Fortschritt

 

Die Vorstellung von Fortschritt ist wie der Entwicklungsgedanke (Evolution) ein Grundgedanke der modernen Weltanschauung.

Der große Grundgedanke, dass die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist, sondern als ein Komplex von Prozessen, worin die scheinbar stabilen Dinge nicht minder wie ihre Gedankenabbilder in unserem Kopf, die Begriffe, eine ununterbrochene Veränderung des Werdens und Vergehens durchmachen, in der bei aller scheinbaren Zufälligkeit und trotz aller momentanen Rückläufigkeit schließlich eine fortschreitende Entwicklung sich durchsetzt dieser große Grundgedanke ist, namentlich seit Hegel, so sehr in das gewöhnliche Bewusstsein übergegangen, dass er in dieser Allgemeinheit kaum noch Widerspruch findet. F. Engels, Ludwig Feuerbach, MEW 21, 293.

 

1. Fortschritt als zielgerichtete Veränderung

In Veränderungen Entwicklung und Fortschritt zu sehen, ist eine Sichtweise, die in der Vergangenheit Keime der Gegenwart und in der Gegenwart Keime der Zukunft findet.

Die so genannte historische Entwicklung beruht überhaupt darauf, dass die letzte Form die vergangenen als Stufen zu sich selbst betrachtet, und, da sie selten, und nur unter ganz bestimmten Bedingungen fähig ist, sich selbst zu kritisieren ..., sie immer einseitig auffasst. K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 26.

In der Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen. Die Andeutungen auf Höheres in den untergeordneten Tierarten können dagegen nur verstanden werden, wenn das Höhere selbst schon bekannt ist. Die bürgerliche Ökonomie liefert so den Schlüssel zur antiken etc. Keineswegs aber in der Art der Ökonomen, die alle historischen Unterschiede verwischen und in allen Gesellschaftsformen die bürgerlichen sehen ... K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 26.

Erscheinen einerseits die vorbürgerlichen Phasen als nur historische, i. e. aufgehobene Voraussetzungen, so die jetzigen Bedingungen der Produktion als sich selbst aufhebende und daher als historische Voraussetzungen für einen neuen Gesellschaftszustand setzende. K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 365.

 

2. In der Menschheitsgeschichte zeigt sich Fortschritt in wachsender Arbeitsproduktivität, die zu reicheren Lebens- und Arbeitsbedingungen führt

Man braucht nicht hinzuzufügen, dass die Menschen ihre Produktivkräfte die Basis ihrer ganzen Geschichte nicht frei wählen; denn jede Produktivkraft ist eine erworbene Kraft, das Produkt früherer Tätigkeit. Die Produktivkräfte sind also das Resultat der angewandten Energie der Menschen, doch diese selbst ist begrenzt durch die Umstände, in welche die Menschen sich versetzt finden, durch die bereits erworbenen Produktivkräfte, durch die Gesellschaftsform, die vor ihnen da ist, die sie nicht schaffen, die das Produkt der vorhergehenden Generation ist.

Dank der einfachen Tatsache, dass jede neue Generation die von der alten Generation erworbenen Produktivkräfte vorfindet, die ihr als Rohmaterial für neue Produktion dienen, entsteht ein Zusammenhang in der Geschichte der Menschen, entsteht die Geschichte der Menschheit, die umso mehr Geschichte der Menschheit ist, je mehr die Produktivkräfte der Menschen und infolgedessen ihre gesellschaftlichen Beziehungen wachsen. K. Marx, Brief an Annenkow (1846), MEW 4, 548.

Die Menge der Menschen zugänglichen Produktivkräfte (bedingt) den gesellschaftlichen Zustand und ... die Geschichte der Menschheit (muss) stets im Zusammenhang mit der Geschichte der Industrie und des Austausches studiert ... werden. K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 30.

Die wirkliche, fortschreitende historische Bewegung wird beherrscht von materiellen Errungenschaften, die bleiben. F. Engels, Anti-Dühring, MEW 20, 586.

Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen. Die Arbeitsmittel sind nicht nur Gradmesser der Entwicklung der menschlichen Arbeitskraft, sondern auch Anzeiger der gesellschaftlichen Verhältnisse, worin gearbeitet wird. K. Marx, Kapital I, MEW 23, 195.

... Die Menschen (fertigen) Tuch, Leinwand, Seidenstoffe unter bestimmten Produk-tionsverhältnissen an... Diese bestimmten sozialen Verhältnisse (sind) ebenso gut Produkte der Menschen wie Tuch, Leinen etc.

Die sozialen Verhältnisse sind eng verknüpft mit den Produktivkräften. Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse.

Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten. K. Marx, Elend der Philosophie, MEW 4, 130.

 

2.1. Treibende Kraft jeden Fortschritts ist das Schlechte, Negative

Auch die feudale Produktion hatte zwei antagonistische Elemente, die man gleichfalls als gute und schlechte Seite des Feudalismus bezeichnen kann, ohne zu berücksichtigen, dass es stets die schlechte Seite ist, welche schließlich den Sieg über die gute Seite davonträgt. Die schlechte Seite ist es, welche die Bewegung ins Leben ruft, welche die Geschichte macht, dadurch, dass sie den Kampf zeitigt.

Hätten zur Zeit der Herrschaft des Feudalismus die Ökonomen, begeistert von den ritterlichen Tugenden, von der schönen Harmonie zwischen Rechten und Pflichten, von dem patriarchalischen Leben der Städte, von dem Blühen der Hausindustrie auf dem Lande, von der Entwicklung der in Korporationen, Zünften, Innungen organisierten Industrie, mit einem Wort von allem, was die schöne Seite des Feudalismus bildet, sich das Problem gestellt, alles auszumerzen, was einen Schatten auf dieses Bild wirft Leibeigenschaft, Privilegien, Anarchie wohin wären sie damit gekommen? Man hätte alle Elemente vernichtet, welche den Kampf hervorriefen, man hätte die Entwicklung der Bourgeoisie im Keime erstickt. Man hätte sich das absurde Problem gestellt, die Geschichte auszustreichen. K. Marx, Elend der Philosophie, MEW 4, 140.

 

2.2. Kapital und Fortschritt

Das Hauptmittel der Verkürzung der Produktionszeit ist die Steigerung der Pro­duktivität der Arbeit, was man gewöhnlich den Fortschritt der Industrie nennt. K. Marx, Kapital III, MEW 25, 80f.

Die Natur baut keine Maschinen, keine Lokomotiven, Eisenbahnen, Telegraphen, Spinnautomaten. Sie sind Produkte der menschlichen Industrie; natürliches Material, verwandelt in Organe des menschlichen Willens über die Natur oder seiner Betätigung in der Natur. Sie sind von der menschlichen Hand geschaffene Organe des menschlichen Hirns; vergegenständliche Wissenskraft. Die Entwicklung des fixen Kapitals (d. h. der Maschinerie und Technologie) zeigt an, bis zu welchem Grad das allgemeine gesellschaftliche Wissen, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des allgemeinen Intellekts gekommen, und ihm gemäß umgeschaffen sind.

Die Entwicklung des fixen Kapitals zeigt an, bis zu welchem Grad die gesellschaftlichen Produktivkräfte produziert sind, nicht nur in der Form des Wissens, sondern als unmittelbare Organe der gesellschaftlichen Praxis; des realen Lebensprozesses. K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 594.

Die Entwicklung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit ist die historische Aufgabe und Berechtigung des Kapitals. Eben damit schafft es unbewusst die materiellen Bedingungen einer höheren Produktionsform. K. Marx, Kapital III, MEW 25, 269.

Es ist eine der zivilisatorischen Seiten des Kapitals, dass es diese Mehrarbeit in einer Weise und unter Bedingungen erzwingt, die der Entwicklung der Produktivkräfte, der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Schöpfung der Elemente für eine höhere Neubildung vorteilhafter sind als unter den früheren Formen der Sklaverei, Leibeigenschaft usw.

Es führt so einerseits eine Stufe herbei, wo der Zwang und die Monopolisierung der gesellschaftlichen Entwicklung (einschließlich ihrer materiellen und intellektuellen Vorteile) durch einen Teil der Gesellschaft auf Kosten des anderen wegfällt;

andererseits schafft sie die materiellen Mittel und den Keim zu Verhältnissen, die in einer höheren Form der Gesellschaft erlauben, diese Mehrarbeit zu verbinden mit einer größeren Beschränkung der der materiellen Arbeit überhaupt gewidmeten Zeit. K. Marx, Kapital III, MEW 25, 827.

Es liegt die treibende Seele der Arbeiterbewegung nirgendwo in den Prinzipien, sondern überall in der Entwicklung der großen Industrie und deren Wirkungen ... F. Engels, Wohnungsfrage, MEW 18, 265.

Der wirkliche Reichtum der Gesellschaft und die Möglichkeit beständiger Er­weite­rung ihres Reproduktionsprozesses hängt ... nicht ab von der Länge der Mehrarbeit, sondern von ihrer Produktivität und von den mehr oder minder reich­haltigen Produk-tions­bedingungen, worin sie sich vollzieht.

Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sa­che nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion.

Wie der Wilde mit der Natur ringen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muss es der Zivilisierte, und er muss es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktions­weisen.

Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnot-wendigkeit, weil die Bedürfnisse sich erweitern, aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoff­wechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen.

Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit.

Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbst­zweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Not­wendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung. K. Marx, Kapital III, MEW 25, 828.

 

2.3. Jeder Fortschritt ist gleichzeitig Rückschritt

Nur sobald die Menschen sich aus ihren ersten Tierzuständen herausgearbeitet, ihre Arbeit selbst also schon in gewissem Grad vergesellschaftet ist, treten Ver­hältnisse ein, worin die Mehrarbeit des einen zur Existenzbedingung des anderen wird. In den Kulturanfängen sind die erworbenen Produktivkräfte der Arbeit ge­ring, aber so sind die Bedürfnisse, die sich mit und an den Mitteln ihrer Befriedi­gung entwickeln.

Ferner ist in jenen Anfängen die Proportion der Gesellschaftsteile, die von frem­der Arbeit leben, verschwindend klein gegen die Masse der unmittelbaren Produ­zenten. Mit dem Fortschritt der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit wächst diese Propor-tion absolut und relativ. K. Marx, Kapital I, MEW 23, 534f.

Jeder neue Fortschritt der Zivilisation ist zugleich ein neuer Fortschritt der Ungleichheit. Alle Einrichtungen, die sich die mit der Zivilisation entstandene Gesellschaft gibt, schlagen in das Gegenteil ihres ursprünglichen Zwecks um. F. Engels, Anti-Dühring, MEW 20, 130.

Und jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebene Zeitfrist ist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit. ...

Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquel­len alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter. K. Marx, Kapital I, MEW 23, 529f.

Erst wenn eine große soziale Revolution die Ergebnisse der bürgerlichen Epoche, den Weltmarkt und die modernen Produktivkräfte, gemeistert und sie der gemeinsamen Kontrolle der am weitesten fortgeschrittenen Völker unterworfen hat, erst dann wird der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte. K. Marx, Britische Herrschaft in Indien, MEW 9, 226.

 

Siehe auch die Artikel:

Arbeitsproduktivität

Entwicklung

Geschichte

 

-> Diskussionsforum

Zur Zitierweise:

Wo es dem Verständnis dient, wurden veraltete Fremdwörter, alte Maßeinheiten und teilweise auch Zahlenbeispiele zum Beispiel in Arbeitszeitberechnungen modernisiert und der Euro als Währungseinheit verwendet. Dass es Karl Marx in Beispielrechnungen weder auf absolute Größen noch auf Währungseinheiten ankam, darauf hatte er selbst hingewiesen: Die Zahlen mögen Millionen Mark, Franken oder Pfund Sterling bedeuten. Kapital II, MEW 24, 396.

Alle modernisierten Begriffe und Zahlen sowie erklärende Textteile, die nicht wörtlich von Karl Marx stammen, stehen in kursiver Schrift. Auslassungen im laufenden Text sind durch drei Auslassungspunkte kenntlich gemacht. Hervorhebungen von Karl Marx sind normal fett gedruckt. Die Rechtschreibung folgt der Dudenausgabe 2000. Quellenangaben verweisen auf die Marx-Engels-Werke, (MEW), Berlin 1956ff.