Gefühlte Teuerung, berechnete Inflation

Bei jedem Tanken, bei jedem Lebensmitteleinkauf sehen wir, dass unser täglicher Bedarf wieder teurer geworden ist. Die große Mehrzahl der Menschen schätzt die gegenwärtige Teuerung auf 5 bis 8 Prozent. Die Medien halten unserer Alltagserfahrung die Berechnungen des Statistischen Bundesamtes entgegen, das für das letzte Jahr eine Inflationsrate von 2,4 Prozent errechnet hatte. Die "gefühlte" Teuerung und die berechnete Inflationsrate klaffen weit auseinander. Stimmen Gefühl und Erfahrung von vielen Millionen oder stimmen die von Wenigen errechneten Zahlen?

 Schauen wir einmal auf die 20 Produkte mit der stärksten Preiszunahme und dem größten Preisrückgang im Monat Januar 2008.

 

 Wegen Einführung der Studiengebühren stiegen im Januar 2008 die Ausgaben für Bildung im Vergleich zum Vorjahresmonat um 126,9 Prozent. Zitronen wurden im gleichen Zeitraum um die Hälfte teurer, Heizöl um ein Drittel, Milch und Milchprodukte um fast 30 Prozent. Trotzdem errechnete das Statistische Bundesamt für den Januar eine Teuerung von nur 2,8 Prozent.

 Das Statistische Bundesamt stellt den gestiegenen Preisen bei Gütern des täglichen Bedarfs die gesunkenen Preise bei langlebigen Konsumgütern wie Notebooks, Fernseher und Digitalkameras gegenüber. Das ist nicht grundsätzlich verkehrt.

In unseren Konsum gehen Waren ein, die wir fast täglich kaufen bzw. bezahlen (Lebensmittel, Benzin etc.), Waren, die wir monatlich kaufen (Mieten, Telefongebühren, Kleidung etc.) und Waren, die wir höchstens einmal jährlich oder in noch größeren Zeitabständen kaufen.

Preissteigerungen, die den täglichen Bedarf treffen, werden also von uns häufiger wahrgenommen und graben sich stärker in unser Gedächtnis. Ein Gesamtbild der Preisbewegung entsteht aber nur, wenn man die Preisentwicklung für tägliche Gebrauchsgüter und für langlebige Konsumgüter in ihrer Gesamtwirkung betrachtet.

Aber wie oft kaufen wir neue Fernseher, neue Mobiltelefone und neue PCs?

Das hängt ganz von unserem Einkommen ab. Studentenhaushalte oder HartzIV-Empfänger kaufen seltener Notebooks und Digitalkameras, als die Zumwinkels und Ackermanns.

 Das Statistische Bundesamt kennt aber weder Reich noch Arm, sondern nur einen "deutschen Normalbürger", dessen Konsum von rund 700 Waren teils aus den Angaben des Einzelhandels, teils aus den monatlichen Aufzeichnungen von freiwilligen Helfern des Statistischen Bundesamtes gewichtet und ausgewertet wird. Im Ergebnis sieht der Verbrauch dieses deutschen Normalbürgers wie folgt aus:

 

 Für Bildungsausgaben gibt der statistische Normalbürger zum Beispiel nur 0,7 Prozent der Gesamtausgaben aus. Für Eltern mit Kindern und Jugendlichen in der Ausbildung liegen ihre Bildungsausgaben deutlich höher.

 Für Lebensmittel (einschließlich Alkohol und Tabak), sind im bundesdeutschen Warenkorb weniger als 15 Prozent der Ausgaben vorgesehen. Studenten und HartzIV-Empfänger geben aber fast 50 Prozent ihres Geldes für Lebensmittel aus.

Für die "gefühlte Teuerung" hat die unterschiedliche Größe des jeweiligen Geldbeutels enorme Auswirkungen.

Ein Teuerung der Lebensmittel (einschließlich Alkohol und Tabak) um 100 Prozent (bei sonst gleichbleibenden Preisen) schlägt beim statistischen Bundesamt und seinem "Normalbürger" nur mit einer Teuerungsrate von 15 Prozent durch. Studenten und HartzIV-Empfänger erleben dieselbe Teuerung aber mit einer Rate von 50%, weil 50 Prozent ihrer Waren um 100 Punkte teurer geworden sind.

 Ähnlich ist die Entwicklung bei den Ausgaben für Miete. Weil die Mieten von großen Wohnungen und Häusern, die von Wohlhabenden bewohnt werden, kaum steigen oder sogar sinken, werden in der Statistik die Preiserhöhungen der Kleinwohnungen geschluckt, in denen die Ärmeren leben. Es heißt dann, dass "die Mieten" nur um rund 1 Prozent im Jahr gestiegen sind. Im statistischen Durchschnitt liegen die Mieten in Westdeutschland zur Zeit bei 6,16 Euro pro Quadratmeter und im Osten bei 5,40 Euro. Aber wer lebt im statistischen Durchschnitt? Der Durchschnitt ignoriert den Unterschied von Reich und Arm und deshalb ignoriert der Durchschnitt unsere gesellschaftliche Wirklichkeit.

 Gerade Menschen mit niedrigen Einkommen leiden unter der jetzigen Teuerung der Lebensmittelpreise, weil diese Warenart einen Großteil ihrer Ausgaben ausmacht, während sie von dem Preisrückgang bei langlebigen Konsumgütern wenig spüren, weil sie sich die gar nicht leisten können.

 Auf dem Weltmarkt haben die längerfristig steigenden Lebensmittelpreise ähnlich katastrophale Auswirkungen. In den wohlhabenden Industrienationen machen die Lebensmittel 10 bis 20 Prozent der Verbraucherausgaben aus, in den Entwicklungsländern aber bis zu 65 Prozent.

Der Weizenpreis hat sich auf dem Weltmarkt im letzten Jahr verdoppelt, auch die Preise für Milchprodukte sind deutlich gestiegen.

 Jacques Diouf, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) meint: Die steigenden Kosten für importierte Grundnahrungsmittel wie Weizen, Mais und Milch hätten in den ärmeren Ländern ein wachsendes "Potenzial für soziale Spannungen". Solche Tortilla-Unruhen gab es schon unter den Bauern von Mexiko. Nach dem Freihandelsabkommen mit den USA konnten die mexikanischen Bauern nicht mehr mit der subventionierten Maisproduktion der USA konkurrieren. Mexiko importierte immer mehr den zunächst billigen US-Mais. Seit US-Mais auch für die Herstellung von Ethanol (Benzin) verwendet wird, wurde er so teuer, dass die mexikanischen Armen gegen die Tortilla-Preise rebellierten.

 In letzter Zeit ging eine kleine Aufregung durch die deutschen Medien, weil bei uns die "Mittelschicht" schwindet, während die Zahl der Reichen etwas zunimmt und die Zahl der Armen deutlich zunimmt. Je weiter dieser Prozess geht, desto mehr "lügen" die Durchschnittsberechnungen, weil sie sich immer weiter von der Klassenwirklichkeit entfernen.

 Nehmen wir dafür ein einfaches Beispiel: Wir haben eine homogene Gesellschaft mit drei Konsumenten, von denen jeder 100 Euro besitzt. Ihre Konsumkraft sind 300 Euro und der statistische Normalkonsument besitzt 100 Euro. Das ist die schöne Welt, die in unseren Schul- und Lehrbüchern haust.

 Betrachten wir nun eine Klassengesellschaft: Der Reiche besitzt 180 Euro, der Armer besitzt 9 Euro und der "Mittelschichtler" besitzt 111 Euro. Zusammen besitzen sie immer noch 300 Euro. Aber ihre Konsumoptionen sind höchst ungleich.

 Wer meint, dieses Zahlenbeispiel sei irreal, der täuscht sich. Laut dem "Economist" vom 18.11.2006 verbrauchen in den USA die reichen Top-20% der Einkommensbezieher fast 60% des gesamten Konsums. Die untersten 20% Einkommensbezieher bekommen gerade mal 3% des US-Konsums ab. Bei der angenommenen Konsummenge von insgesamt 300 Euro, haben die oberen 20 Prozent also 180 Euro, die unteren 20 Prozent nur 9 Euro.

 Für die Bundesrepublik Deutschland kenne ich keine vergleichbaren Zahlen. Sie werden nicht ganz so extrem sein, aber wir steuern mit großen Schritten auf US-amerikanische Klassenverhältnisse zu.

 Die sozialdemokratische Propaganda, die Kapitalisten sollten durch Lohnerhöhungen "die Kaufkraft stärken", ist eine zweischneidige Waffe. Ein Zumwinkel oder Ackermann gibt an einem Abend mehr aus, als Hartz-Empfänger oder Studenten im Monat zur Verfügung haben. Obwohl in den letzten Jahren die Reallöhne gesunken sind, ist die "Konsumkraft" in Deutschland insgesamt gestiegen, weil der Luxuskonsum der Reichen schneller wächst, als der Massenkonsum der Armen zurückgeht.

 Tatsächlich schmerzt uns die gegenwärtig Inflationsrate so sehr, weil die Masseneinkommen in den letzten Jahren nur stagnierten oder schrumpften. Gegenwärtig fließt unser Geld durch Teuerung schneller ab, als es durch Einkommensverbesserungen hereinkommt.

 

 

Im historischen Vergleich ist allerdings die gegenwärtige Teuerungsrate noch gering. Das zeigt die nächste Grafik.

 

 Gehen wir in der historischen Betrachtung noch weiter zurück, dann sind die realen, inflationsbereinigten Preise seit 1900 sogar gesunken.

 

 

Die Preise der Grafik wurden inflationsbereinigt, indem die Einkommensentwicklung aller Klassen gegengerechnet wurde. Man sieht: Preissteigerungen schmerzen nur dann, wenn unser Einkommen stagniert oder schrumpft.

 Die beste Antwort auf die gegenwärtigen Preiserhöhungen ist es, jetzt kräftige Lohnerhöhungen zu erkämpfen. Für Versorgungsempfänger (Rentner, HartzIVer etc.) müssen ebenfalls deutliche Verbesserungen her.

 Wenn ich mir was wünschen dürfte, würde ich mir wünschen, dass unsere Gewerkschafter nicht nur für höhere Lohneinkommen streiken würden, sondern auch für höhere Versorgungseinkommen. Dann müssten alle Flugzeuge am Boden warten, bis die HartzIV-Bezüge und Bafög-Sätze deutlich angehoben sind. Dann müssten wir nicht bis zum nächsten Wahljahr auf eine Erhöhung warten.

 Wal Buchenberg, 5.3.2008

 Weiterführende Informationen

Wägungsschema des Verbraucherpreisindex, Basis 2005:

Preisentwicklung einzelner Konsumgüter 2001-2008

Statistisches Bundesamt, Preisentwicklung

 

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