Sozialismus mit rätselhaftem Charakter

China nach dem 14. Parteitag (1993)

 

            Das Scheitern des osteuropäischen Sozialismus begann lange vor seinem Zusammenbruch 1989. Der chinesische Sozialismus ist nicht zu­sammengebrochen, wurde aber längst für gescheitert erklärt. Zu recht? Die chinesischen Kommunisten werden auch nach der blutigen Niederschla­gung der Demokratiebewegung von 1989 von der Bevölkerung ertragen, toleriert oder unterstützt. Wieso eigentlich?

            Als die chinesische KP 1949 die Macht eroberte, befand sich die chinesische Gesellschaft auf einem Stand, der sich vielleicht mit dem Nordeuropa um das Jahr 1800 vergleichen lässt: Industriearbeiter machten nur gut 1 Prozent der arbeitenden Bevölkerung aus. Von 10 Kindern im Schulalter erhielt eines eine Schulbildung. Die durch­schnittliche Lebenserwartung betrug nur 30 Jahre.

            Trotzdem entschied sich die siegreiche Kommunistische Partei Chinas 1949 nicht dafür, die Leichtindustrie und damit den Lebensstandard rasch zu entwickeln. Aus Furcht vor äußeren Bedrohungen sollte statt dessen möglichst schnell die Schwerindustrie aufgebaut werden, ohne dadurch die Land­wirtschaft zu ruinieren. Stützte sich die Partei in der Vergangen­heit auf  "Gewehre und Hirse", so sollten es in Zukunft Maschinen, Kanonen und Reis sein.

            Nach der Enteignung der Grundbesitzer und Monopolkapitalisten, nach dem Auskauf der national gesinnten Bourgeoisie und mit der Kon­solidierung der Volkswirtschaft wurde auf dem 8. Parteitag im Jahr 1956 der Klassenkampf in China für im wesentlichen beendet erklärt und die Hauptaufgabe Chinas auf wirtschaftliche und gesellschaft­liche Moder­nisierung gelenkt.

            Der dort verabschiedete Fünfjahrplan wurde jedoch 1958 über den Haufen geworfen und dem ganzen Land der "große Sprung nach vorn" verordnet. Von da an begann ein heftiges Ringen in der Partei um die "richtige Linie": Jeder Liberalisierung und Demokratisierung folgte eine "Klassenkampf-Kampagne", jeder wirtschaftliche Aufschwung ver­führte dazu, die Planziele ins Unermessliche zu steigern und damit die ganze Volkswirtschaft in Disproportionalitäts-Krisen zu stürzen.

<p><></p>

            Synchron zu den wirtschaftlichen Aufschwungsphasen 1957 und  1964 kam jeweils die radikale Linke ans Ruder und verordnete dem Land ein rascheres industrielles Wachstum und den "schnelleren Über­gang zum Kommunismus", was jedes Mal zu einem schweren wirtschaft­lichen Rückschlag führte. Nachdem realistische Politiker das Land in der Anfangszeit der Verstaatlichung und des wirtschaftlichen Wieder­aufbaus geführt hatten, kehrten sie in jedem Krisenjahr wieder an die Macht zurück, um die Volkswirtschaft erneut zu konsolidieren. Anfang der 70er Jahre folgten die politischen Kurswechsel in immer kürzeren Abständen, bis Mitte der siebziger Jahre der politische und wirtschaftliche Enthusiasmus erlahmte.
Zwischen 1966 und 1976 war der Lebensstandard der Bevölkerung landesweit gesunken. Die Chinesen verloren das Vertrauen in die kommunistische Führung, der chinesische Sozia­lismus befand sich in einer Existenzkrise.

            Zur selben Zeit behauptete Charles Bettelheim in seinem enthu­siastischen Reisebericht über China: "Das Absterben der Warenkatego­rie und des Tauschwertes und die wachsende Bedeutung des Gebrauchs­wertes sind nicht direkt gekoppelt an Veränderungen im Entwicklungs­niveau der Produktivkräfte, vielmehr an die Fortführung des politi­schen und ideologischen Klassenkampfes." (Bettelheim, Mac­ciocchi u.a.: "China 1972", S. 49)

            Der verlustreiche politische und wirtschaftliche Schaukelkurs zwischen dem Wünschbaren und dem Machbaren wurde 1976 durch die Ent­machtung der maoistischen Linken und durch eine politische Neube­stimmung 1978 beendet, die sich auf die Tradition des 8. Parteitages von 1956 berief. Seither gab es noch Schwankun­gen, aber keine extre­men Ausschläge mehr.

 

Sozialistische Rückständigkeit?
            Chinas Bruttoproduktionswert weist zwar von 1952 bis 1990 eine beachtliche Steigerung auf, aber gleichzeitig wurde die Zahl der Beschäftigten in der Industrie um 877 Prozent ausgeweitet. Der Lö­wenanteil des Wirtschaftswachstums stammt also aus extensivem Wachs­tum, der Vermehrung der Pro­duktionsanlagen und der Arbeiter. Die Steigerung der Arbeitsproduktivität, das intensive Wachstum, bezif­fert das Statistische Jahrbuch der VR China für den Zeitraum zwi­schen 1952 bis 1990 auf plus 165,5 Prozent.

            Trotz des niedrigen Ausgangsniveaus der chinesischen Wirtschaft lag ihre Produktivitätssteigerung noch unter der wichtiger kapita­listischer Länder: "1955 betrug das chinesische Bruttosozialprodukt 4,7 Prozent des weltweiten Sozialprodukts, bis 1980 sank der chine­sische Anteil auf 2,5 Prozent. 1980 erreichte das chinesische BSP ein Viertel des japanischen, fünf Jahre später lag es nur noch bei einem Fünftel. 1960 übertraf das Bruttosozialprodukt der USA das chinesische um 460 Milliarden US-Dollar. 1985 erreichte die Diffe­renz schon 3.680 Milliarden" (China Daily, halbamtliche englisch­spra­chige Tageszeitung, vom 20.5.1988).

            Das hat sich in jüngerer Zeit kaum geändert: "Die höhere Wachs­tumsrate und die gestiegene Wirtschaftskraft Chinas im Zeitraum 1979-1988 wurden größtenteils durch extensives Wachstum erreicht, durch Ausdehnung der Produktionsanlagen. Hinter der hohen Wachs­tumsrate verbargen sich fallende Wirtschaftlichkeit, sinkende Ergeb­nisse pro 100 Yuan Investition." (China Daily, 4.5.1990)

            Das sozialistische China wirtschaftet nicht so effektiv wie der kapitalistische Westen und nicht so sparsam: "Der Energieverbrauch, der nötig ist, um einen Wert von einem Dollar zu produzieren ist in China fast 5 mal so hoch wie in Frankreich, 4,43 mal höher als in Japan und selbst noch 1,65 mal höher als in Indien." (China Daily, 29.8.1989)

            Der marxistischen Theorie zufolge ist der Sozialismus eine Übergangsgesellschaft, die auf einer hohen Stufe der Produktivität die Ökonomie der Zeit verwirklicht, also ebenso sparsam wie effektiv wirtschaftet, und damit die Grundlage dafür schafft, dass die Tren­nung von Hand- und Kopfarbeit und die Trennung von Stadt und Land wie die Herrschaft von Menschen über Menschen verschwindet.

            "Gemeinschaftliche Produktion vorausgesetzt, bleibt die Zeitbe­stimmung natürlich wesentlich... Wie bei einem einzelnen Individuum, hängt die Allseitigkeit der Entwicklung einer Gesellschaft, ihres Genusses und ihrer Tätigkeit von Zeitersparnis ab. Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf." (K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 89)

            Vereinfachend ausgedrückt arbeitet der entwickelte Kapitalismus effektiv auf Betriebsebene ohne viel Rücksicht auf die Gesamtgesell­schaft, während die zentrale Verwaltungswirtschaft auf rückständiger Grund­lage zwar auf volkswirtschaftlicher Ebene relativ ökonomisch wirt­schaftet, aber kaum innerhalb des Einzelbetriebs.

            So gilt z.B. in China auch heute noch die Sechs-Tage-Woche mit 48 Arbeitsstunden. Aber in vielen großen Betrieben liegt die effek­tive Arbeitszeit pro Tag deutlich unter vier Stunden (China Daily, 21.9.1988).

            Was die Ökonomie der Zeit betrifft, die sparsame Verwendung von Naturstoff, die gesellschaftliche Stellung der Frauen, den Bildungs­stand der Bevölkerung und die Beseitigung von Klassenunterschieden (einmal abgesehen von der Handvoll Großkapitalisten), ist das kapi­talistische Europa näher am Kommunismus als das sozialistische China.

 

Anderes Ziel oder anderer Weg?
            Gegenüber den Erfindern des "realen Sozialismus", die gute mar­xistische Begrifflichkeiten so lange verbogen, bis sie auf schlechte Wirklichkeiten passten, ist es ein theoretischer Fortschritt, wenn die chinesische KP auf ihrem 14. Parteitag rät: "Wir sollen uns nicht durch den abstrakten Streit über die 'Familiennamen Sozialis­mus' und 'Kapitalismus' das eigene Denken behindern und Hände wie Füße binden lassen." (Bericht an den 14. Parteitag, eigene Über­setzung)

            Damit wird nicht versucht, Marx zu verbessern oder zu wider­legen, sondern eingestanden, dass seine Theorie vom Sozialismus als fortgeschrittenere Produktionsweise nicht auf das rückständige China passt. Das korrigiert Marx nicht mehr als Newton korrigiert wurde, sobald man feststellte, dass seine Gesetze der Mechanik nicht für den atomaren Bereich gelten.

            Die Ziele der heutigen KP sind noch dieselben Ziele wie zur Zeit von Mao Zedong: "Das unterentwickelte sozialistische China... in ein reiches, starkes, demokratisches, zivilisiertes, sozialisti­sches und modernes Land zu verwandeln" (Parteitagsbericht). Solange ernsthafte Aussichten bestehen, dass dieses Ziel in einem vernünf­tigen Zeitraum verwirklicht werden kann, solange wird die chinesi­sche KP Regierungspartei bleiben.

            Aber bei Erreichen dieses Zieles hätte China erst das Niveau europäisch-kapitalistischer Länder. Es gäbe immer noch Kapitalisten (für Hongkong wurde z.B. für 50 Jahre die Weiterexistenz des Kapita­lismus garantiert), aber die Kapitalisten wären nicht die herrschen­de Klasse.

            Nach 40 Jahren hauptsächlich extensivem Wachstum ist China sei­nem Ziel nicht entscheidend näher gekommen. Erst wenn auf gesamt­gesellschaftlicher wie auf betrieblicher Ebene ökonomisch gewirt­schaftet wird, übertrifft eine Volkswirtschaft die Leistungsfähig­keit des Kapitalismus. In China ist daher "der Übergang der gesamten Volkswirtschaft vom extensiven zum intensiven Wirtschaften" nötig. Für diese Aufgabe reicht kein "Flickwerk an Nebensächlichkeiten des bisherigen Wirtschaftsystems", man braucht "eine grundlegende Umwandlung" (Parteitagsbericht).

            Auch bei Marx ist der Sozialismus als Übergangsgesellschaft eine Mischform von Kapitalismus und Kommunismus. Das jeweilige Mi­schungsverhältnis muss jedoch von den konkreten historischen Umstän­den bestimmt sein. Die chinesische KP nennt ihre Mixtur "Sozialismus mit chinesischem Charakter" oder "sozialistische Marktwirtschaft" (Parteitagsbericht). Das ist keine bundesdeutsche "soziale Markt­wirtschaft".
In China soll eine Eigentumsstruktur bestehen bleiben, "in der das öffentliche Eigentum, das aus der gesamtstaatlichen und der kollektiven Wirtschaft besteht, das Hauptelement bildet, das durch Privat- und Einzelwirtschaft und Auslandsfirmen ergänzt wird" (Parteitagsbericht). Zwar kennt Deutschland staatliches Eigentum, aber ihm werden privatwirtschaftliche Bedingungen aufgeherrscht. Zwar gibt es dort gesamtstaatliche Planung, aber sie ist auf die Verwertungsbedingungen des Kapitals ausgerichtet.

            "Plan und Markt sind beides wirtschaftliche Steuerungsmittel" (Parteitagsbericht). "In welchem Umfang, in welchem Grad und in wel­cher Form die beiden Steuerungsmittel Plan und Markt miteinander verbunden sind, kann zu unterschiedlichen Zeiten, in verschiedenen Bereichen und Gebieten nicht gleich sein" (Parteitagsbericht).

            Generell gesprochen soll die Mikro-Ebene der Wirtschaft, alle chinesischen Betriebe, ob staatlich oder privat, den Marktkräften ausgesetzt werden, damit dort Kapital, Naturstoff und Arbeitskraft rationell eingesetzt wird. "Das ist das zentrale Kettenglied bei der Errichtung des Systems der sozialistischen Marktwirtschaft und der Schlüssel für die Konsolidierung des Sozialismus und für die Entfal­tung der Überlegenheit des Sozialismus" (Parteitagsbericht).

            Die Planung auf Makro- oder gesamtstaatlicher Ebene soll erhal­ten bleiben, aber sich im wesentlichen auf indirekte Globalsteuerung beschränken, also nach Möglichkeit ebenfalls Marktkräfte nutzen.

            In der Anfangsphase nach 1949 hatte es in China ein erfolg­reiches Zusammenwirken von staatlichem und privatem Sektor, von Markt und Plan gegeben. In den Jahren seit 1978 entstand wieder ein privater Sektor, aber er blieb relativ strikt vom staatlichen Sektor getrennt. Ein unkompliziertes Zusammenwirken beider Bereiche und von Markt- und Plansteuerung steht nicht zu erwarten. In meinem nächsten Artikel komme ich konkreter auf diese Schwierigkeit zu­rück.

 

Wal Buchenberg, Beijing, 05.02.93