Karl Heinz Roth
Die Gewerkschaften kapitulierten kampflos vor Hitler
Am 2. Mai 1933
erlebte die deutsche Arbeiterbewegung die folgenreichste Demütigung ihrer
Geschichte. Stoßtrupps eines faschistischen »Aktionskomitees zum Schutze
der deutschen Arbeit« besetzten die Gewerkschaftshäuser und die Filialen
der Arbeiterbank. Sie nahmen die leitenden Funktionäre des Allgemeinen
Deutschen Gewerkschaftsbunds (ADGB), des Allgemeinen freien
Angestellten-Bunds (AfA-Bund), der Einzelverbände und der
Bezirksausschüsse in »Schutzhaft«. Sie brachten das Eigentum der
Dachverbände unter ihre Gewalt und ernannten einen Teil des »Führerkorps«
der Nationalsozialistischen Betriebszellen-Organisation (NSBO) zu
»Kommissarischen Leitern«. Dies geschah einen Tag nach den
Massenaufmärschen zum 1. Mai, dem neu proklamierten »nationalen Feiertag
der deutschen Arbeit«. Die Gewerkschaftsspitzen hatten ihre Mitglieder zur
»festlichen« Teilnahme aufgerufen. Sie hatten sich zur Einordnung in die
»Volksgemeinschaft der Deutschen« bekannt und die Beflaggung der
Gewerkschaftshäuser mit der Reichsflagge Schwarz-Weiß-Rot angeordnet. So
konnte die Nazi-Führung mit den Gewerkschaften ein zynisches Spiel
treiben. Zuerst ließ sie sich von ihnen das wichtigste politische Symbol
der Arbeiterbewegung, den 1. Mai, als Morgengabe übereignen, und sah zu,
wie sich die Gewerkschaften in einer schwarz-weiß-roten Flaggenparade von
den Farben der Republik verabschiedeten. Einen Tag später holte sie dann
zum Schlag aus, um die Ruine zu schleifen.
Wie hatte es zu dieser
Selbstpreisgabe und Zerschlagung der Gewerkschaftsbewegung kommen können?
Diese Frage hat die Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, aber auch uns
Historiker, jahrzehntelang aufgewühlt. In der Nachkriegszeit zunächst
beschwiegen, wurde das Trauma des 1. und 2. Mai 1933 zu einem Objekt
heftiger Kontroversen und Schuldzuweisungen. Heute, 70 Jahre danach,
können wir mit diesen Ereignissen nüchtern und distanziert umgehen. Dabei
können wir auf wichtige neue Quellenfunde und umfangreiche historische
Forschungen zurückgreifen. Auf dieser Grundlage sollte es dann auch
möglich sein, nach Bezügen zur Gegenwart zu fragen.
Unmittelbare Anlässe Für die Gewaltaktion des 2.
Mai 1933 gab es ein Bündel auslösender Faktoren. Es handelte sich erstens
um eine Wiederbesetzung: Seit Anfang März 1933 waren die
Gewerkschaftshäuser und die Büros der Einzelverbände immer wieder
gestürmt, geplündert und beschlagnahmt worden. Zeitweilig befanden sich
über 250 gewerkschaftliche Einrichtungen unter der Bewachung von
SA-Kommandos und der Herrschaft von Kommissaren der NSBO. Der
gewerkschaftliche Alltagsbetrieb war weitgehend lahmgelegt. Auch die
Beziehungen zu den ebenfalls »wild« und seit dem 4. April mit
gesetzesförmiger Scheinlegitimation »gesäuberten« Betriebsvertretungen
waren gekappt. Irgendwann mußten diese Gewaltaktionen der faschistischen
Basis, die ja nur der ausufernde Teil eines einseitig gegen die
Arbeiterlinke entfesselten Bürgerkriegs waren, beendet werden, indem man
sich an ihre Spitze stellte.
Zweitens versuchte die Leitung der
NSBO, die Gewaltexzesse für eigene Interessen zu nutzen: Für die Gründung
einer faschistischen Einheitsgewerkschaft unter der Regie eines
»Reichskommissars für die Gewerkschaften«. Dabei wollte die NSBO-Leitung
die Führungspositionen übernehmen, die übrigen Richtungsgewerkschaften in
den ADGB und den AfA-Bund integrieren und die Arbeiter und Angestellten in
zwei großen Einheitsverbänden zusammenfassen, um sie als mächtige
tariffähige Syndikate in die »nationale Revolution« einzubringen. Dies
aber lag keineswegs im mittelfristigen Interesse der Diktatur, und deshalb
war der 2. Mai auch ein erster Akt der Zähmung der
faschistisch-syndikalistischen Basis: Leiter des »Aktionskomitees« war
Robert Ley, der Reichsorganisationsleiter der NSDAP, und nicht etwa
ein NSBO-Führer. Wenige Tage später wurde Ley denn auch durch eine windige
staatsanwaltschaftliche Verfügung die Treuhänderschaft über das
Gewerkschaftseigentum übertragen – und nicht etwa Walter Schuhmann, dem
ADGB-Kommissar, oder Carl Peppler, dem Kommissar des AfA-Bunds.
Für die Entscheidung zum Losschlagen war jedoch drittens
ausschlaggebend, daß die Gewerkschaftsleitungen alle Widerstandshandlungen
gegen den SA- und NSBO-Terror verboten hatten. Sie hatten sich statt
dessen auf das Schreiben von Beschwerdebriefen beschränkt, ihre
Bereitschaft zur Einordnung in die neuen Verhältnisse signalisiert, einen
»Führerkreis« zum »nationalen« Zusammenschluß aller
Gewerkschaftsrichtungen gegründet, ihrerseits die Ernennung eines
»Reichskommissars für die Gewerkschaften« vorgeschlagen und ein
Arrangement mit der NSBO-Leitung versucht. Die aber fürchtete um den mit
dem Zugriff auf die einheitsgewerkschaftlichen Führungspositionen
verbundenen sozialen Aufstieg, während sich die NSDAP-Spitze schon im
Frühjahr 1933 auf ein strategisches Bündnis mit der Reichswehr und der
Schwerindustrie festgelegt hatte. In diesem Bündnis war – im Gegensatz zum
faschistischen Italien – für wie auch immer geartete faschistische
Gewerkschaftsexperimente kein Platz. Es lag daher nahe, zusammen mit den
eigenen Gewerkschaftsaspiranten die alten Gewerkschaftsstrukturen zu
beseitigen, um dann den eigenen völkisch-faschistischen
Gewerkschaftsflügel nach gemeinsam getaner Arbeit ebenfalls ins Abseits zu
schieben. Und da es keinerlei Widerstand gab, wollte man die günstige
Gelegenheit zum Losschlagen nicht verstreichen lassen.
Die
Hintergründe des 2. Mai Die Weltwirtschaftskrise traf die deutsche
Gewerkschaftsbewegung in einer Situation, in der sie im Kontext des
Aufbaus des Weimarer Sozialstaats auf eine Programmatik festgelegt war,
die von einem krisenfreien »organisierten Kapitalismus« ausging. Nun
präsentierte ihr die Wirklichkeit in einem nie gekannten Ausmaß das
Gegenteil. Produktion, Kreditwesen und Außenhandel brachen weitgehend
zusammen. Das Sozialprodukt verringerte sich innerhalb von drei Jahren um
40 Prozent. Ein Drittel der lohnabhängig Beschäftigten wurde auf die
Straße geworfen, ein weiteres Drittel mußte Kurzarbeit und andere
ungesicherte Arbeitsverhältnisse in Kauf nehmen. Es war eine Spirale nach
unten, in der die auf einen krisenfreien Kapitalismus gegründete
Integrationsstrategie der Gewerkschaften wie ein Kartenhaus zusammenbrach.
Die Krise wurde durch die Deflationspolitik der Präsidialkabinette
verschärft. Mit ihrem rigorosen Lohn- und Preisabbau und einer
kompromißlosen Sanierung der öffentlichen Haushalte auf Kosten der
Unterklassen setzten Brüning und Papen ausschließlich die Interessen der
Wirtschaft durch, die sie gleichzeitig mit einer aggressiven Außenpolitik
verbanden. In Gestalt von »Notverordnungen« praktizierten sie eine
kompromißlose Umverteilung von unten nach oben: Die durch den Abzug der
Auslandskredite geleerten Kapitalfonds sollten wieder aufgefüllt werden.
Mit Hilfe der Lohn- und Preissenkungen wollte man den Außenhandel
ankurbeln, statt wie andere Länder die Währung abzuwerten, denn eine
»starke Reichsmark« verringerte gleichzeitig die Auslandsschulden. Darüber
hinaus wurde die Massenverelendung als »Visitenkarte« benutzt, um endlich
die Reparationsverpflichtungen loszuwerden.
Die Folge war ein
katastrophaler arbeits- und sozialpolitischer Kahlschlag, der in der Zeit
vom Juli 1930 bis September 1932 durch ein knappes Dutzend Notverordnungen
durchgesetzt wurde und zur fast völligen Demontage des noch im Aufbau
befindlichen sozialen Sicherungssystems führte. Die Beschäftigten mußten
Reallohnkürzungen um zehn bis 15 Prozent und in Gestalt der
Zwangsschlichtung die Beseitigung der Tarifautonomie hinnehmen. Noch
härter traf es die Erwerbslosen, deren Bezüge schrittweise auf
Fürsorgeniveau gesenkt wurden, denn die gleichzeitige Verkürzung der
Bezugszeiten von ursprünglich 26 Wochen Arbeitslosenunterstützung auf
zuletzt sechs Wochen im Juni 1932 brachte sie über den Zwischenschritt der
Krisenfürsorge in den Status eines gedemütigten kommunalen
Almosenempfängers. Darüber hinaus waren sie gemeinsam mit den noch
Beschäftigten Opfer rigoroser Kürzungsmaßnahmen in der Krankenversicherung
und in allen Sparten der Sozialrenten.
Am schlimmsten aber erging
es allen jenen proletarischen Gesellschaftsgruppen, die nicht zum Kern der
Arbeiterklasse gezählt wurden: den landwirtschaftlichen Saisonarbeitern,
den verheirateten Arbeiterinnen, den Heimarbeitern und den Jugendlichen
unter 21 Jahren. Sie alle hatten schon vor Beginn der Weltwirtschaftskrise
keinen Anspruch auf Krisenfürsorge, die Vorstufe der heutigen
Arbeitslosenhilfe. Zwischen Juli 1930 und Juni 1931 wurden sie alle in
mehreren Schritten aus den sozialstaatlichen Auffangmechanismen
ausgeschlossen. In dieser Hinsicht leistete das Brüning-Kabinett mit
seiner Notverordnung vom 5. Juni 1931 ganze Arbeit und trug entscheidend
zur weiteren sozialen Polarisierung des Proletariats bei.
Die
freien Gewerkschaften fanden keine Antwort auf diese Herausforderung. Sie
waren nicht in der Lage, ihr statisches Integrationsdenken zu überwinden.
Sie desavouierten vielmehr die breiten betrieblichen Abwehrkämpfe in der
zweiten Hälfte des Jahrs 1930 (Streiks im Mansfelder Kupferbergbau
Juni/Juli, Berliner Metallarbeiterstreik Oktober, Streiks der
Ruhrbergarbeiter im Dezember 1930), indem sie zur Durchsetzung der
lohnsenkenden Schlichtersprüche beitrugen, und entfremdeten sich so vom
aktiven Teil ihres Mitgliederkerns. Zusätzlich schwenkten sie auf den
Tolerierungskurs der SPD gegenüber dem Präsidialkabinett Brüning ein und
banden sich so die Hände gegenüber dem diktatorischen Regime der
Notverordnungen.
Auf diese unbewegliche Haltung folgte ein fataler
Anpassungskurs. Die historische Forschung hat die Etappen dieses
Kurswechsels inzwischen weitgehend aufgeklärt. Nach dem Sturz des
Kabinetts Brüning Ende Mai 1932 wandelte sich die passive
Tolerierungspolitik zum aktiven Mitgestaltungswillen am »nationalen
Aufbruch«, an seinen Projekten zur »Wehrertüchtigung« der marginalisierten
jugendlichen Erwerbslosen und an seinen Arbeitsbeschaffungsprogrammen, die
mit aktiver Konjunkturpolitik nichts mehr zu tun hatten. Dieser
Kurswechsel wurde auch nach dem Scheitern des »Querfront«-Konzepts des
Generals und Reichskanzlers Kurt von Schleicher Ende Januar 1933 weiter
verfolgt. Zuletzt setzte man auf eine einheitsgewerkschaftliche Koalition
mit der NSBO, aber auch auf eine Anbiederung an die NSDAP in ihrer
Gesamtheit. Als Walther Pahl, einer der Referenten des
ADGB-Bundesvorstands, Ende April 1933 in seinem ominösen Aufsatz zum 1.
Mai dem »nationalen Sozialismus« huldigte, erledigte er nicht nur einen
Vorstandsauftrag, sondern handelte auch im Interesse seiner akademisch
qualifizierten Sekretärskollegen. Er sandte das Manuskript vor der
Veröffentlichung an Rudolf Diels, den ersten Leiter des Berliner
Gestapoamts, als Hinweis auf »die Haltung eines großen Teils unserer
jüngeren Generation«, aber auch mit der Bitte um Hilfe bei der
Kontaktaufnahme mit »einigen Herren der NSDAP«. Einigen wissenschaftlichen
Sekretären des ADGB-Bundesvorstands gelangen dank ihres Expertenwissens
teilweise bemerkenswerte Karrieren innerhalb der zweiten und dritten
Garnituren der NS-Diktatur.
Was aber geschah mit der
Arbeiterklasse? Der Krisenkurs der Präsidialkabinette führte zu einer
extremen sozialen Segmentierung und Polarisierung. Obwohl auch sie einen
erheblichen Tribut an die Deflationspolitik zu entrichten hatten, wurden
die weiterbeschäftigten großindustriellen Arbeiterkerne von den
Erwerbslosen und den gänzlich Ausgegrenzten, insbesondere den
Jugendlichen, als privilegierte »Arbeitsplatzbesitzer« wahrgenommen. Und
da die politisch-gewerkschaftlichen Traditionsverbände dieses
vollbeschäftigten Drittels durch ihre Passivität den Eindruck erweckten,
als ob sie das verschärfte Krisenspiel mitmachten, wurden sie von immer
mehr Betroffenen der Massenverelendung nicht mehr als Teil einer
übergreifenden kollektiven Repräsentation proletarischer Interessen
wahrgenommen.
Die politischen Folgen ließen nicht lange auf sich
warten. Ein Teil der Desillusionierten wanderte ins kommunistische Lager
ab, dessen Führungskader das politische Desaster durch eine mit irrealen
Revolutionserwartungen begründete vorrangige Frontstellung gegen die
freigewerkschaftlich-sozialdemokratische Arbeiterbewegung und die
Unterschätzung der faschistischen Bedrohung noch zusätzlich verschärften.
Vollends katastrophal aber wirkte sich die Abwanderung eines erheblichen
Teils der jugendlichen Arbeitslosen in die völkisch-faschistischen
Massenorganisationen aus. Hier wurde den am Ende einer Kette
demoralisierender Gelegenheitsbeschäftigungen im sozialen Nichts
Gelandeten ein neuer Habitus angeboten. Sie erhielten ein neues Zeitgefüge
und erlebten in den Kampfbünden ein ritualisiertes Gemeinschaftsgefühl.
Vor allem aber schien ihre aus den oft mehrjährigen sozialen Frustrationen
gespeiste Aggressivität und Gewaltbereitschaft einen neuen sozialen Sinn
zu erlangen. Da den Mitgliedern der Kampfbünde SA und NSBO eine extrem
nationalistische und rassistische Haltung vermittelt wurde, konnte ihre
Gewaltbereitschaft beliebig mobilisiert werden – auch und gerade gegen
diejenigen Arbeiterorganisationen, die keinerlei Widerstand leisteten.
Gab es Handlungsalternativen? In den vergangenen 70
Jahren wurde immer wieder darüber debattiert, ob es überhaupt realistische
Handlungsalternativen gegen diesen Weg der Arbeiterbewegung in die
Katastrophe gegeben habe. Meines Erachtens liegt der Zeitpunkt, zu dem
Gegenstrategien eventuell noch eine Erfolgschance gehabt hätten, um den 5.
Juni 1931: Eine breite Mobilisierung gegen die arbeits- und
sozialpolitisch folgenreichste Notverordnung des Brüning-Regimes hätte die
durch sie irreversibel gewordene soziale und politische Polarisierung der
Arbeiterklasse und das damit einhergehende Verschwinden ihrer kollektiven
Repräsentation gegen Kapital und Staat vielleicht noch aufhalten können.
In den Monaten danach, etwa beim Staatsstreich Papens in Preußen am 20.
Juli 1932, war es dazu schon zu spät.
In allen Flügeln der
Arbeiterbewegung existierten ausreichende Kompetenzen für eine solche
Situationsanalyse und die Erarbeitung eines dynamischen Gegenmodells im
nationalen wie internationalen Maßstab. Aber sie waren nirgends gefragt,
wo auf der Seite der Arbeiterbewegung grundsätzliche Entscheidungen zu
treffen waren. Da wir vom ungeheuren Beharrungsvermögen kollektiver
Mentalitäten wissen, sollten wir uns nicht allzu sehr darüber wundern, daß
die Führungsgruppen und Funktionärskader der freigewerkschaftlichen
Bewegung außerstande waren, ihr statisches Integrationsmodell auf einmal
über den Haufen zu werfen und sich offensiv den Herausforderungen der
Weltwirtschaftskrise zu stellen. Ähnlich statisch war auch – trotz einiger
bemerkenswerter Gegentendenzen wie etwa des Wirtschaftsprogramms vom 29.
Mai 1931 – das mentale Beharrungsvermögen auf der kommunistischen Seite.
Und diejenigen, die aus beiden Lagern ausbrachen und nach einer
Alternative suchten – SAP und KPD-Opposition –, gewannen keinen
Massenanhang. Die Katastrophe konnte erst zur Diskussion gestellt werden,
nachdem sie eingetreten war – im freigewerkschaftlich-sozialdemokratischen
Lager beispielsweise von Emil Lederer, Franz Neumann, Ernst Fraenkel,
Wladimir Woytinski und anderen.
Bezüge zur Gegenwart
Wie aber steht es um den Vergleich mit der aktuellen Entwicklung
der sozialen Sicherungssysteme, deren Demontage durch die »Agenda 2010«
und die sie flankierenden Mehrheitsvoten diverser Regierungskommissionen
uns in zynischer sprachlicher Bedeutungsumkehrung als »Reform« verkauft
wird?
Wir befinden uns nicht in einer dramatischen
Weltwirtschaftskrise, sondern in einer Stagnationsperiode, die auf einen
jahrzehntelang gespalten gewesenen Zyklus von Unternehmensexpansion und
Haushaltskrise gefolgt ist. Seit über 20 Jahren werden die sozialen
Sicherungsleistungen heruntergefahren. In ihrem Ergebnis befindet sich
inzwischen die Hälfte der lohnabhängigen Bevölkerung in einem periodischen
Wechsel von Festanstellung, versicherter Erwerbslosigkeit,
scheinselbständiger Arbeit, Teilzeitarbeit und Sozialhilfebezug. Diese
neuartige Dynamik einer zunehmend ungesicherten Erwerbsabhängigkeit war
aber nur möglich, weil hierzulande die zentralen Fixpunkte des
Sozialstaats trotz aller Einschränkungsmaßnahmen seit Ende der siebziger
Jahre noch immer existieren. Und das war auch der Grund, weshalb die
gravierenden sozialen Deprivationserscheinungen des DDR-Anschlusses die
Fundamente des gesellschaftlichen Status quo nicht ernsthaft
erschütterten.
Dieses noch immer bestehende labile soziale
Gleichgewicht wird jetzt durch die Projekte der »Agenda 2010« in Frage
gestellt, weil sie gleichzeitig in alle wesentlichen Bereiche des
Sozialsystems eingreifen. Es droht ein sozialer Abbau erheblichen
Ausmaßes. Der aber ist planvoll gewollt, weil man der internationalen
Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft zuliebe einen breiten Niedriglohnsektor
eröffnen und damit eine breite Arbeitsarmut etablieren will. In manchem
gemahnt dieses Vorhaben an das Notverordnungspaket des Brüning-Regimes vom
Juni 1931, und entschiedene Opposition scheint dringend geboten. Dafür
aber sind die Voraussetzungen weitaus besser als vor 72 Jahren, denn die
»Agenda 2010« ist mit keinerlei Planungen zur Demontage des
verfassungspolitischen Konsens verknüpft.
Deshalb besteht auch
kein Grund zur Panik, auch wenn die von der Regierung betriebene
propagandistisch-mediale Vergewaltigung unserer Worte und Sprechakte eine
bedrohliche Gewaltbereitschaft aufzeigt. Gefragt sind mehr denn je
alternative Modelle zur neuerlichen Verbreiterung und Verallgemeinerung
der sozial- und wirtschaftspolitischen Voraussetzungen von Wohlstand,
kultureller Vielfalt und sozialer Gleichheit, die zugleich über den
nationalen und kontinentalen Tellerrand hinausreichen. Gefragt ist aber
auch die Bereitschaft zu einer handlungsorientierten gesellschaftlichen
Dynamik, die die sich ausbreitenden sozialreaktionären Tendenzen in ihre
Grenzen weist.
In der Weltwirtschaftskrise waren die freien
Gewerkschaften dabei, aus Angst vor dem Untergang Selbstmord zu begehen,
jedoch bewahrte sie dieses Verhalten nicht vor der Zerschlagung. Aber auch
heute noch ist die Parole der Bremer Stadtmusikanten gültig: Etwas
Besseres als den Tod findest Du überall. In diesem Sinn sollten wir
vorausschauen und auf die Dynamik der Totengräber der sozialen
Sicherungssysteme mit einer selbstbestimmten Dynamik des sozialen
Fortschritts antworten.“
ungekürzt
aus: Junge Welt, 5.5.2003.
http://www.jungewelt.de/2003/05-05/005.php |