Exkurs:

Sowjetische Zwangsarbeit im Gulag

 

Dass die von der sowjetischen kommunistischen Partei im ersten Fünfjahrplan festgelegte maximale Entwicklung der Produktion von Produktionsmitteln nur auf Kosten der Lebensverhältnisse aller Werktätigen zu schaffen sei, muss allen ökonomisch halbwegs Gebildeten klar gewesen sein. Während der Produktion von Produktionsmitteln werden von den Arbeitenden Konsumtionsmittel zwar verzehrt, aber keine neuen Konsumtionsmittel hergestellt. Für einen solchen Verzehr ohne Ersatz gab es in den Krisenjahren 1927 bis 1929 keine öffentlichen Vorräte. Da griff die Partei auf Mittel zurück, die nicht nur in Russland eine unselige Tradition hatten: Auf den unentwickelteren Stufen der kapitalistischen Produktion werden Unternehmungen, die eine lange Arbeitsperiode, also große Kapitalauslage für längere Zeit bedingen, namentlich wenn sie nur auf großer Stufenleiter ausführbar sind, ... gar nicht kapitalistisch betrieben, wie z. B. Straßen, Kanäle etc., sondern auf Gemeinde- oder Staatskosten (in ältren Zeiten meist durch Zwangsarbeit, soweit die Arbeitskraft in Betracht kommt).[1]

 

Seit dem 26. März 1928 wurden die Lohnzahlungen an sowjetische Häftlinge eingestellt, um die wirtschaftliche Rentabilität zu erhöhen[2]. Betrug die Zahl der zu Zwangsarbeit Verurteilten im Jahre 1926 noch 14,3 % aller Verurteilungen, so waren es 1931 schon 56 %.[3]

 

Strafjustiz und staatlicher Terror, die bis dahin hauptsächlich dem bolschewistischen Machterhalt dienten, wurden zunehmend in den Dienst des sozialistischen Aufbaus gestellt. Inmitten der sowjetischen Gesellschaft breitete sich eine Inselwelt[4] von rund 100 Arbeits- und Besserungskolonien mit Insassen aus, deren Anzahl die Millionen-grenze deutlich übertraf.[5]

 

Zwangsarbeit von Häftlingen wurde vor allem in unwirtlichen Regionen und gesundheitsschädlichen Branchen und für Bauprojekte mit langer Bauzeit eingesetzt. Im Westen frühzeitig bekannt wurde der Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals, der nur 200 km am Nordpolarkreis vorbeiführt und in nur zwanzig Monaten von November 1931 bis Juni 1933 von über 100.000 Zwangsarbeitern mit primitivsten Mitteln gebaut wurde.

 

Im betreffenden Beschluss des Politbüros vom 5. Mai 1930 heißt es: Die Gesamtkosten aller Bauarbeiten am Südabschnitt des Kanals dürfen 60 Millionen Rubel nicht überschreiten. ... Bei der Kostenkalkulation für den Bau des Nordabschnitts des Kanals wurde beschlossen, die Möglichkeit des Einsatzes von Häftlingen für diese Arbeiten in Betracht zu ziehen.[6] In einer persönlichen Notiz von Stalin heißt es weiter: Ich gehe davon aus, dass er hauptsächlich mit Kräften der GPU[7] gebaut werden wird.[8]

 

Zwangsarbeit wurde eingesetzt in der Holzindustrie, in Bergwerken, bei der Kohle- und Zink-, Phosphat- und Blei-gewinnung; im Straßen-, Eisenbahn- und Kanalbau ...[9]

Häftlings- und Zwangsarbeit wurde offizieller Bestandteil der Wirtschafts­pläne. Der Volkswirtschaftsplan für 1941 sah für die Organe des NKWD[10] Investitionsvorhaben in Höhe von 6,8 Milliarden Rubel und eine Industrie­produktion von 1,8 Milliarden Rubel vor. Für die Erfüllung dieser Aufgaben des NKWD wurden 1.976.000 Häftlinge und 288.000 Zivilangestellte ... eingesetzt. Im Jahre 1940 erbrachte das Volkskommissariat des Inneren etwa 13 Prozent des Bauvolumens der Volkswirtschaft. ... Von 1941 bis 1944 wurden vom NKWD der UdSSR folgende Objekte gebaut und der Nutzung zugeführt:

- 612 operative Flugplätze und 230 Flugplätze mit Start- und Landebahnen;

- mehrere Flugzeugwerke im Rayon Kuibyschew;

- drei Hochöfen mit einer Jahreskapazität von 980.000 Tonnen Roheisen;

- 16 Martin- und Elektroschmelzöfen mit einer Kapazität von 445.000 Tonnen Stahl;

- Walzstraßen mit einer Gesamtleistung von 542.000 Tonnen Walzstahl;

- 4 Koksofenbatterien mit einer Kapazität von 1.740.000 Tonnen Koks;

- Kohlegruben und Tagebaue mit einer Kapazität von insgesamt 6.790.000 Tonnen Kohle;

- 46 Generatorturbinen mit einer Gesamtleistung von insgesamt 596.000 Kilowatt;

- 3573 Kilometer neue Bahngleise;

- 4700 Kilometer Landstraßen;

- 1056 Kilometer Erdölleitungen; ...[11]

 

Die Liste enthält ferner die Errichtung weiterer 29 neuer Werke und Betriebsstätten. Da Zwangsarbeit weitaus kostengünstiger als sowjetische Lohnarbeit genutzt werden konnte, mussten die Staats-organe für ständigen Nachschub an Häftlingen sorgen: Jede Stadt, jeder Bezirk, jede Armee-Einheit erhielt eine Sollzahl zugewiesen, welche fristgerecht zu erfüllen war. ... Der ehemalige Tschekist[12] Alexander Kalganow erinnert sich, in Taschkent ein Telegramm erhalten zu haben: ,Schickt zweihundert!. Im Augenblick aber waren sie gerade mit einer Partie fertig, und es gab scheinbar niemanden mehr zum ,Nehmen. ...

Eine Anfrage von der Miliz: Was tun? Zigeuner haben mitten in der Stadt ungeniert ihre Zelte aufgeschlagen. Das ists! Das Lager wird umzingelt und alle Männer von siebzehn bis sechzig nach 58[13] eingezogen! Planerfüllung zu vermelden![14]

Die Staatsbehörden stritten sich sogar gegenseitig um ihre Zwangsarbeiter. Stalin schrieb an Molotow: Am 27. Juni 1929 bestätigte das Politbüro den Beschluss Zum Einsatz von Strafgefangenen. Darin war vorgesehen, dass Personen mit Freiheitsstrafen von drei Jahren und mehr in Lager der OGPU[15] zu überstellen waren. Für die Aufnahme dieser Häftlinge wurde beschlossen, die bereits bestehenden Arbeitslager zu erweitern und ... neue zu errichten, um diese Regionen durch die Arbeit der Häftlinge zu erschließen und ihre Naturreichtümer zu nutzen. ... Die NKWD der Unionsrepubliken wehrten sich jedoch dagegen, die Häftlinge mit Strafen von drei Jahren und mehr abzugeben, um sie selbst in ihren Wirtschaftsprojekten einzusetzen.[16]

 

Jeder Staatsapparat nutzt Terror und Gewalt zum Machterhalt, darin unterscheidet sich der Stalinsche Terrorstaat nur graduell und quantitativ von demokratischeren Regierungen. Terror und Gewalt in großem Umfang als Produktivkraft zu nutzen, das ist jedoch eine Grenze, die in der Neuzeit nur wenige, besonders brutale Regime überschritten haben.

 

In den Berichten Solschenizyns über die sowjetische Zwangsarbeit überwiegt der machtpolitische, nicht der wirtschaftliche Nutzen, wenn er sarkastisch feststellt: Die Häftlingsströme fließen durch unterirdische Rohre und sanieren das an der Oberfläche blühende Leben[17] als sei die schmutzige Welt der Arbeitslager die notwendige, da reinigende Gegenwelt zum scheinbar blühenden Sowjetsystem. Andrej Amalrik sah im Arbeitslager nicht die unvermeidliche Ergänzung, sondern die ideale Verkörperung des Sowjetsystems: Das Lager stellt einen Mikrokosmos der sozialistischen Gesellschaft dar es garantiert alle sozialökono-mischen Rechte, deren sich die Sowjetmacht so sehr rühmt und die die Sozialisten anstreben: das Recht auf bezahlte Arbeit, auf Nahrung, Kleidung, Wohnraum und kostenlose medizinische Behandlung.[18] Dem ist nichts hinzuzufügen.

 

Aus: Wal Buchenberg, Was Marx am Sowjetsystem kritisiert hätte. Politische Ökonomie der Sowjetunion. Verlag für Wissenschaft und Forschung Berlin, 2003. (141 Seiten, Euro 9,90).



[1] Marx, Karl: Das Kapital II. MEW 24, S. 236.

[2] Popin, Anne Kathrin: Der Weißmeer-Ostsee-Kanal in der sowjetischen Literatur und Propaganda der 30er Jahre. Unter: www.solovki.org/de/files/Belomor.pdf, S. 1 [abgerufen im April 2003].

[3] Popin, Anne Kathrin: Der Weißmeer-Ostsee-Kanal in der sowjetischen Literatur und Propaganda der 30er Jahre. Unter: www.solovki.org/de/files/Belomor.pdf, S. 2 [abgerufen im April 2003].

[4] Solschenizin, Alexander: Der Archipel Gulag. Bern 1974.

[5] Die Schätzungen bewegen sich zwischen 2 und 20 Millionen. Vgl. Torke, Hans-Joachim (Hrsg): Historisches Lexikon der Sowjetunion 1917/22 bis 1991. München 1993, S. 105.

[6] Zit. n. Stalin, J.: Briefe an Molotow 19251936. Hrsg. von L.T. Lih, O. Naumow u. O. Chlewnjuk. Moskau 1995. Dt. Ausg. Berlin 1996, S. 230.

[7] GPU hieß die politische Polizei, der sowjetische Staatsschutz. Andere Namen dafür waren: Tscheka und NKWD.

[8] Zit. n. Stalin, J.: Briefe an Molotow 19251936. Hrsg. von L. T. Lih, O. Naumow u. O. Chlewnjuk. Moskau 1995. Dt. Ausg. Berlin 1996, S. 230.

[9] Torke, Hans-Joachim (Hrsg): Historisches Lexikon der Sowjetunion 1917/22 bis 1991. München 1993, S. 106.

[10] NKWD hieß die politische Polizei, der sowjetische Staatsschutz. Andere Namen dafür waren: Tscheka und GPU/OGPU.

[11] Nekrassow, Vladimir F. (Hrsg): Berija. Henker in Stalins Diensten. Augsburg 1997, S. 471f.

[12] Geheimpolizist, Staatsschutzpolizist.

[13] Der 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches stellte jede Schwächung der sowjetischen Staatsmacht unter Strafe: Es gibt unter der Sonne wahrlich kein Vergehen, keine Absicht, keine Tat und keine Tatenlosigkeit, die nicht vom gestrengen Arm des 58 erreicht und gestraft werden konnte. ... Der 58 bestand aus vierzehn Punkten. Solschenizyn, Alexander: Der Archipel Gulag. Bern 1974, S. 69.

[14] Solschenizyn, Alexander: Der Archipel Gulag. Bern 1974, S. 78f.

[15] OGPU (oder GPU) hieß die politische Polizei, der sowjetische Staatsschutz.

[16] Stalin, J.: Briefe an Molotow 19251936. Moskau 1995. Dt. Ausg. Berlin 1996, S. 231.

[17] Solschenizyn, Alexander: Der Archipel Gulag. Bern 1974, 57.

[18] Amalrik, Andrej: Aufzeichnungen eines Revolutionärs. Berlin 1983, S. 307.

DISKUSSIONSFORUM



Vergleiche: Wal Buchenberg (Hrsg.), Karl Marx: Das Kapital. Kurzfassung aller drei Bände. Verlag für Wissenschaft und Forschung. Berlin 2002. 444 Seiten.

"sowjetisch und Sowjet-" wird hier allein in der Wortbedeutung verwendet: "die ehemalige Sowjetunion betreffend". Nach: Duden. Das Große Fremdwörterbuch. Mannheim 1994.