Die Einheit der sozialistischen Bewegung

 1. Wie breit kann und soll die Einheit der sozialistischen Bewegung sein?

„Als Marx die Internationale gründete, hat er die Allgemeinen Statuten so abgefasst, dass ihr alle proletarischen Sozialisten jener Zeit beitreten konnten - ... selbst der weiter fortgeschrittene Teil der englischen Gewerkschaftler; und nur dank dieser Breite ist die Internationale das geworden, was sie war, das Mittel zur allmählichen Auflösung und Aufsaugung all jener kleineren Sekten...
Hätten wir von 1864 - 73 darauf bestanden, nur mit denen zusammenzuarbeiten, die offen unsere (kommunistische) Plattform anerkannten - wo wären wir heute? Ich denke, unsere ganze Praxis hat bewiesen, dass es wohl möglich ist, mit der allgemeinen Bewegung der Arbeiterklasse in jeder einzelnen Etappe zusammenzuarbeiten, ohne unsere eigene aparte Stellung oder gar Organisation aufzugeben oder zu verbergen, und ich fürchte, dass die Deutsch-Amerikaner, wenn sie einen anderen Weg einschlagen, einen großen Fehler begehen werden.“ F. Engels an Kelley-Wischnewetzky, 27.1.1887, MEW 36, 598.

„Die Internationale setzt sich aus Sozialisten verschiedenster Schattierung zusammen. Ihr Programm ist ziemlich breit, um sie alle zu umfassen; die bakuninistische Sekte ist unter denselben Bedingungen wie alle anderen in sie aufgenommen worden.“ F. Engels, Bericht an die IAA, 1872, MEW 18, 141f.

„Gegenüber den phantastischen und antagonistischen Sektenorganisationen ist die Internationale die wirkliche und streitende Organisation der Proletarierklasse in allen Ländern, verbunden unter sich in ihrem Kampf gegen die Kapitalisten, die Grundeigentümer und ihre im Staate organisierte Klassenmacht.
Daher kennen die Statuten der Internationale nur ... (ein) Programm, das sich darauf beschränkt, nur die großen Hauptzüge des Ganges der Arbeiterbewegung zu zeichnen, und ihre theoretische Ausarbeitung dem durch die Bedürfnisse des praktischen Kampfes gegebenen Anstoß und dem Gedankenaustausch innerhalb der Sektionen überlässt, wie denn die Internationale ohne Unterschied jede sozialistische Überzeugung in ihren Organen und auf ihren Kongressen zulässt.“ K. Marx, F. Engels, Die angeblichen Spaltungen der Internationale, 1872, MEW 18, 34.

„Wer hat denn je bestritten, dass in der Reichtstags-Fraktion (der SPD, wb) nicht nur, sondern auch in der ganzen Partei, die kleinbürgerliche Richtung ebenfalls vertreten ist? Einen rechten und einen linken Flügel hat jede Partei, und dass der rechte Flügel der Sozialdemokratie kleinbürgerlicher Art ist, liegt in der Natur der Sache. Wenn’s weiter nichts ist, wozu dann all der Lärm?“ F. Engels an P. Ernst, 1.10.1890, MEW 22, 84.

2. Einheit des Handelns kann nicht ‚Einheit der Gedankens’ heißen. Einheit des Handels basiert auf der Freiheit der Kritik.

Marx und Engels zitieren Vorstellungen Bakunins über revolutionäre Organisationen: „ ‚...ist es notwendig, dass inmitten der Volksanarchie, welche eben das Leben und die ganze Kraft der Revolution bilden wird, die Einheit des Gedankens und des revolutionären Handelns ein Organ finde...’ ... Die Anarchie, das ‚entfesselte Volksleben’, die ‚bösen Leidenschaften’ usw. reichen nicht mehr aus. Um den Erfolg der Revolution zu sichern, bedarf es der Einheit des Gedankens und des Handelns. ...
Einheit des Gedankens und des Handelns heißt weiter nichts als Orthodoxie und blinder Gehorsam. Kadavergehorsam. Wir befinden uns mitten in der Gesellschaft Jesu.“ K. Marx, F. Engels, Ein Komplott gegen die IAA, 1873, MEW 18, 346.

“Es gehört zum Leben und Gedeihen einer jeden Partei, dass in ihrem Schoß gemäßigtere und extremere Richtungen sich entwickeln und selbst bekämpfen, und wer die extremeren kurzerhand ausschließt, befördert dadurch nur ihr Wachstum. Die Arbeiterbewegung beruht auf der schärfsten Kritik der bestehenden Gesellschaft. Kritik ist ihr Lebenselement, wie kann sie selbst der Kritik sich entziehen, die Debatte verbieten wollen? Verlangen wir denn von den anderen das freie Wort für uns bloß, um es in unseren eigenen Reihen wieder abzuschaffen? F. Engels an G. Trier, 18.12.1889, MEW 37, 328.

“Wir Deutschen sind gewöhnt, eine unumwundene Kritik sowohl innerhalb unserer eigenen Partei als auch gegenüber den anderen Nationalitätsgruppen der proletarischen Bewegung zu üben. Wir wissen zu gut, dass es kein größeres Glück für unsere Feinde geben könnte, als diese Bewegung in eine gegenseitige Beweihräucherungsgesellschaft oder eine gegenseitige Versicherungsgesellschaft für Agitatoren verwandelt zu sehen. Wir sind daher nicht so zartbesaitet ...“ F. Engels 1889, MEW 21, 521.

An die Adresse der SPD: „Eure ‚Verstaatlichung’ der Presse hat ihre großen Übelstände, wenn sie zu weit geht. Ihr müsst absolut eine Presse in der Partei haben, die vom Vorstand und selbst Parteitag nicht direkt abhängig ist, d.h. die in der Lage ist, innerhalb des Programms und der angenommenen Taktik gegen einzelne Parteischritte ungeniert Opposition zu machen und innerhalb der Grenzen des Parteianstandes auch Programm und Taktik frei der Kritik zu unterwerfen. Eine solche Presse solltet ihr als Parteivorstand begünstigen, ja hervorrufen, dann habt Ihr immer noch mehr moralischen Einfluss auf sie, als wenn sie halb gegen Euren Willen entsteht.
Die Partei wächst aus der bisherigen strammen Disziplin heraus, mit 2-3 Millionen und dem Zustrom ‚jebildeter’ Elemente ist mehr Spielraum nötig. ... Je eher Ihr selbst Euch und die Partei für diese veränderte Lage einrichtet, desto besser. Und das erste ist eine formell unabhängige Parteipresse.“ F. Engels an August Bebel, 19.11.1892, MEW 38, 517.

“Übrigens kann bei einer großen Partei nicht mehr die straffe Disziplin der Sekte fortbestehen, und das hat auch sein Gutes.“ F. Engels an K. Kautsky, 30.4.1891, MEW 38, 87.

“Der Rechtsboden, auf dem eine lebende Partei sich bewegt, muss nicht nur selbstgeschaffen, er muss auch jederzeit abänderbar sein.“ F. Engels an August Bebel, 14.11.1879, MEW 34, 418.

Wo es dem Verständnis dient, habe ich die Rechtschreibung, veraltete Fremdwörter, Maßeinheiten und Zahlenangaben modernisiert. Diese und alle erklärenden Textteile, die nicht wörtlich von Marx stammen, stehen in kursiver Schrift.

Anhang:
3.
Welche politische Einheit der sozialistischen Bewegung ist heute wünschenswert und machbar?

Der Sektenstandpunkt will den eigenen Standpunkt und die eigene Sekte zur Grundlage der Einheit der Bewegung machen. So hält der Sektierer theoretisch am Einheitsgedanken der Arbeiterbewegung und praktisch an seiner Sekte fest. Das kann man kritisieren und bedauern, aber nicht einfach aus der Welt schaffen.
Unter den gegebenen Umständen der Existenz vieler kleiner sozialistischer, anarchistischer und kommunistischer Organisationen und einer großen Menge in Gewerkschaften und Basisbewegungen engagierter Einzelpersonen ist nach meiner Meinung mindestens möglich, was die europäische Bourgeoisie für sich an politischer Einheit durch die Europäische Union erreicht hat, nämlich einen politischen Dachverband, der auf den bestehenden organisatorischen Strukturen aufbaut.
Dieses EU-Modell auf einen sozialistischen Dachverband angewandt heißt:
1. Dem sozialistischen Dachverband können und sollen sowohl Einzelpersonen wie ganze Organisationen beitreten. Die Mitgliedsbeiträge werden teils individuell eingezogen, teils über die Mitgliedsorganisationen abgeführt. Die Mitgliedsorganisationen und Einzelmitglieder erhalten Sitz und Stimme in allen Gremien nach Maßgabe ihrer zahlenmäßigen Größe.
2. In den Mitgliedsorganisationen können sowohl zentralistische wie basisdemokratische Strukturen fortbestehen. Der sozialistische Dachverband wird jedoch basisdemokratisch organisiert: Der Vorsitz in allen Gremien rotiert. Imperatives Mandat ist möglich, wo es gewünscht wird. Regelmäßig anfallende Verwaltungsarbeiten werden über rotierende Zeitverträge, nicht über fest angestellte „politische Beamte“ erledigt usw.
3. Um die Freiheit der Kritik zu wahren, gibt der sozialistische Dachverband auf absehbare Zeit KEINE eigene Zeitung oder Zeitschrift heraus, sondern verschickt Aufrufe und Pressemitteilungen seiner Gremien an linke Zeitungen und die bürgerliche Presse.

Die Herstellung der Einheit der sozialistischen Bewegung wird durch einen solchen sozialistischen Dachverband nicht auf die ferne Zukunft, wenn „alle Fragen geklärt sind“ verschoben, sondern kann sofort mit den jetzigen Gegebenheiten als ein sich vertiefender Prozess beginnen.
Wal Buchenberg, 25.09.2001.

Siehe den Artikel:

Partei des Proletariats

-> Diskussionsforum

Zur Zitierweise:

Wo es dem Verständnis dient, wurden veraltete Fremdwörter, alte Maßeinheiten und teilweise auch Zahlenbeispiele zum Beispiel in Arbeitszeitberechnungen modernisiert und der Euro als Währungseinheit verwendet. Dass es Karl Marx in Beispielrechnungen weder auf absolute Größen noch auf Währungseinheiten ankam, darauf hatte er selbst hingewiesen: Die Zahlen mögen Millionen Mark, Franken oder Pfund Sterling bedeuten.“ Kapital II, MEW 24, 396.

Alle modernisierten Begriffe und Zahlen sowie erklärende Textteile, die nicht wörtlich von Karl Marx stammen, stehen in kursiver Schrift. Auslassungen im laufenden Text sind durch drei Auslassungspunkte kenntlich gemacht. Hervorhebungen von Karl Marx sind normal fett gedruckt. Die Rechtschreibung folgt der Dudenausgabe 2000. Quellenangaben verweisen auf die Marx-Engels-Werke, (MEW), Berlin 1956ff.