Deutscher Kolonialismus in Afrika

Aus: Wilfried Westphal: Geschichte der deutschen Kolonien. Bertelsmann 1984, 253-265. Mit Kürzungen (...).

Der gerade erst zum Leiter der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt beförderte Geheimrat Dernburg erklärte in einem Vortrag am 8. Januar 1907: „Kolonisation, ganz gleichgültig, ob es sich um Plantagenkolonien oder um Ansiedlungskolonien handelt, heißt die Nutzbarmachung des Bodens, seiner Schätze, der Flora, der Fauna und vor allem der Menschen zugunsten der Wirtschaft der kolonisierenden Nation, und diese ist dafür zu der Gegengabe ihrer höheren Kultur, ihrer sittlichen Begriffe, ihrer besseren Methoden verpflichtet.“ (Wahrlich ein zweiseitiges Geschäft! wb)
Wurden die gröbsten Exzesse, in Justiz und Verwaltung, mit der Zeit auch beigelegt, eines jedoch blieb weiterhin bestehen, die Fronarbeit: „Wichtig ist nunmehr auch“, verkündete Dernburg in einem zweiten Vortrag, den der am 11. Januar 1907 vor dem Deutschen Handelstag hielt, „die Bevölkerung ins Auge zu fassen, und man kann dabei sagen, dass Deutschland hierbei nicht schlecht gefahren ist. Die westafrikanischen Kolonien, Togo und Kamerun, wenn sie auch zurzeit noch eine moralisch sehr minderwertige Bevölkerung tragen, haben doch dasjenige Menschenmaterial, welches in den Vereinigten Staaten zurzeit die Baumwollproduktion allein besorgt. Und wenn auch die klimatischen Verhältnisse sehr verschieden sind und demnach die Arbeitsleistung der Eingeborenen in den tropischen und überaus feuchten westafrikanischen Kolonien nie sehr hoch wird gespannt werden können, so findet dies doch einen Ausgleich in den außerordentlich fruchtbaren Gebieten, die eben eine so intensive Arbeit nicht erfordern. In Ostafrika haben wir im allgemeinen ein nicht unbrauchbares Menschenmaterial, welches über das Gebiet allerdings sehr ungleich verteilt ist. In dem großen südwestafrikanischen Besitz ist leider der wichtigste und, wie sich wohl behaupten lässt, auch für die Arbeit brauchbarste Stamm der Hereros in dem Krieg der letzten 2 Jahre (von der deutschen Armee!, wb) dezimiert worden. Immerhin wird sich auch dieses Volk unter verständiger Fürsorge retablieren können.“ (...)
Dernburg vertrat die Ansicht, dass es weniger wichtig sei, nach neuen Kolonien zu streben, als vielmehr die bestehenden zu entwickeln (d.h. besser ausbeutbar  zu machen, wb). (...)
 Die Kapitalisten (...) zögerten, ihr Geld in Gegenden zu investieren, die noch nicht einmal er­schlossen waren, und zogen es vor, sich dem lukrativen Ge­schäft in Europa und dem Orient zuzuwenden. (...)
Die Landfrage - und der Kapitalmangel - war das eine Problem. Das andere waren - die Arbeiter. Denn da - entgegen den Prognosen und Erwartungen - keine deutschen Arbeiter auswanderten, zumindest nicht in die deutschen Kolonien, blieb nur das schwarze „Menschenmaterial“, um die Kolonien - im Verein mit Investitionen - produktiv zu machen. Investiert aber wurde so lange nicht, solange die Arbeiterfrage nicht gelöst war. (Das heißt solange man die afrikanischen Subsistenzbauern nicht von ihrem Boden vertrieben hat und zu Lohnsklaven auf deutschen Plantagen gemacht hatte. wb)

 Arbeiter benötigte man für die Pflanzungen und Bergwerke, aber auch für den Transport der Produkte, die man dort gewann: „Der bisherige Transport“, führte Dernburg in seinem zweiten Vortrag aus, „aus unseren Kolonien wird auf den Köpfen von etwa 2 Millionen Negern in 4 bis 5 Tagereisen, bei wertvollen Gütern auch 40 bis 50 Tagereisen an die Küste gebracht. Aus dem Inneren des Landes können bisher überhaupt nur wertvolle, durch Okkupation gewonnene Güter, wie Kautschuk, Elfenbein, Wachs usw. gebracht werden, und gerade im Innern des Landes befindet sich zumeist die Eingeborenenkultur und sind die für Ölfrüchte, Baumwolle usw. geeigneten Böden zu suchen. Um das Produkt von 150 ha vorzüglichen Baumwollenlandes im Inneren Togos nach der Küste zu schaffen, sind nicht weniger als 1000 Mann vier Wochen lang damit beschäftigt, und die Tonne Produkte aus dem Innern ist deshalb bereits im Hafen mit 400 Mark Fracht belastet.“

Die Lösung war freilich die Eisenbahn. „Wenn man dem“, fuhr Dernburg in seinen Ausführungen fort, „gegenüberstellt das hochentwickelte Eisenbahnwesen in den Südstaaten von Nordamerika, so wird man sich nicht wundern, dass unsere großen Baumwollländereien bis jetzt noch nicht viel tragen und dass man unserem geringen Baumwollenexport von Togo mit einer Frachtermäßigung auf der Dampferlinie nach Deutschland nachhelfen musste. Noch schlimmer liegen die Verhältnisse in Ostafrika, wo eine Tonne Last aus dem Innern nach der Küste z.Z. eine Karawane von Trägern und 2500 Mark Frachtkosten beansprucht, während die gleiche Last von einer Eisenbahn in kurzer Zeit und mit einem Frachtaufwand von 45 Mark an die Küste gebracht werden könnte.“ (...)
Wer sollte die Eisenbahnen bauen? Auch dafür musste der Staat herhalten: Mit seiner Hilfe verdoppelte sich allein in Afrika in den Jahren 1906 bis 1910, das Schienennetz auf über 2500 Kilometer.

Doch mit Kapital allein war es nicht getan: 22000 Arbeiter waren bereits vor 1911 in Ostafrika beim Bau der Eisenbahn im Einsatz (mit Zwangsarbeit! wb), 5400 weitere sorgten für den Betrieb der schon fertigen Strecken. Da der Export natürlich weiterging, vergrößerte sich die Nachfrage nach Arbeitern noch, anstatt abzunehmen. Es kam zu erheblichen Engpässen, in Ostafrika ebenso wie in den anderen Kolonien.

Man versuchte Abhilfe zu schaffen, indem man zwar die offene Sklaverei, die abzuschaffen man sich ja feierlich auf der Kongo-Konferenz verpflichtet hatte, vermied, doch praktisch sonst jede andere Form des Arbeitszwangs tolerierte. Auch nach den Auf ständen, die er provoziert hatte, und trotz allgemeiner Verordnungen zum Schutze der Arbeiter, die in den Jahren 1907 bis 1909 erlassen wurden. Da gab es auch weiterhin die „Wanderarbeit“, worunter die (zwangsweise! wb) Rekrutierung von Arbeitern in entlegenen Gebieten und zuweilen auch die Umsiedlung ganzer Dörfer zu verstehen ist. Dann zahlte man (meint hier die Afrikaner! wb) weiter jene Steuer, die - neben dem Beitrag, die sie zur Sanierung des kolonialen Haushalts leistete - die Eingeborenen zur Arbeit erziehen sollte (, indem man sie zwang, Geld durch Lohnarbeit zu erwerben, mit dem sie anschließend die auferlegte Steuern zahlten – auch nur eine geschickte Form der Zwangsarbeit! wb) . Und schließlich mußten die Schwarzen in Usambara, in Ostafrika, ein kleines Büchlein bei sich tragen, in dem vermerkt war, ob sie tatsächlich alle vier Monate 30 Tage auf den Plantagen gearbeitet hatten (auch eine Form von Zwangsarbeit, wb), wie es das überkommene Recht, das zwar kritisiert, aber nicht abgeschafft wurde, vorsah.

Es war eine sehr dünne Linie, die echtes von verdecktem Sklaventum trennte. (...) Die traditionellen Autoritäten, ob Häuptlinge oder Könige, kooperierten, nachdem sie einmal entmachtet waren, nur zu willig mit den Kolonialherren. Indem sie - gegen Prozente - die Arbeitskontingente stellten, wurden sie zu Verrätern ihres eigenen Volkes, nicht anders als es die Kaziken im spanischen Amerika gewesen oder die indischen Maharadschas noch immer waren.

650 Millionen Mark

Was aber wurde nun erreicht mit dieser Knebelung der Eingeborenen? Daß das Geschäft sich nicht lohnte, zumindest nicht derart, wie man es erwartet hatte, erwähnten wir schon. Wie aber sah die Bilanz im einzelnen aus? Zwei Erwartungen hatte man an die Kolonien gestellt: Erstens, sie sollten das Mutterland mit Rohstoffen versorgen, und zweitens, sie sollten ihm Märkte verschaffen. Außerdem sollten die Kolonien überschüs­sige Arbeitskräfte aufnehmen, um dadurch soziale Spannungen im Mutterland abzubauen. Doch letztere Erwartung hatte man, da die Kolonien, die man erworben hatte, im Gegensatz zu Australien und Nordamerika vorwiegend in den Tropen lagen, schon um die Jahrhundertwende aufgegeben.

Was nun die Versorgung mit Rohstoffen betrifft, so hatte Dernburg noch die Hoffnung geäußert, daß die Kolonien dem Reich einmal zur Autarkie verhelfen würden. Dieses Ziel wurde nicht erreicht: 1910, als er abtrat, bezog das Deutsche Reich aus seinen Kolonien keinen Rohstoff, der mehr als ein Siebtel seines Bedarfs ausmachte. Die Zahlen schwankten zwischen 0,25 Prozent für Baumwolle und 13,6 Prozent für Kautschuk. Bis zum Ende der Kolonialzeit stiegen zwar die Ausfuhren, doch nahm zur gleichen Zeit der Anteil des Deutschen Reiches am Handel mit seinen Kolonien ab: von durchschnittlich 35,2 Prozent in den Jahren 1894 bis 1903 auf 26,6 Prozent im folgenden Jahrzehnt. Mit anderen Worten: 1913, am Vorabend des Verlustes der Kolonien, war das Deutsche Reich nur noch zu einem Viertel am Handel mit seinen Kolonien beteiligt. Die Konkurrenz waren nicht nur politisch, auch wirtschaftlich - die Engländer.

Weder wurde die Selbstversorgung mit Rohstoffen erreicht, noch eine Erschließung der kolonialen Märkte: 1913, wir erwähnten es schon, betrug der Anteil der deutschen Kolonien am gesamten Außenhandel des Deutschen Reiches nur ein halbes Prozent. Deutschland führte - 1912 - beispielsweise mehr nach Westindien und Zentralamerika aus als in seine eigenen Kolonien.

Doch der Nutzen, den das Mutterland aus seinen Kolonien zieht, ist natürlich nur die eine Seite der Medaille. Wie sah es auf der anderen aus? Die Produktion stieg, das läßt sich nicht leugnen. Hier einige Beispiele: Erreichte die Ausfuhr von Kautschuk aus den deutschen Kolonien 1907 einen Wert von 10,8 Millionen Mark, so hatte er sich bis 1912 verdoppelt. Ähnlich war es mit Kopra und Palmöl, deren Ausfuhrwert von respektive 5,3 und 5,6 Millionen Mark auf 11,7 und 10,8 Millionen Mark anstieg. Zurück ging nur der Export von Elfenbein - von 1,8 auf 0,9 Millionen Mark -‚ wohingegen mit der Entdeckung von Diamanten in Südwestafrika - 1908 - eine beachtliche Einnahmequelle hinzukam, die sich 1912 auf über 30 Millionen Mark belief. Diamanten nahmen damit - ihrem Wert nach - die erste Stelle unter den Produkten der deutschen Kolonien ein.

Da diese - ganz gleich, wohin die Güter ausgeführt wurden - an der Zunahme der Produktion verdienten, ist es nicht verwunderlich, daß eines wenigstens erreicht wurde: eine weitgehende Sanierung des Kolonialbudgets. Zwar stimmt es, daß sich nur Samoa und Togo ganz freischwammen, das heißt, auf staatliche Zuschüsse schließlich verzichten konnten, doch näherten sich auch die anderen Kolonien diesem Ziel: Seit 1909 mußte das Reich nur noch die Kolonie Deutsch-Neuguinea und Kiautschou sowie die drei Schutztruppen in Afrika subventionieren. Die Zivilverwaltungen in Ostafrika, Südwest und Kamerun waren gleichfalls von Zuwendungen des Staates unabhängig geworden.

Dennoch ist es nicht uninteressant zu erfahren, was denn das koloniale Unternehmen insgesamt den deutschen Steuerzahler gekostet hat: 650 Millionen Mark ließ sich das Reich die Expansion nach Übersee kosten. Der Löwenanteil entfiel dabei auf Deutsch-Südwest: mit 278 Millionen Mark fast die Hälfte. Am bescheidensten war Samoa: Es „kostete“ nur 1,5 Millionen Mark.

Was es teuer machte, die Kolonien zu unterhalten, waren nicht nur die Kriege, die man zu ihrer Sicherung führen mußte, sondern auch die „Erschließungskosten“: Nicht nur Eisenbahnen, auch Dampferlinien wurden subventioniert, wobei letztere - da sie nur indirekt den Kolonien zugute kamen - in die offizielle Statistik gar nicht einflossen. Die Eisenbahnen hingegen wurden anfangs aus dem Etat der Schutzgebiete finanziert, also durch Reichszuschüsse, die nicht rückzahlbar waren. Erst unter Dernburg wurden diese Zuschüsse - für die Eisenbahnen - in Anleihen umgewandelt, für die der Staat freilich die Bürgschaft übernahm. (Die militärischen und ökonomischen Erschließungskosten wälzte der Staat über Steuern auf die Gesellschaft ab, die Profite machten dann die Kolonialgesellschaften. wb)(...)

Die Diamanten halfen der Deutschen Gesellschaft für Südwestafrika zu dauerndem Erfolg, die Dampfersubventionen der Linie Woermann. Denn wenn die Kolonien auch für den Staat -und für das Reich insgesamt - kein Erfolg waren, so profitierten die Kolonialgesellschaften am Ende doch. (...)
Hatte die Dividende, die die Gesellschaft ausschüttete, im Geschäftsjahr 1907/08 noch 20 Prozent betragen, so kletterte sie im folgen­den auf 25 Prozent und erreichte 1909/10 64 Prozent! Danach ging es zwar wieder abwärts - denn der Staat sicherte sich in einem Vertrag vom 7. Mai 1910 gegen das Zugeständnis dauernder Abbaurechte eine Gewinnbeteiligung -‚ doch lag die Dividende 1912/13 immer noch bei 40 Prozent. Zu dieser Zeit - 1913 - machte die Gewinnung von Diamanten in Südwestafrika ein Fünftel der Weltproduktion aus, soweit es die Menge betraf. Dem Wert nach erhöhte sich dieser Anteil sogar auf ein Viertel.

Auch die Deutsche Ostafrika-Gesellschaft war seit 1908 aus dem Schneider: Mit Pflanzungen, Handel und Bankgeschäften erreichte sie 1912 immerhin eine Dividende von 9 Prozent. Die Neuguinea-Kompagnie schließlich, die dritte im Bunde der drei klassischen deutschen Kolonialgesellschaften, schaffte es erst im Geschäftsjahr 1912/13, ihren Anteilseignern einen Gewinn zu bescheren. Ihre Stärke waren Kokospalmen, von denen sie genau 727777 Exemplare besaß. Sie brachten eine Dividende von fünf Prozent.“
Wal Buchenberg, 14.2.2003