China
schweigt
Die chinesische Regierung hatte zwar die „terroristischen
Attacken auf die USA“ in schärfsten Worten verurteilt, aber geschwiegen zu
US-Angriffen auf Afghanistan. Die Linke in Europa mag deswegen von China
enttäuscht sein. Aber hat China nicht eine lange Tradition der
Enttäuschungen für Außenstehende?
1. China
enttäuscht
Die Sowjetkommunisten hatten in langen Jahren von der chinesischen
Revolution eine neue Welle der Weltrevolution erhofft oder mindestens eine
Machtzunahme Moskaus und wurden Jahr für Jahr enttäuscht. Der
Parteienfrust zwischen Moskau und Peking eskalierte zum offenen Bruch nach
dem Wortgefecht zwischen Ulbricht und der chinesischen Delegation am 18.
Januar 1963 auf dem 6. Parteitag der SED.
Auch von den Illusionen der neuen kommunistischen Linken in Europa
seit 1968, dass die chinesische Kulturrevolution die klassenlose
Gesellschaft auf einen Schlag und auf Ackerboden errichten werde, blieben
nur Enttäuschungen übrig.
Die China-Hoffnungen der Kapitalisten wurden nicht weniger
frustriert als die der Kommunisten.
Nach dem durch britische Militärintervention erzwungenen Vertrag
von Nanjing, der 1842 Kanton, Shanghai und drei weitere Hafenstädte für
britische Waren öffnete,
hatte sich der britische Bevollmächtigte vor seinen Landsleuten
gebrüstet: Er habe ihnen einen Markt erschlossen, der so riesig sei,
„dass alle Textilfabriken Lancashires nicht ausreichten, um eine
einzige ihrer Provinzen mit Strümpfen zu versorgen“. (zit. n. J.
Osterhammel, China und die Weltgesellschaft, 1989, 171.) Spielte es eine
Rolle, dass die Chinesen allenfalls Wickelgamaschen und keine westlichen
Strümpfe trugen?
Man soll nicht glauben, dass die Kapitalisten seitdem dazugelernt
hätten. Der „Economist“ berichtete 1998 über die China-Träume von Eastman
Kodak: „Jedes Jahr verknipst der chinesische Durchschnittshaushalt
weniger als eine halbe Filmrolle für Familienfotos. Wenn er nur dazu
gebracht werden könnte, eine ganze Filmrolle zu verknipsen, dann würde das
der Weltnachfrage nach Filmen noch einmal die Größe des gesamten
US-amerikanischen Marktes hinzufügen.“ (Economist,
28.3.1998).
Ausländisches Kapital floss in den letzten 20 Jahren in breiten
Strömen nach China, aber bisher scheffelten nur wenige ausländische Firmen
die erwarteten Profite. Über die Hälfte der ausländischen Firmen in China
sind nach einer Untersuchung des Economist mit ihrem China-Geschäft
unzufrieden (Economist, 21.7. 1997) Schon 1879 hatte sich der Britische
Konsul in Thailand beschwert: „Unter den in Asien herrschenden
Geschäftsbedingungen können Europäer nicht erfolgreich gegen die
verschlagenen Chinesen konkurrieren.“ (zit. n. Economist,
27.11.1993).
Die US-Regierung hatte wohl ähnliche Sorgen vor der Aufnahme Chinas
in die Welthandelsorganisation. Als China im Jahr 1986 seinen
Aufnahmeantrag - damals noch in das GATT - stellte, erwartete es, dass es
schnell und ohne Vorbehalt aufgenommen würde. Ein hinterwäldlerisches Land
wie die Mongolei wurde ohne Probleme in die Welthandelsorganisation
aufgenommen, gegen die Aufnahme Chinas errichteten die USA immer neue
Hürden. Scheinbar traten dabei die USA für abstrakte Wirtschaftsprinzipien
ein, tatsächlich fürchteten sie die chinesische Geschäftstüchtigkeit. Die
USA hatten 1985 kein Handelsdefizit mit China, inzwischen hat das
US-Defizit im Chinahandel schon das Defizit mit Japan
übertroffen.
Kapitalisten wie Kommunisten wurden immer wieder von China
enttäuscht, doch damit ist die Liste der China-Frustrierten längst nicht
vollständig: Was von der China-Euphorie der Alt-68er unter braven
Demokraten noch übrig war, schlug spätestens durch die blutige
Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung in China-Hass um. Und
traditionelle Naturfreunde und Ökologen, die zunächst begeistert waren von
der arbeitsintensiven, aber schadstofffreien Landwirtschaft in China,
reihten sich in den Chor der China-Kritiker, seitdem China
Düngemittelfabriken und Staudämme baut. Ist China von allen guten Geistern
verlassen?
2.1 China schweigt und lässt andere
reden
Dass China die Attentate in den USA mit scharfen Worten verdammte,
war für niemand eine Überraschung. Als jedoch Bush, Putin und die
asiatischen Regierungschefs zum turnusmäßigen APEC-Treffen Ende Oktober in
Shanghai zusammenkamen, verurteilte das gemeinsame Schlusskommunique zwar
den Terrorangriff auf die USA, erwähnte aber mit keinem Wort den Krieg der
USA gegen Afghanistan. Hieß dieses Schweigen Zustimmung? Über das spätere
ASEAN-Treffen schrieb die chinesische Presse: „Like the Asia-Pacific Economic
Cooperation Forum leaders, ASEAN-leaders were also silent on the issue of
the current U.S.-led war on Afghanistan...“ (Peoples Daily, 5.11.2001). In
chinesischen Augen bedeutete dieses Schweigen keine Zustimmung, sondern
Kritik von denen, die sich laute Kritik nicht leisten können oder nicht
leisten wollen.
Falls die chinesische Regierung ihre politische Auffassung zu
Weltkrisenherden äußern will, in die die USA verwickelt sind, zitiert sie
meist unkommentiert die Äußerungen anderer. So wurde zum US-Angriff
auf Afghanistan die Regierung
von Katar zitiert: Die US-Angriffe seinen „nicht akzeptabel“.
(Peoples Daily, 24.10.2001). Um zu erklären, dass China diesen Krieg
nicht unterstützt, wurde die Stellungnahme der iranische Regierung
benutzt: „Die USA solle vom Iran keinerlei Unterstützung im Krieg gegen
Afghanistan erwarten.“ (Peoples Daily, 31.10. 2001). Am 25. 10.
2001 berief sich die chinesische Presse auf den ägyptischen Regierungschef
Mubarak, der ein baldiges Ende der US-Bombenangriffe auf Afghanistan
gefordert hatte. Und am 7.11. 2001 brachte ‚Peoples Daily’ die
Forderungen des pakistanischen Regierungschefs nach einem sofortigen
US-Bombenstopp in Afghanistan.
2.2 China schweigt und lässt
Fakten reden
Falls kein ausländischer Regierungschef vorgeschoben werden kann,
werden bestimmte Aspekte der Geschehnisse herausgegriffen und damit
indirekt die Sympathie Chinas erklärt. So berichtete z.B. ein Artikel der
Peoples Daily vom 14.10. 2001 nach dem Beginn des US-Bombardements:
„Hard Life of Afghan Refugees.“
Ausführlich wurde auch in
chinesischen Zeitungen von den Antikriegsdemonstrationen in Europa
berichtet (z.B. Peoples Daily, 12.10.2001). Über die Entsendung
deutscher Truppen nach Afghanistan hieß es nur lapidar: Diese Maßnahme
rücke Deutschland „in die vorderste Kriegsfront der
US-Verbündeten“. (Peoples Daily, 7.11.2001).
Falls China doch nicht mehr schweigt, dann beruft es sich nur auf
allgemeine Prinzipien ohne Ross und Reiter zu nennen: In der
Presseerklärung der chinesischen Regierung vom 10.11. 2001 hieß
es: „China bedauert die zivilen Opfer der britischen und
amerikanischen Luftangriffe auf Afghanistan. China hat immer betont, dass
die antiterroristischen Maßnahmen sich auf spezifische Ziele konzentrieren
sollten, dass unschuldige Menschen geschont werden und dass der Krieg
nicht auf andere Länder übergreifen soll. China ist der Auffassung,
dass der Kampf gegen den Terrorismus effektiver ist, wenn diese Prinzipien
beachtet werden, und China hofft, dass diese Prinzipien ohne Abstriche
verwirklicht werden.“ Niemals würde China erklären: Die USA verletzen
diese Prinzipien - Die USA nehmen keine Rücksicht auf zivile Opfer - Die
USA wollen den Krieg auf andere Länder ausweiten.
Schon immer hatte China betont, dass es gegen Großmachtpolitik ist.
Aber seit seiner Öffnungspolitik hat China nie Namen genannt und
ausgesprochen: Die USA oder ein anderes Land betreibe
Großmachtpolitik.
Im Rückblick auf das Jahr 2001 hieß es in China Daily vom
15.11.2001: „China war immer gegen jeden terroristischen Akt und war
gegen Vorherrschafts- und Großmachtpolitik in jeder Form in
internationalen Beziehungen. ... China wird niemals an einem Wettrüsten
teilnehmen. Schon in den 70ern hat China feierlich erklärt, dass es zu
keiner Zeit nach einer Vorherrschaftsstellung streben werde. Man hat allen
Grund zu glauben, dass China - egal wie entwickelt es sein wird - niemals
eine Gefahr für ein anderes Land darstellt.“
Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Der vorausfliegende Vogel wird
zuerst geschossen.“ Die chinesische Regierung vermeidet in ihrer
Außenpolitik, der „vorausfliegende Vogel“ zu sein. China geht jeder
Konfrontationen mit den USA aus dem Weg, wenn nicht vitale chinesische
Interessen berührt sind. China hat immer deutlich gemacht, dass es seine
vitalen nationalen Interessen, z.B. in Tibet und Taiwan, auch mit
militärischen Mitteln durchsetzen wird. China scheut nicht den Konflikt
mit den USA, wenn ein amerikanisches Spionageflugzeuge seinen Luftraum
verletzt oder wenn durch das geplante amerikanische Raketenabwehrsystem
u.a. die Schlagkraft der chinesischen Raketenwaffen in Frage gestellt
wird. Aber gleichzeitig akzeptiert China, dass die USA als Supermacht die
Vorherrschaft über die ganze nichtchinesische Welt ausüben. China stellt
sich dem globalen Polizisten Amerika in seiner Weltpolitik nicht in den
Weg - trotz aller abstrakter und verbaler Verurteilungen von Hegemonismus
und Großmachtpolitik. Wer anderes von China erwartet, muss notwendig
enttäuscht werden.
Die chinesische Regierung will um jeden Preis einen „Kalten Krieg“
mit den USA vermeiden, weil sie weiß: China würde diesen Kalten Krieg noch
rascher verlieren als die Sowjetunion ihn verloren hat. Wer will, kann das
eine Vogel-Strauß-Politik nennen. Ich denke, es ist eine kluge Politik der
friedlichen Entwicklung Chinas in einer Welt, in der China wenig Freunde
hat. Wal Buchenberg 20.11.2001
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