Bretton Woods: Der Dollar auf dem Weg in die Pleite von 1971

„Die fünfziger Jahre gingen zu Ende, als die letzten Bücher zum Problem der Dollarknappheit erschienen und die ersten Kommentare mit entgegengesetzter Tendenz über das anhaltende Defizit in der Zahlungsbilanz der Vereinigten Staaten veröffentlicht wurden. In der Tat zeichneten sich die fünfziger Jahre dadurch aus, daß Europa und Japan weitere Fortschritte machten, daß die Nichtkonvertierbarkeit der Währungen nach und nach aufgehoben wurde, daß der Handel sich liberalisierte, daß das jährliche Zahlungsbilanzdefizit der Vereinigten Staaten und der Abfluß langfristiger Gelder insbesondere nach Westeuropa zunahmen, während die diskriminierenden Maßnahmen gegenüber amerikanischen Exporten nach und nach verschwanden.

Während der Jahre der Marshallplanhilfe hatte die amerikanische Zahlungsbilanz ein geringes Defizit aufgewiesen, das jedoch durchaus mit den Zielen der amerikanischen Führung in Einklang stand, da in Fort Knox ein Goldvorrat von über 20 Milliarden Dollar lag, etwas mehr als die Hälfte der Weltreserven an Gold. Damals sprach man nicht vom Zahlungsbilanzdefizit, sondern von einer Umverteilung der Weltreserven. Die Reserven der Vereinigten Staaten waren von 14,6 Milliarden Dollar in 1938 auf 22,9 Milliarden in 1947 und 24,6 Milliarden in 1949 gestiegen, um bis 1958 auf 20,6 Milliarden zurückzugehen. Zehn Jahre später betrugen sie rund 10 Milliarden Dollar.
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Der letzte Bericht an den Kongreß enthält für 1969, 1970 und 1971 die folgenden Zahlen: In der Nettoliquiditätsbilanz ein Defizit von 6,084 Milliarden, 3,821 Milliarden und 23,439 Milliarden Dollar und der Bilanz der offiziellen Reservetransaktionen im Jahre 1969 einen Überschuß von 2,704 Milliarden und dann ein Defizit von 9,821 bzw. von 31,810 Milliarden Dollar. (...)

Wenden wir uns zunächst der Waren-, Dienstleistungs-, und Übertragungsbilanz zu. Sie wies 1964 einen Überschuss von 7,8 Milliarden Dollar auf, verschlechterte sich dann aber von Jahr zu Jahr immer mehr (mit Ausnahme des Jahres 1970, als die Vereinigten Staaten zu einer deflationistischen Politik übergingen). In den ersten drei Quartalen 1971 war der Überschuß, auf Jahresbasis umgerechnet, auf  0,1 Milliarden Dollar zurückgegangen. Im gleichen Zeitraum wies die Handelsbilanz, die 1964 noch einen Überschuß von 6,8 Milliarden Dollar gezeigt hatte, ein Defizit von 1,7 Milliarden Dollar auf. Von 1964 - 1971 hatten die Einfuhren um 147 % (jährlich 14 %), die Ausfuhren aber nur um 74 % zugenommen. Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß ein Teil der amerikanischen Ausfuhren mit Krediten bezahlt wurde, die von den Empfängern nur in den Vereinigten Staaten verwendet werden durften (zweckgebundene Kredite).

Die Erweiterung des Defizits (trotz gestiegener Kapitalerträge aus Auslandsinvestitionen) hängt offenkundig mit der seit 1965 einsetzenden bzw. sich verstärkenden Inflation und mit der massiven Intervention in Vietnam zusammen (zwischen 1960 und 1964 stiegen die Exporte von 19,650 auf 26,478 Milliarden Dollar und die Importe von 14,744 auf 18,647 Milliarden Dollar). Während der Preis der Arbeitsstunde zwischen 1960 und 1965 in den Vereinigten Staaten sank, stieg er in den übrigen Industrieländern. Zwischen 1966 und 1970 zeigen die Statistiken eine gleichmäßige Steigerung in den Vereinigten Staaten wie bei den Hauptkonkurrenten, während bei den Preisen für exportierte Fertigwaren die Steigerung bei den Vereinigten Staaten höher war als bei der ausländischen Konkurrenz.

Da die militärischen Transaktionen einen Kostenfaktor zwischen zweieinhalb und dreieinhalb Milliarden Dollar darstellen und die Dienstleistungen genauso wie die privaten und die öffentlichen Übertragungen in der Regel ein Defizit aufweisen, blieben während der sechziger Jahre nur zwei positive Posten übrig: die Warenhandelsbilanz und die Kapitalerträge. Der Überschuß dieses letzteren Postens ist von durchschnittlich 1,2 Milliarden (1960 - 1964) auf 5,2 Milliarden in 1970 gestiegen (das ist der Nettobetrag, der Bruttobetrag beläuft sich auf  11,4 Milliarden Dollar).

Die Verschlechterung der Leistungsbilanz hat auf die langfristigen Kapitalbewegungen, die von durchschnittlich 2,2 Milliarden zwischen 1960 und 1964 auf 4,4 Milliarden in 1970 gestiegen sind, keinen Einfluß gehabt. Seit die Währungsbehörden im Jahre 1970 einen währungspolitischen Expansionskurs beschlossen, um den Wiederaufschwung der Wirtschaft zu unterstützen, und in Europa wegen des Nachhinkens der Konjunktur weiterhin höhere Zinssätze galten, hat sich die Leistungsbilanz in den Hauptposten immer rapider verschlechtert. Das offizielle Defizit hatte 1970 annähernd 10  Milliarden Dollar erreicht. Der auch 1971 anhaltende Dollarabfluß aus den Vereinigten Staaten ließ das Defizit so weit anwachsen, bis es für die europäischen Zentralbanken unerträglich wurde und sie vor der Alternative standen, entweder unbegrenzt Dollars aufzunehmen oder die Parität der amerikanischen Währung auf einem freien Markt schwanken zu lassen (sei es auf einem einheitlichen Markt oder einem gespaltenen Finanz- und Handelsmarkt).
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Bei den Vorwürfen und Gegenvorwürfen, die in der ersten Hälfte der sechziger Jahre zwischen Europäern (vor allem Franzosen) und Amerikanern ausgetauscht wurden, ging es zum einen darum, welchem Posten man die ‚Verantwortung, (im doppelten Sinne von Ursache und Fehler) für das amerikanische Defizit zuschreiben sollte, zum anderen um das Wertverhältnis von Gold und Dollar. Solange der scheinbare Handelsbilanzüberschuß zwischen 4,5 und 6 Milliarden Dollar lag, war nichts leichter, als das Defizit der internationalen Rolle der Vereinigten Staaten, ihrem Anteil an der ‚Verteidigung der Freien Welt’ zuzuschreiben. Gleichgültig, ob man das Defizit nach der einen oder anderen Methode berechnete, es erreichte in etwa die Höhe der Militärausgaben der amerikanischen Regierung im Ausland. In einer solchen Deutung wird allerdings der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Posten einer Zahlungsbilanz verkannt; der Handelsbilanzüberschuß ging teilweise auf die Dollarschwemme zurück, die durch Regierungsausgaben im Ausland und durch zweckgebundene Kredite (tied loans) entstanden war. Im übrigen setzte eine solche Argumentationen noch auf politischer Ebene die Zustimmung der Europäer zur Diplomatie der Vereinigten Staaten voraus - eine Zustimmung, die wenigstens seit 1965 nicht mehr gegeben war.

Kaum sinnvoller war auch die Auseinandersetzung über die Wertbeziehung zwischen Gold und Dollar. Es ist unklar, was hinter der Behauptung steckt, der Wert des Goldes beruhe auf dem Wert des Dollars, wie mir einer der wirtschaftswissenschaftlichen Berater des Präsidenten wiederholt versicherte. Nehmen wir an, sämtliche Staaten würden beschließen, dem Gold seine monetäre Funktion zu nehmen, dann würde der Preis dieses Metalls, das zu einem Rohstoff wie alle anderen geworden wäre, ganz offenbar sinken, zumindest anfangs; allerdings kann kein Staat, wie mächtig er auch sei, allein eine solche Entscheidung treffen. Es ist allgemein bekannt, daß die Regierung der Vereinigten Staaten es nicht zulassen wird, daß ihre Goldreserven unter einen gewissen Stand sinken (den man auf rund 10 Milliarden Dollar schätzt). Demnach stützt sich der Wert des Goldes keineswegs auf den Wert des Dollar, sondern kann über diesen hinausgehen, wenn eine sowohl industrielle als auch monetäre Nachfrage nach diesem Edelmetall besteht.

Die ‚Demonetisierung des Goldes’ ist ebenfalls ein mißverständlicher Ausdruck. Da die Reserven sämtlicher Zentralbanken zum großen Teil aus Gold bestehen, wird eine offizielle Demonetisierung, die der einstigen Demonetisierung des Silbers vergleichbar wäre, keine Zustimmung finden. Keine Zentralbank, nicht einmal der Federal Reserve Board, ist so mächtig, allein diese Demonetisierung durchsetzen zu können. Da jede Währung im Verhältnis zu den übrigen Währungen Schwankungen ausgesetzt ist, fällt es schwer, auf das Gold als Wertmaßstab zu verzichten. Man kann allerdings die monetäre Verwendung des Goldes auf den Austausch zwischen den Zentralbanken beschränken und die beiden Märkte voneinander trennen - damit wäre die monetäre Verwendung des Goldes eingeschränkt, aber nicht aufgehoben.
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Die Vereinigten Staaten konnten ihr Zahlungsbilanzdefizit mit ‚gütiger Nachsicht’ hinnehmen, da die europäischen Zentralbanken die wegen des amerikanischen Defizits in ihre Kassen strömenden Dollarüberschüsse auf dem New Yorker Markt in Schatzanweisungen umtauschten.

Erhielt sich das Defizit aus sich selbst heraus? Beruhte es mit Notwendigkeit darauf, daß die Dollars, welche das Defizit ausmachten, in den Vereinigten Staaten untergebracht wurden? Mir scheint, daß die amerikanischen Defizite bis zur beschleunigten Inflationsphase von 1965 - 1970 weder für die amerikanische noch für die europäische Inflation die wesentliche Ursache waren. Der Golddevisenstandard oder mit anderen Worten die Verwendung einer einzigen Währung, der amerikanischen, als Reservewährung und die durch das Zahlungsbilanzdefizit der Vereinigten Staaten wachsende internationale Liquidität waren von Anfang an mit einer Schwäche behaftet. Auf lange Sicht muß das Defizit der Vereinigten Staaten Besorgnisse wegen des Wechselkurses wecken, da die Zentralbanken nicht bereit sein konnten, unbegrenzt Dollars anzuhäufen. Eines Tages mußte das System ‚platzen’, auch wenn diese Krise mit der Krise von 1929 nichts zu tun haben würde. Die absehbare Krise mußte sich in der Weise äußern, daß der Dollar nicht mehr in Gold oder in andere Aktiva konvertierbar sein würde - und für die Europäer wirft diese Nichtkonvertierbarkeit mindestens genauso schwierige Probleme auf wie die vorhergehende Phase.

Die These von der ‚Normalität’ des amerikanischen Defizits stützt sich auf einen Vergleich zwischen den Kapitalmärkten einerseits der Vereinigten Staaten, andererseits aller übrigen Länder. Das amerikanische Defizit wird zurückgeführt auf langfristige Auslandsinvestitionen amerikanischer Unternehmen und auf kurzfristige Anlagen der ausländischen Zentralbanken auf dem New Yorker Markt. Unter dem makroökonomischen Gesichtspunkt der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung fungieren die Vereinigten Staaten als Bankier, der kurzfristig leiht und langfristig anlegt und sich so die unterschiedlichen Zinssätze und Gewinnspannen zunutze macht. Auch der Londoner Markt hatte diese ‚Umwandlung’ lange Jahre hindurch praktiziert. Voraussetzung ist jedoch, daß die Währungsparität außer Zweifel steht und daß die auf der makroökonomischen Ebene der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ausgeübte Bankierfunktion nicht auch innerhalb nationaler Grenzen ausgeübt wird.

Daß es für Privatpersonen in Frankreich interessant sein kann, ihr Kapital durch Veräußerung an amerikanische Unternehmen in Bargeld zu verwandeln, und daß Amerikaner, ihren Vorteil darin sehen, langfristige Investitionen in Europa zu machen, steht außer Frage. Das heißt jedoch nicht, daß sich stets Privatpersonen oder Zentralbanken finden, die bereit sind, Dollars zu behalten, und es heißt nicht, daß alle mit dieser übernationalen Bankierfunktion der Vereinigten Staaten zufrieden sind. Selbst wenn europäische Privatpersonen an der New Yorker Börse Aktien kaufen und diese Käufe das Gegenstück zu den langfristig in Europa angelegten Dollars bilden, so läßt sich doch nicht jede Regierung von den theoretischen Argumenten Professor Kindlebergers überzeugen, denen zufolge die Investitionen letzten Endes dem Interesse aller entsprechen und die Nationalität des Investors gleichgültig ist.

Das Jahr 1971 brachte den Beweis, daß die Vereinigten Staaten nicht unbegrenzt die Funktion eines übernationalen Bankiers erfüllen können, jedenfalls dann nicht mehr, wenn ihre Inflationsrate (die Zunahme der Kosten je Arbeitsstunde) die europäische Inflationsrate erreicht oder übersteigt. Seit Jahren haben die europäischen Zentralbanken mehr Dollars aufgenommen, als sie wollten. Während die Amerikaner die Verpflichtungen der Bankierfunktion hervorkehren, sehen die Europäer vor allem deren Vorteile für den Bankier (ohne indessen die Vorteile für den Kunden zu bestreiten). Warum haben die Europäer diese Dollaranhäufung hingenommen, und mit welchen Argumenten haben die Amerikaner sie dazu gebracht?

Niemand wird wohl ernsthaft behaupten, daß das internationale Währungssystem in der Form, wie es sich entwickelt hat, mit dem Dollar als übernationaler Währung, von den Führern der Vereinigten Staaten von vornherein darauf hin geplant worden ist, amerikanischen Firmen trotz eines ständigen Zahlungsbilanzdefizits direkte Auslandsinvestitionen zu ermöglichen und die Zentralbanken zu zwingen, unbegrenzt Dollars anzuhäufen, die schließlich nicht mehr konvertierbar sein würden. Bei den Verhandlungen von Bretton Woods hatten sich die amerikanischen Vertreter den von den Engländern vorgetragenen weitreichenden Plänen von John Maynard Keynes widersetzt, weil sie befürchteten, die Defizite ihrer Partner übernehmen zu müssen, falls sie der Schaffung einer Quasi-Zentralbank für die gesamte Welt der Freien Wirtschaft zustimmten. Desgleichen sollte die Verpflichtung, Wechselkurse einzuhalten, eine Wiederholung der Praktiken der dreißiger Jahre verhindern, als das Bemühen aller Staaten, sich einen Exportvorteil zu sichern - nicht so sehr, um die eigenen Reserven zu erhöhen, als vielmehr, um durch den Absatz der eigenen Erzeugnisse im Ausland die Arbeitslosen zu beschäftigen - eine Abwertung nach der anderen ausgelöst hatte. Tatsächlich haben die Europäer und die Japaner eine niedrigere Arbeitslosenrate als die Vereinigten Staaten erreicht, doch ist das Währungssystem wohl nur eine von mehreren Ursachen dafür.
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Tatsache ist, daß die Europäer und die Japaner heute (1973 wb) in den Reserven ihrer Zentralbanken rund 60 Milliarden nichtkonvertierbarer Dollar liegen haben. Ende September 1971 beliefen sich die kurzfristigen Forderungen ausländischer Währungsbehörden gegenüber den Vereinigten Staaten auf rund 45 Milliarden Dollar, während die Nettogläubigerposition der Vereinigten Staaten gegenüber der übrigen Welt sich von Jahr zu Jahr verbessert hatte. Umfaßte diese Position 1960 44,7 Milliarden Dollar, so waren es 1970 69 Milliarden Dollar; während die direkten Auslandsinvestitionen von 31,8 auf 78 Milliarden Dollar angewachsen waren, stiegen die ausländischen Direktinvestitionen in den Vereinigten Staaten nur von 6,9 auf 13,2 Milliarden Dollar. Die Europäer zahlten die Marshallplanhilfe in Form von kurzfristigen Krediten zurück, mit denen amerikanische Firmen europäische Unternehmen aufkauften oder Niederlassung gründeten. Während der Marshallplan-Jahre hatten Dollars den Atlantik überquert, um die europäischen Länder mit den Devisen auszustatten, die sie benötigten, um im Ausland mehr Waren einzukaufen, als sie mit ihren eigenen Exporten hätten bezahlen können. Während der sechziger Jahre überquerten Dollars den Atlantik in beiden Richtungen, ostwärts für langfristige Investitionen, westwärts für den Erwerb von Bundesschatzanweisungen oder Aktien an der New Yorker Börse.
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Die Partner leihen den Vereinigte Staaten den Devisenbetrag, den diese für ihre Rolle als Weltpolizist benötigen. Dementsprechend ging die Bundesrepublik Deutschland, die sich ihrer Verwundbarkeit, ihrer geopolitischen Schwäche besonders bewußt ist, auf die Forderungen der Washingtoner Führung ohne weiteres ein, und die Bonner Finanzminister, besonders Karl Schiller, nahmen widerspruchslos die verschiedenen Ausreden hin, die man in Washington ersann, wie etwa den gespaltenen Goldmarkt, die Swap-Agreements, die Roosa-Bonds und dergleichen. So gesehen, haben die Vereinigten Staaten ihre militärische Vormachtstellung benützt, um ein Währungssystem und vor allem Privilegien für den Dollar durchzusetzen, denen ihre Partner, hätten sie volle Bewegungsfreiheit gehabt und wären sie imstande gewesen, sich allein zu verteidigen, niemals zugestimmt hätten.
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Betrachten wir etwa die Zusammensetzung der Währungsreserven. Warum, so fragen einige Anhänger der Thesen von Jacques Rueff, sollten die Zentralbanken, statt Gold zu verlangen, Dollars akzeptieren, sofern nicht außerwirtschaftliche Pressionen auf sie ausgeübt werden? Dies ist allerdings eine durchaus anfechtbare Überlegung, denn solange die Dollars ‚so gut wie Gold’ galten, waren sie in Wirklichkeit besser als Gold, da sie Zinsen brachten. Die Einwände wirtschaftlicher Art sind erst während der letzten drei oder vier Jahre unausbleiblich geworden, als die Inflation in den Vereinigten Staaten die europäische Inflationsrate überflügelte und zu Defiziten führte, die sich nicht mehr mit den durchschnittlichen Defiziten früherer Jahre vergleichen lassen. Solange sich die Defizite um zwei oder drei Milliarden Dollar bewegten, was in etwa den Kosten der amerikanischen Außenpolitik oder dem Wert der direkten Auslandsinvestitionen entsprach, konnte der Gouverneur einer Zentralbank sehr wohl aus eigenem Antrieb anstelle von Gold Dollars als Devisenreserve vorziehen.

Die europäischen Finanzminister und Zentralbankgouverneure befürchteten die Konsequenzen einer Krise. Seit 1964 oder 1965 wußten sie alle, wie die ständig heraufbeschworene Krise vermutlich ablaufen würde. Eines Tages würden die Börsen und Wechselstuben geschlossen sein, und der Präsident der Vereinigten Staaten würde den Dollar für nichtkonvertierbar - zumindest nicht in Gold konvertierbar - erklären. Keiner kam darauf, daß die Verantwortlichen in Washington sich zu der orthodoxen Lösung, nämlich zur Aufwertung des Goldes entschließen würden. Wollte man den als unerläßlich betrachteten Goldvorrat behalten, so blieb für den Fall, daß die ausländischen Zentralbanken sich weigern sollten, weiterhin Dollars aufzuhäufen, als einziger Ausweg, den Dollar für nichtkonvertierbar zu erklären.
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Die Krise, die zur Nichtkonvertierbarkeit des Dollar führte, glich in jeder Hinsicht dem Run auf eine Bank, die nicht über hinreichende Barmittel verfügt, deren Aktiva jedoch bei weitem ihre Passiva übersteigen. Natürlich können die Vereinigten Staaten als übernationaler Bankier die zig Milliarden Dollar in der Hand von ausländischen Gläubigern nicht von einem Tag auf den anderen konvertieren. (...)

Hat die Krise von 1971 bewiesen, daß der Dollar seit 20 Jahren überbewertet war? Sie hat zumindest gezeigt, daß diese These vertretbar ist. Hat sie die Thesen von Kindleberger oder S. C. Kolm über die ‚Monetisierung’ des französischen Kapitals oder die übernationale Bankiersrolle der Vereinigten Staaten auf makroökonomischer Ebene widerlegt? Ganz gewiß nicht. Die Vereinigten Staaten spielen weiterhin diese Rolle, auch nachdem der Dollar nichtkonvertierbar wurde. Allerdings hat die Krise gezeigt, daß dieser Bankier wie alle Bankiers nicht dem Risiko entgeht, durch die Differenz zwischen kurzfristigen Verbindlichkeiten und liquiden Aktiva insolvent zu werden. Sie hat gleichfalls bewiesen, daß es nachteilig ist, eine nationale Währung, die nicht entsprechend den Bedürfnissen des internationalen Systems, sondern gemäß den Anforderungen der inländischen Wirtschaftssituation verwaltet wird, als übernationale Währung zu verwenden. Solange die Inflationsrate in den Vereinigten Staaten unter der europäischen blieb, konnte ein Defizit von zwei bis drei Milliarden Dollar den Kredit des Bankiers nicht erschüttern, doch als zu der Inflation, die seit 1965 durch den Vietnamkrieg bedingt war, noch ein wachsender Überhang an Dollars hinzutrat, die tatsächlich nicht mehr in Gold konvertierbar waren, trieb alles auf eine schnelle Entscheidung zu.

Mit einem Schlage änderte sich der Ton der Auseinandersetzung, und die Beteiligten - Minister und staatliche oder private Fachleute - griffen zu neuen Argumenten, die teilweise das genaue Gegenteil dessen waren, was sie kurz zuvor gesagt hatten.

In einem Punkt allerdings bewiesen die amerikanischen Sprecher - vom Präsidenten bis zum Professor der letzten Provinzuniversität - eine lückenlose Gemeinsamkeit: durchgängig bezeichneten sie das Gold verachtungsvoll als ein Relikt der Barbarei und verwarfen jeden Gedanken an eine drastische Heraufsetzung des amtlichen Preises, obwohl der Preis auf dem freien Markt annähernd das Doppelte des langjährigen offiziellen Preises (35 Dollar je Unze) erreicht hatte.
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Die Europäer hielten den Amerikanern die Privilegien vor, die ihnen durch die übernationale Funktion ihrer Währung zuwuchsen. Die Vereinigten Staaten seien das einzige Land, das sich in seiner Wirtschaftsführung nicht um die Zahlungsbilanz kümmere. Als einziges Land nähmen sie sich (im Gegensatz zu den IWF-Statuten) das Recht, bei einer defizitären Zahlungsbilanz nicht ihre direkten Auslandsinvestitionen einzustellen. Sie allein regelten ihr Defizit in der eigenen Währung, und die ausländischen Zentralbanken müßten sich damit abfinden, ihre Reserven in Dollars zu halten. Entsprechend der berühmten Formel aus Orwells ‚Farm der Tiere’ seien im internationalen Währungssystem alle Währungen gleich, nur eine Währung sei gleicher als die anderen.
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Ist das die Arroganz der Macht? Wenn ja, der wirtschaftlichen oder der militärischen Macht?“
Aus: Raymond Aron, Die imperiale Republik. Die Vereinigten Staaten von Amerika und die übrige Welt seit 1945. Stuttgart 1975, 278 - 295. (gekürzt)