Abmahnung an der Schule:
Ist der Lehrer gebeutelt oder seine Schüler?

Anwesend der Personalrat der Schule, der Schulleiter und ihr Rechtsanwalt auf der einen Seite, ein Lehrer und sein Rechtsanwalt auf der anderen. Der Lehrer, Mitte Fünfzig, verschlossen, finster, wortkarg. Sein Schulleiter hatte ihn zweimal abgemahnt, wogegen der Lehrer klagt.

Der Lehrer war nach langer Krankheit wieder in den Schuldienst zurückgekehrt, nicht zur Freude seiner Kollegen, noch weniger zur Freude der Schüler. Während einer dreistündigen Abschlussklausur kam es in seiner Klasse, wie sich der Schulleiter ausdrückt: „zu einem Aufstand“, wie er ihm in seiner Schulzeit seit 1977 noch nie vorgekommen sei. Der Schulleiter ist auch Mitte Fünfzig.
Der Lehrer habe sich nicht an die von der Klassenkonferenz beschlossene Prüfungsart (zweimal zwei Prüfungsaufgaben, von denen die Schüler zwei zu wählen haben) gehalten. Zwei von den Prüfungsthemen seien nicht Gegenstand seines Unterrichts gewesen.
Der Lehrer schweigt noch zu den Vorwürfen. Sein Rechtsanwalt weist darauf hin, dass der Schulleiter die Prüfungsaufgaben vorher eingesehen und abgezeichnet hatte. Der Rechtsanwalt unterstellt dem Schulleiter private Feindschaft.

Da hier der Schulleiter ganz überzeugend im Namen der besonders gebeutelten Schüler auftritt, die sich auch bei anderen Gelegenheiten über diesen Lehrer beschwert hätten, kommt ihm der Richter zu Hilfe: Schulprobleme kennen wir alle, er habe (mit Hilfe seiner Frau, wie er ehrlicherweise einfügt) auch zwei Kinder durch die Schule gebracht – auch der Richter ist über Fünfzig -), Pisa, Ausländerkinder in der Klasse, Burn-out von Lehrern, für die er umso weniger Verständnis habe, weil so viele Lehrer in der Politik tätig seien. Das Lehrermassaker in Erfurt wird nicht erwähnt, steht aber drohend im Raum hinter dem schweigsamen Lehrer.

Das Arbeitsverhältnis des Lehrers ist unkündbar, aber überlegt der Richter laut: Falls er sich nicht fortbilden wolle, drohe ihm wieder eine Abmahnung mit folgender personenbedingter Kündigung. Auch der Kultusminister habe gesagt, nur 25 Prozent der Lehrer seien fortbildungswillig. Der Kultusminister, der Richter und der Schulleiter standen nun in einer Front mit den ungerecht behandelten Schülern gegen einen unfähigen oder unwilligen Lehrer.

Das Wort „Kündigung“ hatte der Schulleiter bisher nicht erwähnt, aber der Rechtsanwalt hatte seinen Lehrer in der Vorbesprechung vor der Verhandlung schon auf dieses Wort vorbereitet.
Mit dieser Rückendeckung wird der Schulleiter gesprächig und wirft das Stichwort „Therapie“ ein, der sich der Lehrer unterziehen solle. Der Richter fragt laut, ob denn der Kläger – nein, nicht therapiewillig -, er fragt, ob er fortbildungswillig sei? Ja, kommt stockend die Antwort, einer „Beratung durch die Schulbehörde“ habe er schon zugestimmt.

Nun meldet sich der Lehrer, der vor der Klasse sonst so viel zu sagen hat, länger zu Wort: Sein Unterricht wäre vielleicht nicht perfekt, aber wessen Unterricht ist das schon? Er müsse jede Woche in 14 Klassen unterrichten (also 28 Wochenstunden), er leiste mit größter Anstrengung das Beste.
Der Richter ist offenbar nicht davon überzeugt und schlägt ihm „Altersteilzeit“ oder reduzierte Stundenzahl vor. Die Verhandlung wird unterbrochen.

In der Verhandlungspause einigen sich die Rechtsanwälte darauf, dass die beiden Abmahnungen aus der Personalakte entfernt werden, und sich der Lehrer verpflichtet, alle die Dinge in Zukunft zu unterlassen, wegen denen er sich die Abmahnungen eingehandelt hatte. Er bleibt Lehrer auf dem Prüfstand. Die Gerichtskosten werden geteilt. Die Gerichtskosten richten sich nach dem Streitwert, einem Bruttomonatsgehalt des Lehrers: Magere 2700 Euro.
Nach der Verhandlung bietet der Lehrerrechtsanwalt dem Schulleiter an, dass sein Mandant in Zukunft mit reduzierter Stundenzahl arbeitet. Der Lehrer bleibt also im Amt, die Beutelung seiner Schüler wird zeitlich reduziert.
Wal Buchenberg, 7.11.2002