Die
weltweite Kluft zwischen Arm und Reich wächst (Über
die Thesen des Artikels “Global inequality” von Professor Robert
Wade, “Economist” vom
28.04.2001, S. 79 - 82). Jüngste Untersuchungsergebnisse zeigen, dass
die Ungleichheit in der Welt rasch zunimmt. (“New evidence suggests
that global inequality is worsening rapidly.” S. 79). Das Einkommen der Ärmsten der
Armen (unterste 10 % der Einkommensschichtung) ist zwischen 1988 und 1993
um rund ein Viertel gefallen - verglichen mit dem Einkommensdurchschnitt
-, während das Einkommen der Reichsten der Reichen (= oberste 10 % der
Einkommensschichtung) um 8 % gestiegen ist. Das Einkommen der Ärmsten hat
sich damit um 27 % vom Mittelwert nach unten bewegt, das Einkommen der
Reichsten hat sich um 23 % vom Mittelwert weg nach oben
bewegt. (“It
finds, further, that the share of world income going to the poorest l0% of
the world's population fell by over a quarter, whereas the share of the
richest 10% rose by 8%. The richest 10% pulled away from the median, while
the poorest 10% fell away from the median, falling absolutely by a large
amount.” S.
82)
Streit der
Statistiker Man weiß, mit Statistiken
lässt sich (fast) alles beweisen. Auch beim weltweiten Einkommensvergleich
rechnen die Statistiker mit unterschiedlichen Basiszahlen und kommen dann
zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen.
“The answer to what is happening to world income
distribution turns out to depend heavily on whether countries are weighted
by population, and whether income in different countries is measured in
PPP terms or by using actual exchange rates.” S. 80. Es gibt also im groben vier
Verfahren: Man nimmt als Vergleichsgrößen entweder die einzelnen Staaten
(1) oder die Bevölkerungen (2) und man nimmt als Vergleichszahlen entweder
internationale Währungskurse (4) oder die sogenannte “Purchasing Power
Parity” (3). 1)
Dass das Durchschnittseinkommen der Länder der Welt miteinander verglichen
wird ohne Rücksicht auf die
Bevölkerungszahl eines Landes, erscheint auf den ersten Blick als absurd.
(“Most of the inequality in world incomes reflects inequality in
country averages rather than inequality within countries.” S. 80). In
dieser Rechnung zählen die Lebensverhältnisse von 1 Milliarde Chinesen so
viel wie die Lebensverhältnisse von 80 Millionen Deutschen. Trotzdem macht
diese Berechnung Sinn, wenn es um die Leistungsfähigkeit einer
Volkswirtschaft oder um einen “Systemvergleich” geht. Auch in diesem
Ländervergleich hat die Kluft zwischen Reich und Arm in den letzten
Jahrzehnten zugenommen. (“If countries are treated equally (not
weighted by population) …. most studies find that world income
distribution has become more unequal in the past few decades.” S. 80).
Das Wirtschaftswachstum in den reichen OECD-Ländern war vor allem im
letzten Jahrzehnt höher als im Durchschnitt der Entwicklungsländer. Trotz
allen Globalisierungsgeredes sind Reichtum und Armut in der Welt immer
noch national und staatlich verteilt, weil die Mechanismen der Reichtums-
und Armutsproduktion immer noch national bzw. staatlich organisiert
sind. 2) Die zweite Berechnungsmethode gewichtet die Länder nach
ihrer Bevölkerungszahl. Falls das noch kombiniert wird mit einer
Preisberechnung nach PPP (siehe dazu Punkt 3), zeigen die Ergebnisse kaum
Einkommensänderungen. (“If countries are weighted by their populations
… the worlds PPP income distribution over recent decades shows little
change.” S. 80). Teils liegt das an PPP, teils liegt das am großen
Erfolg der chinesischen Wirtschaftspolitik, durch die viele Millionen
Chinesen in ihrem Lebensstandard große Fortschritte gemacht haben. Wer
sich etwas umschaut, kann als eine bei uns sichtbare Folge davon immer
mehr chinesische Touristen in Europa finden.
3)
Das Zauberwort “PPP = Purchasing Power Parity” bezeichnet eine künstlich
berechnete “Kaufkraft-Parität”, die Lebensverhältnisse nicht nach dem
Geldwert in internationalen Umtauschkursen berechnet, sondern nach einem
Warenkorb, dessen Geldwert auf der ganzen Welt gleichgesetzt wird. Das
selbst gebaute Bauernhaus eines chinesischen Bauern zählt dann in etwa
soviel wie ein Eigenheim eines deutschen Ingenieurs im Wert von 200000
Euro, weil beide Eigenheimbesitzer sind. Nach internationalem
Umrechnungskurs hat jedoch das chinesische Bauernhaus, das nur auf
gepachtetem, nicht auf eigenem Boden steht, den Bauern nur rund 10000 Euro
gekostet. Alle Berechnungen, die auf “Kaufkraft-Parität” beruhen,
verniedlichen die Unterschiede in den Lebensverhältnissen. (“When
incomes are compared using PPP calculations, the degree of inequality
shrinks…” S. 80). Trotzdem macht auch diese Berechnungsmethode
einen Sinn: Diese Berechnungsweise geht richtig davon aus, dass der Wert
der Lohnarbeit, das heißt die Reproduktionskosten der Lohnarbeiter, in
unterschiedlichen Ländern unterschiedlich ist. Wenn die Kapitalisten von
Siemens oder VW in China investieren, müssen und dürfen sie das in
Rechnung stellen. Ein deutscher Ingenieur erwartet in Deutschland einen
Jahreslohn von mehr als 50000 Euro, von dem er sich vielleicht ein
Eigenheim ersparen kann. Da die Reproduktionskosten eines chinesischen
Ingenieurs in China weit unter den deutschen Reproduktionskosten liegen,
zahlen deutsche Kapitalisten in China einen Lohn, der den chinesischen
Preis- und Lebensverhältnissen entspricht. Wer das “Kapital” von Marx
studiert hat, wird nichts anderes erwarten. 4) Die vierte
Berechnungsmethode rechnet mit internationalen Währungskursen. (“When
incomes in different
countries are compared using actual exchanges rates, the evidence shows
that world income distribution has become much more unequal over the past
several decades, and the inequality accelerated during the 1980s, whether
countries are treated equally or weighted by population.” S.
82). Mit internationalen Währungskursen ist immer zu rechnen, wenn
Güter und Dienstleistungen untersucht werden, die international
hergestellt und ausgetauscht werden. Das trifft vor allem für Waren und
Kapital zu - auch für Eigentumstitel über Grund und Boden, aber nicht
unbedingt für die Ware Arbeitskraft.
Neueste
Untersuchungen mit statistischen Daten der Weltbank, die 85 % der
Weltbevölkerung abdecken, zeigen nun im Weltmaßstab eine schneller
wachsende Kluft zwischen Arm und Reich als in den USA und Großbritannien
während der 80er Jahre. (“This is a faster rate of increase of
inequality than that experienced within the United States and Britain
during the 1980s.” (S. 80). Das dürfte auch der Hintergrund sein
für die zunehmenden Protestbewegungen in der ganzen Welt, die sich teils
gegen ihre eigenen Regierungen, teils gegen die kapitalistischen
Großunternehmen und ihre Herrschaftsorgane wie G 7- Konferenz, Weltbank,
IMF usw. richten.
Was
sind die Ursachen für die weltweit wachsende Kluft zwischen Arm und
Reich? Der
Herr Professor Wade gibt uns nur die inhaltsleere Antwort: Weil die einen
reicher geworden sind als die anderen: “Why has global inequality
increased? The answer is in four parts: (1)faster economic growth in
developed OECD countries than developing countries as a group; (2) faster
population growth in developing countries than in OECD countries; (3) slow
growth of output in rural China, rural India, and Africa; and (4) rapidly
widening output and income differences between urban China on the one
hand, and rural China and rural India on the other.” (S. 82) Statt den
Lesern einen Grund für die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich zu
geben, gibt uns der Herr Professor die Orte an, wo sich die Kluft
aufgetan hat. Das ist moderne
Wirtschaftswissenschaft!
Die
Welt, in der wir leben, ist die Welt des Kapitalismus. Die Triebkräfte und
Mechanismen, die die Spaltung in viele Arme und wenige Reiche hervorrufen
sind nur die Triebkräfte und Mechanismen des Kapitalismus. Das muss
auch unser Herr Professor indirekt zugeben: “Nobody denies that world
income distribution became vastly more unequal after the industrial
revolution. On this timescale divergence dominates…” (S. 79) Aber
über welche Mechanismen vergrößert der Kapitalismus diese Ungleichheit?
Allgemein gesprochen, indem er die Last der Arbeiten für die Gesellschaft
auf immer mehr Menschen verteilt, die Früchte dieser Arbeit aber in den
Händen Weniger konzentriert. Im Weltmaßstab zeigt sich hier nichts anderes
als in jedem kapitalistischen Land. Allerdings gibt es doch wichtige
Unterschiede. Auf dem Weltmarkt stehen sich nicht wie in einer
nationalen Volkswirtschaft Lohnarbeiter und Kapitalisten gegenüber,
sondern die entwickelten kapitalistischen Unternehmen der Metropolen
streiten mit den rückständigen kapitalistischen Unternehmen der restlichen
Welt um Anteile auf dem Weltmarkt. Und diese Konkurrenz funktioniert im
wesentlichen über den Preis: “The prices of industrial goods
and services exported from high-income countries are increasing faster
than the prices of goods and services exported by low-income countries,
and much faster than the prices of goods and services produced in
low-income countries that do little international trade. These price
trends mean that the majority of the population of poor countries are able
to buy fewer and fewer of the goods and services that enter into the
consumption patterns of rich-country populations.” S. 82 Auch diese
Erscheinung ist auf den ersten Blick überraschend. Die Preisentwicklung
von Waren hängt zunächst von der Entwicklung der Arbeitsproduktivität ab.
Sollte das heißen, dass die Arbeitsproduktivität in den armen Ländern
schneller ansteigt als in den entwickelten Ländern, und deshalb die Preise
für Waren aus rückständigen Länder hinter den Preisen für Waren aus
reichen Ländern zurückbleiben? Die Frage wäre zu klären. Einfluss auf
das Preisniveau haben jedoch auch die jeweiligen Konkurrenzbedingungen der
Anbieter und Nachfrager. Hier sind die Unternehmen der reichen Welt
eindeutig im Vorteil: Wenn Unternehmen aus technisch
rückständigen Ländern Fabrikprodukte in die kapitalistischen Metropolen
exportieren wollen - ob es Textilien sind, Spielzeug, Schiffe oder
Computerchips - sie konkurrieren immer zunächst mit den Industrien dieser
Metropolen um Marktanteile. Sie können also nur über billigere Preise - im
Zweifelsfall durch niedrigere Profitraten - Marktraum erobern. Ist aber
irgendein Land mit seinem Produkt auf den zahlungskräftigen Märkten der
Metropolen erfolgreich, zieht das sofort Nachahmer nach sich. Die
Industrien der kapitalistischen Kernländer ziehen sich zwar vielleicht aus
so einer Branche zurück. Es wachsen aber sofort viele Anbieter aus anderen
Billiglohn-Ländern nach. In allen Branchen, wo Billiglohnländer auf den
Metropolenmärkten erfolgreich sind, treten viele Anbieter auf, die sich
gegenseitig Konkurrenz machen und die Preise niedrig halten. Ganz
anders auf den Marktsektoren, in denen die Industrien der kapitalistischen
Metropolen stark sind wie Spezialmaschinenbau, Chemie, Autobau,
Flugzeugbau, Software etc. In diesen Branchen gibt es jeweils nur wenige
Konkurrenten für die Nachfrage des gesamten Weltmarkts, was automatisch -
auch ohne direkte Preisabsprachen - die Preise hochhält, weil sich hier
die nachfragenden Kunden mehr Konkurrenz machen als die anbietenden
Unternehmen. Dass aber die Unternehmen in den Metropolen auch als
wirkliches Kartell Absprachen treffen gegen ihre rückständigeren
Konkurrenten, bewies die Praxis des Exportverbotes für
Hochtechnologieprodukte gegenüber den Ostblockländern, das zeigt die
Erfahrung aller Weltwirtschaftsgipfel, G-7-Treffen usw. wo die Interessen
der reichen Großkonzerne fast immer als Block auftreten gegen die
Interessen der vielen armen Länder der Welt. Das zeigen auch die hohen
Schutzzölle der EU gegen den Import von Agrargütern aus außereuropäischen
Ländern. Die kapitalistischen Großkonzerne sehen die ganze Welt als ihr
Eigentum und in Unternehmen aus Asien, Afrika und Lateinamerika sehen sie
nur lästige Konkurrenten. Falls aber diese „lästigen Konkurrenten“ wie
in Asien doch mit Erfolg den reichen Großkonzernen Paroli bieten können,
verstärkt sich nur die kapitalistische Durchdringung dieser Länder. Immer
mehr selbständige Kleinproduzenten - Bauern und Handwerker - werden
ruiniert und zu Lohnarbeitern. Ihre Lohnarbeit bietet ihnen bestenfalls
einen Lebensunterhalt, aber keinen Weg zum Reichtum. Als Lohnarbeiter sind
sie vor allem Quelle für fremden Reichtum. Das ist auch der Grund,
warum die Organe der „Weltregierung“ wie Weltbank und IMF über diese
Entwicklung nicht besorgt sind: “It
is remarkable how unconcerned the World Bank, the IMF and other global
organisations are about these trends. The Bank's World Development Report
for 2000 even said that rising income inequality "should not be seen as
negative" if the incomes at the bottom do not fall and the number of
people in poverty falls.” S.
82) Unser Professor Robert Wade macht sich dagegen Sorgen, aber nur,
weil durch diese wachsende Kluft zwischen Arm und Reich in der Welt
vielleicht der Wohlstand in den kapitalistischen Kernländern durch die
Protestbewegungen der Völker (“political instabilities”) und durch
Massenmigration bedroht wird: “The question is how much more unequal
world income distribution can become before the resulting political
instabilities and flows of migrants reach the point of directly harming
the well-being of the citizens of the rich world and the stability of
their states.”(S. 82)
Aus:
www.marx-forum.de. Wal Buchenberg, 30.04.2001 |