Arbeitskämpfe in der Welt 1870 - 1996
Statistischer Rückblick auf den Gesamtverlauf von
125 Jahren Arbeiterbewegungen in der Welt seit 1870: Wann waren Höhepunkte, wann Tiefpunkte der
Arbeitskämpfe? Wie unterschieden sich die Kämpfe in den
kapitalistischen Metropolen von denen der
Peripherie? Welche Bedingungen förderten
Arbeitermilitanz? Welche Bedingungen dämpften
sie? Die amerikanische Soziologin Beverly J. Silver
wertete für ihre Untersuchung die Datenbank der "World Labor Group" über
einen Zeitraum von 125 Jahren aus, um "ein angemessenes Bild der
langfristigen weltweiten Verlaufsmuster von Arbeiterunruhen zu
erhalten". Exzerpt des Buches von Beverly J. Silver:
Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. (Forces of Labor).
Assoziation A, Berlin, Hamburg 2005. Unter den Begriff "Arbeiterunruhe" (im Singular) fallen
kollektive "nichtnormative" Handlungen, die die Zwänge der
Lohnabhängigkeit zum Inhalt haben und sich gegen Kapitaleigner und ihre
Vertreter oder gegen den Staat "als Vermittler oder Vertreter des
Kapitals" (Silver: 58) richten. Solche Handlungen können verabredet
sein wie Streiks, Blockaden, Demonstrationen oder nicht verabredete,
spontane Widerstandsformen wie Bummelstreik, Blaumachen, Migration etc.,
sofern sie "weit verbreitet sind und kollektiv angewandt werden".
Alleinige Grundlage der Datenerhebung war die
Berichterstattung der Londoner
"Times" und der "New York Times". Es wurden also nur solche Arbeiteraktionen erfasst
und ausgewertet, die von diesen beiden bürgerlichen
Zeitungen, "den wichtigsten
Zeitungen der beiden hegemonialen Weltmächte des 19. und 20.
Jahrhunderts", für berichtenswert gehalten
wurden. Es wurden über den Zeitraum von 125 Jahren 91.947
Berichte über Arbeiterkämpfe erfasst. Sie sind vielleicht nicht
vollständig, aber sie sind immer vom gleichen Beobachter erhoben und daher
einigermaßen konsistent und miteinander
vergleichbar. Text in Normal (mit Seitenangabe): Beverly J.
Silver. Auslassungen sind durch drei Punkte ...
gekennzeichnet. Wortverschiebungen innerhalb eines Satzes durch
Einklammern der (verschobenen Worte). Meine Textteile, die zusammenfassen und
überleiten, sind in Kursiv. Die Überschriften stammen von mir, sind aber
nicht kursiv. 1. Allgemeiner Verlauf von
125 Jahren Arbeiterbewegungen Grafik 01
Die Grafik 01 zeigt den Gesamtverlauf der
Arbeiterbewegungen in der Welt über 125 Jahre hinweg. Folgendes ist auf
den ersten Blick zu entnehmen: 1) Die Arbeiterbewegungen zeigen einen zyklischen
Verlauf. 2) Die Maximum- und Tiefpunkte der
Arbeiterbewegung werden von den großen Kriegsereignissen des 20.
Jahrhunderts bestimmt. Die Jahre des Ersten wie des Zweiten Weltkriegs
markieren Tiefpunkte der Kämpfe. In den drei ersten Jahren nach den
Kriegsenden erreichten die Kämpfe ihre Höhepunkte.
3) In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben
die Arbeiterkämpfe einen
"explosiveren Charakter" (Silver: 165.) mit plötzlichen und starken
Ausschlägen, während die Kämpfe in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ein
gleichmäßigeres, aber hohes Niveau aufweisen. 4) Insgesamt stieg im Laufe des 20. Jahrhunderts
die Häufigkeit der Berichte über Lohnarbeitskämpfen und
Lohnarbeitsprotesten an. Selbst der deutliche Rückgang in den 80er und
90er bleibt auf einem höheren Niveau als die Arbeitskämpfe zwischen 1870
und 1900. Welche Unterschiede zeigen sich zwischen den
kapitalistischen Metropolen und der kapitalistischen Peripherie (koloniale
und halbkoloniale Gebiete und ihre
Folgestaaten)? Grafik
02
Der Verlauf der Arbeitskämpfe in den Metropolen
zeigt keine wesentlichen Unterschiede zum weltweiten Verlauf. Die
Lohnarbeiterkämpfe in den Metropolen domieren mengenmäßig und nach ihrer
zyklischen Verteilung. Die Bewegungen der kapitalistischen Peripherie
zeigen dagegen eine etwas andere Verlaufsform: Grafik
03
> 1) Die Kämpfe setzen mit 30 Jahren Verzögerung
ein. 2) Die Höhepunkte der Arbeiterbewegung in der
Dritten Welt liegen in den 50er und 60er Jahren. Sie wurden von der
Befreiung vom Kolonialismus (Entkolonisierung)
bestimmt. 3) Gemeinsam wiesen die Bewegungen der Peripherie
mit den Bewegungen in den Metropolen tiefe Einbrüche während den beiden
Weltkriegen auf und einen deutlichen Rückgang an Kämpfen in den 90er
Jahren. Kommen wir also zur Frage, welche Faktoren zu
einen Aufschwung und welche Faktoren zu einen Rückgang der
Lohnarbeiterkämpfe führen. Die Faktoren, die Beverly J. Silver dabei
untersuchte, sind - die Entwicklungsphasen des Kapitals innerhalb
einer Branche; - die Migration des Kapitals zwischen
verschiedenen Regionen eines
Landes oder der ganzen Welt; - die Migration des Kapitals zwischen
verschiedenen Branchen; - schließlich die Profitabilitätsentwicklung des
Kapitalismus insgesamt. Abgesehen von solchen objektiv feststellbaren
ökonomischen Faktoren spekulierte Beverly J. Silver nicht
darüber, "wie Phasen
intensiver Arbeitermilitanz mit Klassenbewusstsein oder seinem Fehlen
(oder seiner genauen Form) zusammenhängen." (Silver: 52).
2. Arbeitskämpfe und
Kapitalzyklen 2.1. Arbeitskämpfe in der
Textilindustrie Die Innovation neuer Techniken startete historisch
immer in den kapitalistischen Metropolen. Die Kämpfe in den Metropolen
gaben daher den Takt an für den Auf- und Abschwung der Arbeiterkämpfe in
der ganzen Welt. "Der Textilkomplex mit seinem Zentrum in
Großbritannien war der führende kapitalistische Sektor des 19.
Jahrhunderts, den Marx als repräsentatives Beispiel für die moderne
Industrie ansah." (Silver: 103). In Großbritannien waren "am Ende des 19. Jahrhunderts die stärksten
Gewerkschaften die der Textilarbeiter." (Silver: 109.) Aber diese
gewerkschaftliche Stärke entwickelte sich erst "nach der vernichtenden
Niederlage etablierter Bewegungen von Handwerkern." (Silver: 111.)
Grafik
04
Die Grafik 04 bildet den zeitlichen Ablauf der
weltweiten Arbeitskämpfe in der Textilindustrie ab.
"Im klassischen Produktzyklusmodell von Raymond
Vernon (1966) werden neu eingeführte Produkte zunächst vor allem in
Hochlohnländern produziert. Aber im Verlauf ihres 'Lebenszyklus' werden
die Produktionsstätten auf Standorte mit immer niedrigeren Kosten (vor
allem niedrigeren Löhnen) verstreut. In der 'Innovationsphase' des
Produktzyklus ist der Wettbewerbsdruck gering und die Kosten sind daher
relativ unwichtig. Aber wenn die Produkte die 'Reifephase' und schließlich
die 'Standardisierungsphase' erreicht haben, wächst die Zahl der
tatsächlichen und möglichen Wettbewerber und damit der Zwang, die Kosten
zu senken." (Silver: 103.) Es zeigt sich ein starker Anstieg der
Arbeitskämpfe in der Innovationsphase bis zur Periode, wo eine neue
Technik zum allgemeinen Standard wird. In der "Altersphase" dieser
Technik, wenn das Kapital in andere Regionen der Welt und in andere
Branchen und Technologien abwandert, flauen die Kämpfe
ab. "Die großen Wellen von Textilarbeiterunruhen in
Lancashire im zweiten und dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wurden
von den Handwerkern angeführt und richteten sich hauptsächlich gegen die
Einführung neuer Technologien - zum Beispiel gegen mechanische Webstühle
und Spinnautomaten, die ihre auf fachlicher Qualifikation beruhende Macht
untergruben." (Silver: 111). "Aber genauso wie es ein Jahrhundert später dem
Widerstand der Handwerker im Metallgewerbe nicht gelang, die Einführung
der Massenproduktionstechnologien im Automobilsektor zu verhindern, so
konnten in der Textilindustrie diese und spätere Streiks (wie der
Generalstreik 1842) die weitere Mechanisierung und den damit verbundenen
Lohnverfall nicht aufhalten." (Silver: 111.) "Als Nebeneffekt dieser Niederlagen entstand und
verbreitete sich ... eine neue Kategorie von Arbeitern, die die Maschinen
beaufsichtigten. In der Textilindustrie wurden aus (Hand)Spinnern
Maschinenführer." (Silver: 112). "In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten
diese neuen Textilarbeiter praktisch keinerlei gewerkschaftliche Macht,
weil durch die technologisch bedingte Arbeitslosigkeit ständig eine große
Reservearmee von Arbeitskräften geschaffen wurde. Erst in den siebziger
Jahren des 19. Jahrhunderts gelang es den Textilarbeitern, eine starke
Gewerkschaft für den ganzen Industriezweig zu bilden und zwischen 1869 und
1975 eine Reihe erfolgreicher Streiks durchzuführen, mit denen sie den
Textilfabrikanten beachtliche Zugeständnisse abrangen. Die Vereinigung der
Baumwollspinner und -spuler - gegründet 1870, als der Boom von
Fabrikneubauten zu Ende ging - blieb für ein halbes Jahrhundert eine der
stärksten Arbeiterorganisationen Großbritanniens." (Silver:
112.) Diese Kämpfe konnten "stabile Klassenkompromisse durchsetzen, die den
Arbeiterinnen und Arbeitern beträchtliche materielle Vorteile garantierten
und für Jahrzehnte die Grundlage relativen Arbeitsfriedens bildeten. ...
Die Kämpfe in Lancashire (führten) dazu, dass Lohnlisten aufkamen, die
weithin anerkannt waren und für Jahrzehnte gültig blieben." (Silver:
112.) "Anders als die spätere Automobilindustrie war die
Textilindustrie räumlich und betrieblich sehr zersplittert. Die
Markteintrittsschranken waren im Textilsektor vergleichsweise niedrig. Zur
Produktionsaufnahme wurde relativ wenig fixes Kapital benötigt. Kleine
Firmen konnten konkurrenzfähig produzieren ..." (Silver:
113). Die regionale Ausbreitung der Textilindustrie
wurde noch dadurch erleichtert, dass "viele der Länder, die schnell die neuen
mechanisierten Produktionsmethoden übernahmen, ... auf eine lange
proto-industrielle Geschichte der Textilverarbeitung zurückblickten..."
(Silver: 113.) "Der Widerstand gegen die eigene Proletarisierung
... war ein entscheidender Faktor für Arbeiterunruhen in der kolonialen
und halbkolonialen Welt am Ende des 19. Jahrhunderts. Zur gleichen Zeit
wurden jedoch neue, strategisch positionierte Arbeiterklassen
geschaffen..." (Silver: 183f.) "Anfang der zwanziger Jahre (des 20. Jh.)
hatte diese Globalisierung der mechanisierten Textilproduktion weltweit
einen enormen Wettbewerbsdruck erzeugt. ... Die Textilunternehmer
(versuchten) die Produktion zu rationalisieren und die Kosten zu senken.
Das löste in den zwanziger und dreißiger Jahren wiederum eine weltweite
Welle von Arbeiterunruhen aus. ... Die Schauplätze gewaltiger
Streikbewegungen reichten von Manchester bis nach Bombay, Gastonia (North
Carolina, USA) und Shanghai." (Silver: 117). "Diese größere Verbreitung der
Textilarbeiterunruhen sollte nicht als Zeichen größerer Arbeitermacht
gedeutet werden, auch wenn die Militanz der Textilarbeiter und
-arbeiterinnen außer Frage steht. Kerr und Siegel (1964) klassifizieren
ihre Streikneigung als mittel bis hoch, ein Wert, der nur von
Bergarbeitern, Seeleuten und Hafenarbeitern übertroffen wurde - aber
erfolgreich waren ihre Proteste kaum. Im Gegensatz zu den überwältigenden
Siegen, die in den Kämpfen der Automobilarbeiter Ende der sechziger und
Anfang der siebziger Jahre errungen wurde, mussten die kämpferischen
Textilarbeiter und -arbeiterinnen in den zwanziger und dreißiger Jahren
fast ausnahmslos Niederlagen einstecken. Selbst in Großbritannien, der
Hochburg der Textilarbeitermacht, war diese Zeit von Niederlagen geprägt."
(Silver: 117f.) "Besonders aufschlussreich ist in diesem
Zusammenhang der Ausgang der großen Welle von Textilarbeiterunruhen im
Süden der USA, zu der auch ein Generalstreik im Jahr 1934 gehörte - nur
zwei Jahre vor den dammbruchartigen Erfolgen der CIO in der
Automobilindustrie. Obwohl sie entschlossen geführt wurden, waren diese
Streiks ausnahmslos Misserfolge. Der Generalstreik von 1934, der größte
einzelne Streik in der amerikanischen Geschichte, gipfelte in einer
vernichtenden Niederlage der Arbeiter." (Silver:
118.) "Die Erfolge der Textilarbeiter während der
Reifephase waren praktisch auf die Orte beschränkt, an denen sie auf die
Unterstützung von erstarkenden nationalen Befreiungsbewegungen
zurückgreifen konnten." - so in Indien 1919 und 1920 und in China von
der 30.Mai-Bewegung von 1925, die durch die Ermordung eines
Textilarbeiters ausgelöst wurde, bis hin zum Generalstreik in Shanghai,
Februar 1927. "Als die Kolonien ihre Unabhängigkeit erlangten,
lösten sich die klassenübergreifenden Bündnisse der nationalistischen
Bewegungen tendenziell auf. Wenn die Führer der nationalistischen
Bewegungen erst einmal die Staatsmacht kontrollierten, verloren die
Arbeiter- und Bauernkämpfe stets viel von der früheren Unterstützung durch
andere Klassen der Gesellschaft." (Silver: 198.) "Angesichts der geringen strukturellen Macht der
Textilarbeiter überrascht es nicht, dass Organisationsmacht der
entscheidende Faktor für die oben beschriebenen Siege der Arbeiter war.
Die Erfolge der britischen Textilarbeiter am Ende des 19. Jahrhunderts
beruhten auf stabilen Gewerkschaften ..." (Silver:
123.) "In vergleichbarer Weise war die große
Organisationsmacht in Form von klassenübergreifenden Bündnissen im Rahmen
von nationalen Befreiungskämpfen (solange solche Bündnisse hielten)
entscheidend für die Siege der Arbeiter in China und Indien. Dies waren
jedoch die Ausnahmen - in der Regel war die Organisationsmacht der
Textilarbeiter nicht groß genug, um den Mangel an struktureller Macht
auszugleichen." (Silver: 123.) 2.2. Arbeitskämpfe in der
Automobilindustrie "Die 'Peripherisierung' des Textilkomplexes in den
ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts fiel mit dem Aufstieg der
neuartigen Massenproduktion in der Automobilindustrie zusammen, deren
Zentrum in den USA lag. Sie war nicht nur ökonomisch der neue führende
Sektor, sondern setzte auch die gesellschaftlichen und kulturellen
Standards ihrer Zeit." (Silver: 103). Im 20. Jahrhundert sind "unter den Automobilarbeitern in der
Massenproduktion in völlig verschiedenen kulturellen und
politischen Milieus auffallend ähnliche Arbeiterbewegungen
entstanden." (Silver: 53). Grafik
05
"Am 30. Dezember 1936 besetzten Arbeiter die
Fisher-Karosseriewerke Nr. 1 und 2 von General Motors in Flint
(US-Bundesstaat Michigan). Am 12. März 1937 musste General Motors ...
kapitulieren und einen Vertrag mit den United Auto Workers (UAW)
unterzeichnen. Damit begann eine Flut von Streiks, die der industriellen
Massenproduktion in den USA die gewerkschaftliche Organisierung einbrachte
- und das in einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit ... und angesichts eines
kläglichen Organisierungsgrades unter den Arbeitern
... Der aktive Sitzstreik in Flint, der das
Fisher-Karosseriewerk von GM lahm legte, wurde von einer 'militanten
Minderheit' von Automobilarbeitern geplant und durchgeführt, ... indem sie
unerwartet des Fließband anhielten und sich im Werk hinsetzten. ... Da die
technische Kontrolle die gesamten Arbeiter miteinander verband, schlossen
sich alle automatisch dem Streik an, sobald das Band stillstand." (Silver:
69f.) Die Lohnarbeiter in anderen Werken von GM
schlossen sich diesem Streik an. "Der Ausstoß des Konzerns fiel von 50.000
Fahrzeugen monatlich im Dezember auf bloße 125 in der ersten Februarwoche.
Um den Streik zu beenden und die Produktion wieder aufzunehmen, war GM
gezwungen, seine kompromisslos gewerkschaftsfeindliche Haltung aufzugeben
und mit der UAW einen Vertrag auszuhandeln, der für die Arbeiter in
zwanzig Werken galt." (Silver: 70). "Nach dem Erfolg der UAW wurde es für ein halbes
Jahrhundert zu einer der beständigen Strategien der Automobilkonzerne, die
Produktion von den Gewerkschaftshochburgen weg zu verlagern. Schon 1937
erwarb GM ein Motorenwerk in Buffalo, um seine Abhängigkeit von Flint zu
verringern, und begann kurz danach, die Produktion auf ländliche Gebiete
und den Süden der USA zu verteilen." (Silver: 70). "Die 'Südstrategie' ... wurde 1979 hinfällig, als
die UAW in einer Machtprobe die Ausweitung des GM-Tarifvertrags auf alle
Werke im Süden durchsetzte." (Silver: 71.) "Die Automobilkonzerne reagierten, indem sie die
schon laufende Produktionsverlagerung in Regionen mit größeren
Arbeitskraftreserven außerhalb der USA intensivierten." (Silver:
71.) Seit der politischen Stabilisierung des Weltmarkts
nach dem Zweiten Weltkrieg durch die USA flossen in großem Maße
Investitionen nach Europa und andere Teile der
Welt. Grafik06
Der geografische Schwerpunkt der
Automobilarbeiterkämpfe verschob sich mit dem neu investierten Kapital in
der Automobilindustrie "im Laufe
der Zeit mehrmals räumlich ... - von Nordamerika in den dreißiger Jahren
und vierziger Jahren über Nordwest- (und dann Süd-)Europa in den sechziger
und siebziger Jahren hin zu einer Gruppe sich schnell industrialisierender
Länder in den achtziger und neunziger Jahren." (Silver:
65.) Obwohl
"diese Wellen von Arbeiterunruhen ... sich unter politisch-kulturellen
Umständen und in historischen Phasen abspielten, die sehr verschieden
waren, (weisen sie) erstaunliche Ähnlichkeiten auf... Sie brechen mit
einer für zeitgenössische Beobachter unerwarteten Plötzlichkeit und Stärke
hervor. Obwohl sie es mit gewerkschaftsfeindlichen Arbeitgebern (und
manchmal feindseligen Regierungen) zu tun hatten, haben sie schnell große
Erfolge erzielt. Alle nutzten unkonventionelle Protestformen - besonders
den Sitzstreik (in den Werkhallen) - mit denen sie immer wieder
riesige Industrieanlagen lahm legten ... In allen Fällen bestanden die
Belegschaften überwiegend aus internationalen und interregionalen
Migranten und Migrantinnen der ersten und zweiten Generation. Die
Automobilarbeiterkämpfe fanden starke Unterstützung aus den umliegenden
Wohnbezirken und erlangten über die jeweilige Industrie und die dort
Beschäftigten hinaus landesweite politische Bedeutung. Insofern stellten
diese Kämpfe auch jeweils einen 'Wendepunkt' in den Beziehungen zwischen
Arbeiterklasse und Kapital dar." (Silver: 68). "Die Kapitalabwanderung untergrub die
Arbeitermacht an bisherigen Produktionsstandorten, gleichzeitig wurden
aber an den neuen Orten industrieller Ausweitung neue Arbeiterklassen
geschaffen. Im Ergebnis haben sich zwischen den dreißiger und neunziger
Jahren nicht nur die Techniken der Massenproduktion von Automobilen von
den USA über Westeuropa bis hin zu einer Gruppe rasch industrialisierter
Schwellenländer verbreitet, sondern auch eine charakteristische Form der
Arbeitermilitanz." (Silver: 69). "Unsere These ist, dass die Massenproduktion in
der Automobilindustrie dort, wo sie anwächst, fast überall und immer
wieder ähnliche soziale Widersprüche erzeugt. Wo auch immer die
fordistische Massenproduktion expandierte, entstanden im Gegenzug starke
und einflussreiche Arbeiterbewegungen. Das führte wiederum dazu, dass die
Kapitalisten die Produktion an Orte mit billigerer und vermeintlich auch
gefügigerer Arbeitskraft verlagerten. Damit wurden die Arbeiterbewegungen
an den Orten des Kapitalabzugs geschwächt, aber gleichzeitig
Arbeiterklassen an neuen Orten gestärkt. ... In einem Satz
zusammengefasst, lässt die Entwicklung der Automobilindustrie folgenden
Schluss zu: Wohin das Kapital auch geht, die Konflikte gehen mit."
(Silver: 63f.) "Die strukturelle Arbeitermacht war in der neuen
Leitindustrie (Automobile) weit größer als in der alten (Textilien). Die
Automobilarbeiter verfügten über mehr Produktionsmacht, weil diese
Industrie anfälliger gegenüber den Störungen war, die Arbeiter und
Arbeiterinnen in der Produktion verursachen konnten. Und sie hatten mehr
Marktmacht, weil sich diese Industrie nicht so einfach räumlich verlagern
lässt wie die Textilproduktion." (Silver: 125.) Der Erfolg dieser Kämpfe zog "eine Reihe von Management-Strategien nach sich,
welche die Arbeiterbewegungen strukturell schwächten. Kurzfristig wurde
eine 'verantwortungsvolle Gewerkschaftsarbeit' und die
Institutionalisierung von Tarifverhandlungen gefördert, um damit die
Gewerkschaftsführer dafür zu gewinnen, an der Eindämmung von
Produktionsstörungen durch die Arbeiterbasis mitzuwirken. Kurz- und
mittelfristig wurde die Arbeit automatisiert und jede neue Investition in
Regionen abseits der Gewerkschaftshochburgen gelenkt. Diese
Umstrukturierung des Kapitals untergrub sowohl die Arbeitermacht in der
Produktion als auch die materiellen Grundlagen des Widerstands." (Silver:
68.) "Wir haben schon erwähnt, dass die
Nachkriegsgesellschaftsverträge in den Metropolen darauf bauten, dass die
Gewerkschaften die Einführung neuer Technologien zur Produktionssteigerung
unterstützten." (Silver: 199). "Eine große Welle von Arbeiterunruhen ist in jeder
neuen Phase von Produktionsverlagerungen einer der 'push'-Faktoren, die
wiederum eine neue Runde der Klassenbildung auslösen. ... Die
Innovationsphase des Automobil-Lebenszyklus (stieß) mit den CIO-Kämpfen in
den USA an ihre Grenzen. Die Grenzen der zweiten, der Reifephase wurden
mit der Welle von Arbeiterunruhen in Europa am Ende der sechziger und in
den siebziger Jahren erreicht, und das Ende der dritten Phase, der
Standardisierung, zeichnet sich mit den vielfältigen Schüben von
Arbeitermilitanz in den Schwellenländern in den achtziger und neunziger
Jahren ab." (Silver: 104.) "Den Innovatoren fallen monopolistische
Extra-Profite ... zu. Aber im Verlauf des Lebenszyklus sinkt die
Profitabilität der Industrie von Phase zu Phase." (Silver: 105). Die
kapitalistischen Frühstarter einer Branche konnten daher "großzügigere
und stabilere Klassenkompromisse finanzieren, weil ihnen als Innovatoren
des Zyklus die monopolistischen Extraprofite zufielen. Mit deren Hilfe
konnten sich die US-amerikanischen Automobilhersteller nach den
CIO-Kämpfen in den dreißiger Jahren auf einen stabilen Klassenkompromiss
und einen Gesellschaftsvertrag des Massenkonsums einlassen, die vierzig
Jahre Bestand hatten. Gegen Ende des Lebenszyklus wird es hingegen
ökonomisch immer schwieriger, solche Gesellschaftsverträge
aufrechtzuerhalten, weil mit dem intensiveren Wettbewerbsdruck die Profite
absinken..." (Silver: 105.) "Die in Westeuropa produzierenden
Automobilhersteller reagierten auf die beeindruckenden Erfolge der
Arbeiterbewegung (Ende der 60er Jahre) ähnlich wie die US-Konzerne in den
dreißiger und vierziger Jahre auf die Siege der CIO. Prozessinnovationen,
darunter die schnelle Roboterisierung arbeitsintensiver Aufgaben, die
Förderung einer 'verantwortungsbewussten Gewerkschaftspolitik' und
Produktionsverlagerungen - all dies wurde auf energische Weise
vorangetrieben. ... Auch die Auswirkungen auf die Arbeitermacht waren
ähnlich wie in den USA. Anfang der achtziger Jahre befanden sich die
Arbeiterbewegungen in Westeuropa (einschließlich der Automobilarbeiter)
alle in der Defensive. ... Die Ende der sechziger Jahre erzielten
Errungenschaften waren größtenteils wieder aufgehoben worden." (Silver:
76.) "Sowohl im Produktzyklus des Autos wie der
Textilien ließen sich keine 'monopolistischen Extraprofite' wie in der
Innovationsphase mehr erzielen, sobald die Epizentren der Produktion (und
der Arbeiterkämpfe) in Niedriglohngebiete verlagert wurden. Dadurch
verringerten sich die Spielräume für die Etablierung stabiler
Klassenkompromisse." (Silver: 213.) "Aufgrund ihrer größeren Macht waren die
Automobilarbeiter sehr viel erfolgreicher in ihren Kämpfen - sie waren
jedoch nicht unbedingt militanter. Wenn wir einfach die Zahl der
Hochpunkte von Arbeiterunruhen ... zusammenzählen, würden wir sogar zu dem
Schluss kommen, dass die Textilarbeiter im Vergleich zu den
Automobilarbeitern über ein höheres Niveau von Militanz verfügten."
(Silver: 125f.) "Die Automobilhersteller sehen sich unter dem
Druck von Arbeiterunruhen gezwungen, einen Teil ihrer Arbeitskräfte vor
den härtesten Auswirkungen einer unregulierten Weltwirtschaft zu schützen,
um damit der Hierarchie von Arbeiterklasse und Kapital mehr Legitimität zu
verschaffen. Der harte Konkurrenzdruck führt aber zu Profitabilitätskrisen
und treibt die Automobilhersteller zu kostensparenden Maßnahmen, die
fortlaufend Grad und Umfang dieses Schutzes bedrohen." (Silver:
98.) "Die den Gewerkschaftsführern zugewiesene Rolle
der Disziplinierung der Basis drohte ständig, einen Keil zwischen
Gewerkschaftsführern und Mitglieder zu treiben. Falls es dazu kam, konnten
die Gewerkschaftsführer die Militanz der Belegschaft nicht länger wirksam
kontrollieren. Wenn sie aber auf die von der Basis kommenden Beschwerden
eingingen, mussten sie sich aus den korporatistischen Strukturen
zurückziehen. So führten beiden Wege zum gleichen Ergebnis - nämlich der
Unfähigkeit, die Militanz der Basis zu kontrollieren." (Silver:
193). "Zusammenfassend können wir festhalten, dass die
Gesamtdynamik der weltweiten Arbeiterunruhe in den Auf- und Abstieg von
Produktzyklen eingebettet ist, die mit Veränderungen im Ausmaß und
Charakter der Arbeitermacht einhergehen." (Silver:
126.) "Zusammenfassend können wir sagen, dass all die
verschiedenen Versuche, in den Nachkriegsjahrzehnten starke
Arbeiterbewegungen einzubinden und zu kontrollieren, ihre Grenzen und
Widersprüche hatten. Reformen waren ... teuer. Darüber hinaus stärkten
Reformen die Arbeitermacht, da sie die Arbeiter vor der vollen Wucht der
Marktkräfte schützten. Damit erzeugten sie Spannungen, die durch
korporatistische Strukturen gelöst werden sollten (aber nicht vollständig
gelöst werden konnten.) Repression - immer noch ein wichtiges Werkzeug im
Repertoire der Kontrolle über die Arbeiter - war ebenfalls eine instabile
Lösung." (Silver: 202.) "Die Zugeständnisse, mit denen die
Arbeiterbewegungen unter Kontrolle gebracht werden sollen, bringen das
System im Gegenzug an den Rand einer Profitabilitätskrise. Auf der anderen
Seite ziehen die Anstrengungen des Kapitals (und der Regierungen) zur
Wiederherstellung der Profitabilität des Kapitals ... zur
Wiederherstellung der Profitabilität den Bruch der vereinbarten
Sozialpakete ... nach sich ... Dadurch schaffen sie wiederum eine
Legitimationskrise und eine widerständige Gegenbewegung. Diese beiden
Tendenzen - Krise der Profitabilität und Krise der Legitimität - erzeugen
eine fortwährende Spannung innerhalb des historischen Kapitalismus. Eine
Form der Krise kann nur durch Maßnahmen gelöst werden, die letztendlich
die andere Form der Krise herbeiführt." (Silver: 39).
2.3. Arbeitskämpfe im
Transportwesen Arbeitskämpfe im Transportwesen bilden einen
überproportionalen Anteil aller Arbeitskämpfe: "im Durchschnitt 35 Prozent aller
industriespezifischen Nennungen von 1870 bis 1996. Damit bilden die
Arbeiterunruhen im Transportsektor die größte Kategorie. Sie liegt sogar
vor der verarbeitenden Industrie (21 Prozent) und dem Bergbau (18
Prozent)." (Silver: 127.) Grafik
07
Bemerkenswert sind dabei einerseits der (relative)
Rückgang von Arbeitskämpfen im Bereich Schifffahrt/Häfen und die
(relative) Zunahme der Arbeitskämpfe in der Luftfahrt.
"Prozessinnovationen haben in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts die Zahl der - historisch für ihre Militanz bekannten
- Hafenarbeiter drastisch reduziert. Der dramatische Rückgang bei den
Nennungen von Arbeiterunruhen in diesem Bereich ... geht zum großen Teil
auf diese Innovationen zurück." (Silver: 130.) "Transportarbeiter verfügten und verfügen
weiterhin über relativ viel Produktionsmacht. Das wird besonders deutlich,
wenn wir unter ihrem Arbeitsplatz des gesamte Vertriebsnetz verstehen, in
das sie eingebunden sind. Ihre Produktionsmacht speist sich oftmals
weniger daraus, wie ihre Aktionen unmittelbar auf ihre eigenen (in vielen
Fällen öffentlichen) Arbeitgeber wirken, sondern aus den mittelbaren
Folgen der Nichtlieferung von Gütern, Dienstleistungen und Menschen auf
die gesamte Lieferkette." (Silver: 129.) "Da reibungslos funktionierende Transportsysteme
unentbehrlich für die Kapitalakkumulation sind ... hielten es die
Regierungen für notwendig, umfassend und frühzeitig in die
Transportarbeiterunruhen einzugreifen." (Silver: 131.)
2.4. Arbeitskämpfe und
Migration des Kapitals in andere Branchen "Bisher haben wir uns darauf konzentriert, die
Dynamik der Arbeiterunruhe innerhalb der Produktzyklen ...
phasenweise miteinander zu vergleichen. Aber die Zunahme der
Arbeiterunruhe in dem einen Produktzyklus und ihr Abflauen in dem anderen
sind keine zwei voneinander unabhängige Fallbeispiele. Vielmehr sind beide
Entwicklungen durch eine Dynamik zwischen den Industrien
miteinander verbunden ... Als die Textilindustrie das Ende ihrer
Reifephase erreichte (und Arbeiterunruhe wie Konkurrenzdruck eskalierten)
wich das Kapital auf neue und innovative Produktlinien aus, die weniger
von Arbeiterunruhe und Konkurrenzdruck betroffen waren - dazu gehörte auch
die Automobilindustrie." (Silver: 125.) "Kapitalistische Strategien zur Maximierung von
Profitabilität und Kontrolle beschränken sich ... nicht auf die
geografische Verlagerung industriellen Kapitals oder die Neuorganisierung
vorhandener Produktionslinien. Auf der Suche nach höheren Profiten und
größerer Kontrolle 'geht' das Kapital auch in neue Industrien und
Produktlinien." (Silver: 99.) Grafik
08
"Die Arbeiterunruhen verlagern sich ... nicht nur
innerhalb eines bestimmten Sektors von einem Ort zum anderen, sondern mit
dem Aufstieg und Niedergang führender Sektoren der kapitalistischen
Entwicklung wechseln auch die Hauptschauplätze von Klassenbildung und
Protest von einem Sektor zum anderen." 3. Zur aktuellen
Entwicklung 3.1. Profitkrise des
Kapitalismus und Krise der Arbeiterbewegungen "Die Arbeiterbewegungen - vor allem die in den
Metropolen - wurden mittels verschiedener, miteinander verbundener
Sozialpakte auf betrieblicher, nationaler und internationaler Ebene (und
durch strukturelle Transformationen, die diese Pakte stützten)
eingebunden." (Silver: 166.) "Die von den USA betriebene Restrukturierung des
kapitalistischen Weltsystems schuf die Grundlagen für zwei Jahrzehnte
anhaltenden und profitablen Wachstums in den fünfziger und sechziger
Jahren - ein 'Goldenes Zeitalter des Kapitalismus'. Wachstum und
Profitabilität in diesem beispiellosen Ausmaß stellten wiederum die
materiellen Ressourcen bereit, mit denen die Sozialpakte der
Nachkriegsjahrzehnte bezahlt werden konnten. Doch wie schon das Goldene Zeitalter des
Kapitalismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts ... löste auch das schnelle
Wachstum von Welthandel und Weltproduktion in den fünfziger und sechziger
Jahren schließlich eine Überakkumulationskrise aus, die durch heftige
kapitalistische Konkurrenz und eine allgemeine Profitklemme gekennzeichnet
war. Im Rahmen dieser Krise flogen die Nachkriegs-Sozialpakte zur
Einbindung der Arbeiterklasse auseinander." (Silver:
202f.) Die Kapitalisten legen ihr Kapital
zunehmend "in Geldverleih,
Finanzintermediation und Spekulation" an (Silver:
169.) "Diese Finanzialisierung des Kapitals schwächte
die Marktmacht der Arbeiter und Arbeiterinnen in jenen 'überlaufenen'
Industriesektoren, aus denen sich das Kapital zurückzog." (Silver:
169.) "Von den Gewerkschaften wurde erwartet, im
Austausch für die Beteiligung an betrieblichen Entscheidungen ihre Basis
zu disziplinieren. Trotzdem waren auch diese Fabrikregimes von Spannungen
und Instabilitäten gekennzeichnet, da sie der Flexibilität des Kapitals im
Weg standen." (Silver: 204). "Anfang der achtziger Jahre waren die
betrieblichen Errungenschaften der Arbeiterbewegung in den Metropolen
weitgehend rückgängig gemacht worden. ... Die Arbeiter kämpften für die
Aufrechterhaltung der bestehenden Gesellschaftsverträge. ... Zu diesen
Ereignissen gehören unter anderem der britische Bergarbeiterstreik, der
Streik der US-Fluglotsen und die Machtprobe bei Fiat in Italien. Diese
Streiks waren weitgehend defensive Kämpfe (das heißt sie widersetzten sich
der Zerstörung von bestehenden Lebensweisen und existierenden
Gesellschaftsverträge.) ... Sie alle erlitten Niederlagen." (Silver:
205.) "In den neunziger Jahren war aus der Krise des
Weltkapitalismus und der Weltmacht USA ein weltweite Krise der
Arbeiterbewegung geworden." (Silver: 208) "Vom Jahre 2002 aus betrachtet scheint die Krise
der Arbeiterbewegung am Ende des 20. Jahrhunderts länger und tiefer zu
sein, als diejenige, die die Arbeiterbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts
durchmachten." (Silver: 209.) 3.2. Aufspaltung in
privilegierte und prekäre Belegschaften In jüngerer Zeit, in den 80er und 90er Jahren,
erfolgte die Auslagerung der Produktion nicht nur geografisch, sondern
auch juristisch über ein Puffersystem von Subunternehmen und prekär
beschäftigten Lohnarbeitern. Dieses System wurde vor allem in Japan zur
Reife entwickelt. Der Erfolg dieses Systems beruht auf der "Einrichtung
eines großen 'Puffers' prekär beschäftigter Arbeiter und Arbeiterinnen in
den unteren Ebenen des Subunternehmersystems sowie von 'Teilzeit-' und
'Aushilfskräften' in den Betrieben der oberen
Ebene. "Die Arbeiter der oberen Ebenen werden
wahrscheinlich über eine große Produktionsmacht verfügen, aber auf weniger
Missstände treffen. Und gleichzeitig dürften sie physisch und psychisch
von den Arbeitern der unteren Ebenen getrennt sein, die sich mehr
Missständen gegenüber sehen und weniger strukturelle Macht haben."
(Silver: 98f.) Teilweise wird diese Aufspaltung der Belegschaften
durch regionale Entfernungen vertieft. Während die Planung und Steuerung
der Produktion in den Metropolen bei privilegierten Lohnarbeitern bleibt,
können prekäre Produktionsbereiche bis nach Asien ausgelagert
werden. "Die in den achtziger und neunziger Jahren
eingeführten Prozessinnovationen trugen dazu bei, die Hochlohnstandorte
gegenüber den Niedriglohnländern wieder konkurrenzfähig zu machen."
(Silver: 106.) "Metropolenregionen können es sich ... leisten,
hohe Löhne und 'lebenslange Beschäftigung' anzubieten, weil die Firmen
umfassend automatisierten und organisatorische Neuerungen einführen ..."
(Silver: 107.) "Dadurch ist es möglich, Legitimität und
Profitabilität gleichzeitig aufrechtzuerhalten, wenn auch für eine
schrumpfende Zahl von Beschäftigten." (Silver: 108).
3.3.
Schluss Die Arbeiterbewegung ist schon oft für tot erklärt
worden. Den Rückgang an gemeldeten Aktionen der Lohnarbeiter in der Welt
vor der Jahrtausendwende können nur diejenigen für das endgültige Aus
halten, die sich einbilden, der heutige Kapitalismus sei "grundsätzlich neu und
beispiellos". Wer dagegen "das Wesen des historischen Kapitalismus in einer
wiederkehrenden Dynamik" sieht, "zu der die beständige Neuschaffung
von Widersprüchen und Konflikten zwischen Arbeiterklasse und Kapital
gehört", der tendiert dazu "ein erneutes Auftauchen großer
Arbeiterbewegungen zu erwarten." (Silver: 44). Auch zu
"Anfang des 20. Jahrhunderts (waren) die zeitgenössischen Beobachter
sicher ..., die mit dem Fordismus verbundenen Umwälzungen würden das Ende
der Arbeiterbewegungen bedeuten." (Silver: 23) Mit der halbautomatisierten Massenproduktion des
Fordismus wurden damals die handwerklichen Qualifikationen der
ausgebildeten Arbeiter aus weiten Bereichen der Produktion verdrängt.
Diese handwerklich gebildeten Facharbeiter hatten aber bisher die Kader
der in Parteien und Gewerkschaften fest organisierten Lohnarbeiter
gestellt. Mit dem Rückgang des Fordismus zumindest in den
Metropolen kehren wieder kleinere und mobilere Belegschaften - ähnlich der
Textilindustrie im 19. Jahrhundert - zurück. Mit den Produktionsanlagen
werden auch die Lohnarbeiter fragmentiert. Die Bedingungen für die
Arbeitskämpfe ändern sich dadurch. Notwendigkeit und Möglichkeit der
Arbeitermilitanz verschwinden keineswegs, sondern ähneln wieder den
Bedingungen des 19. Jahrhunderts. Obwohl die Lohnarbeiter in den
unternehmensorientierten Dienstleistungen in kleineren Unternehmen
arbeiten und fern von den "Schalthebeln" der Produktion und deshalb nur
über geringe Produktionsmacht verfügen, "errangen Arbeiterinnen auf der untersten Stufe
der unternehmensorientierten Dienstleistungen ... beachtliche Erfolge. Zu
dieser Erfolgsgeschichte gehören die Kampagne für einen 'Living Wage', die
sich zuerst in Baltimore entwickelte und auf mehr als dreißig Städte in
den USA übersprang, sowie die siegreiche 'Justice-for-Janitors'-Kampagne.
... Insbesondere wurde in diesen Kampagnen das klassische Modell der
Organisierung am Arbeitsplatz kritisch überprüft und ein neues Modell, das
sich stärker auf die Wohnbezirke bezieht, entwickelt. ... Daher versuchte
die "Living-Wage"-Kampagne in Baltimore, eine stadtweite Bewegung zu
schaffen, um die Löhne und Arbeitsbedingungen der "working poor" zu
verbessern. ... Wie im Fall der britischen Textilarbeiter, die einer
Vielzahl von Arbeitgebern gegenüberstanden, kam es vor allem auf die
flächendeckende Organisationsmacht an." (Silver:
141f.) "Auch die 'Justice-for-Janitors'-Kampagne
verzichtete darauf, die Beschäftigten in klassischer Weise am Arbeitsplatz
zu organisieren ... Stattdessen setzte die Kampagne auf offene
Straßenproteste, die sich gegen die Gebäudeeigentümer und deren
gewerbliche Mieter richteten." (Silver: 142.) "Alle diese Kampagnen waren .... in hohem Maße auf
'Verbündete in den nicht unmittelbar interessierten
Gesellschaftsschichten' angewiesen." (Silver: 142.) "Wir hatten gesagt, dass Arbeiterinnen und
Arbeiter mit geringer strategischer Macht nur dann siegreich sein können,
wenn sie über eine große Organisationsmacht verfügen (entweder durch
unabhängige Gewerkschaften wie im Fall der britischen Textilarbeiter oder
durch klassenübergreifende politische Bündnisse wie im Fall der indischen
und chinesischen Textilarbeiter)." (Silver: 153.) "Wir haben darauf hingewiesen, dass die vertikale
Desintegration der Produktion und die damit verbundene ausufernde Anzahl
von Produktionsstandorten und (tatsächlichen oder vorgetäuschten)
Arbeitgebern, denen sich die Arbeiter gegenüber sehen, die strukturelle
Arbeitermacht geschwächt haben. Aufgrund dieser strukturellen Schwäche
kommt der Organisationsmacht wieder eine besondere Bedeutung zu. In der
Tat ähneln die Rahmenbedingungen der Organisierung, mit denen die
Arbeiterinnen und Arbeiter am Beginn des 21. Jahrhunderts konfrontiert
sind, in gewisser Hinsicht mehr denen der Textilarbeiter im 19.
Jahrhundert als denen der Automobilarbeiter im 20. Jahrhundert." (Silver:
157.) "Falls die Bedeutung von Organisationsmacht
zunimmt, wird die zukünftige Entwicklung der Arbeiterbewegungen stark
durch den umfassenderen politischen Kontext beeinflusst werden, von dem
sie ein Teil sind." (Silver: 217). Aus: Beverly J. Silver, Arbeiterbewegungen und
Globalisierung seit 1870. Forces of Labor. Assoziation A, Berlin/Hamburg
2005. 284 Seiten, 18.- Euro. ISBN 3-935936-32-X Zusammengestellt von Wal
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