch nie einem Weiterbeschäftigungsanspruch stattgegeben!“ Es gebe dafür keine gesetzliche Grundlage.

Der schlagfertige Rechtsanwalt antwortet: „Es geht hier nicht darum, Gesetzestexte und Paragrafen zu finden, es geht hier darum, pragmatische Lösungen für Menschenschicksale zu finden! Was die juristische Seite angeht, so hat nach allgemeiner Rechtsansicht auch jeder ungekündigte Lohnarbeiter einen Anspruch auf Beschäftigung, ohne dass es dafür eine gesetzliche Grundlage und einen einschlägigen Paragrafen gibt. Aus dem Fehlen von einschlägigen Paragrafen lässt sich weder der Schluss ziehen, es gebe keinen Beschäftigungsanspruch für ungekündigte Lohnarbeiter noch der Schluss, es gebe keinen Weiterbeschäftigungsanspruch für gekündigte Lohnarbeiter.
Ein solcher Anspruch ergibt sich sowohl aus der Menschenwürde, wie daraus, dass bei einer strittigen Kündigung durch die Entfernung des Lohnarbeiters aus dem Unternehmen Fakten geschaffen werden, die den späteren Urteilsspruch entweder schon vorwegnehmen oder bedeutungslos werden lassen.“

Der Richter äußert sich dazu nicht mehr und gibt weiter Anträge und Gegenanträge zu Protokoll und schließt die Verhandlung mit der Feststellung: „Das Urteil ergeht an die Parteien!“

Wäre im Gerichtssaal über den Streitfall abgestimmt worden, es hätte sich die große Mehrheit gegen die Kündigungen und für Weiterbeschäftigung ausgesprochen. Nur mit Hilfe der einen, aber alles entscheidenden Stimme des Richters kann die Geschäftsleitung ihre Interessen durchsetzen und eine vorläufige Weiterbeschäftigung abweisen.

Die Kapitalisten machen rund 3 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung aus. Als winzige Minderheit benötigen sie für ihre Interessen absolutistische Machtorgane wie beamtete Richter. Kapitalismus ist unvereinbar mit Mehrheitsentscheidungen und Basisdemokratie.
Wal Buchenberg, 2.12.2002