Gattungswesen Mensch 1. Mit dem Begriff
„Gattung“ erfasst unser Denken in einer bestimmten Menge von
unterschiedlichen Dingen oder Sachverhalten das
Gemeinsame „Gattung wird
gebraucht von solchen menschen oder dingen, die zusammengehören,
zusammenpassen, ...“ Deutsches Wörterbuch
von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 4, Leipzig 1878,
1512. „... schon im 16.
Jahrh.: gattung, genus ... später wurden gattung und art logisch so
unterschieden, dass man jenes für genus, dieses für species brauchte ...“
Deutsches
Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 4, Leipzig 1878,
1514. So kann man z. B.
„Tisch“ als Art von der Gattung "Möbel“
unterscheiden. 1.1. Der
Gattungsbegriff geht auf Platon zurück „... Wer zuerst die
Gemeinschaft zwischen vielen Dingen bemerkt, (sollte) nicht eher
ablassen, bis er alle Verschiedenheiten in denselben gesehen hat
...; und wiederum, wenn die
mannigfaltigen Unähnlichkeiten an einer Mehrheit erschienen sind, dann
sollte man nicht ... eher aufhören, bis man alles Verwandte innerhalb
einer Ähnlichkeit eingeschlossen und unter das Sein einer Gattung
befasst hat.“ Platon, Politikos, 285
b. 1.3. Platon glaubte,
dass die Gattungsbegriffe uns angeboren waren, also vor und unabhängig von
den Menschen im Reich Gottes existierten „Denn der Mensch muss
nach Gattungen Ausgedrücktes begreifen, indem er von vielen Wahrnehmungen
zu einem durch Denken Zusammengebrachten fortgeht. Und dies ist Erinnerung
an jenes, was einst (vor ihrer Geburt) unsere Seele gesehen, als
sie Gott nachwandelte ...“ Platon, Phaidros, 249,
c. 1.4. Hegel machte die Begriffe „Gattung“, „Art“ und
„Individuum“ zur Grundlage seiner Logik als Dialektik vom Allgemeinen (=
Gattung), Besonderen (= Art) und Einzelnen (=
Individuum) In seiner Dialektik
übernahm Hegel auch die europäische Tradition von der Prä-existenz der
Gattung (Idee) vor der Art und dem Individuum: „Die Gattung teilt
sich oder stößt sich wesentlich in Arten ab; sie ist Gattung nur,
insofern sie Arten unter sich begreift; die Art ist Art nur, insofern sie
einerseits in Einzelheiten existiert, andererseits in der Gattung eine
höhere Allgemeinheit ist.“ G. W. F. Hegel,
Wissenschaft von der Logik II, Frankfurt 1986, 335. „Die Dinge überhaupt
haben eine bleibende, innere Natur und ein äußerliches Dasein. Sie leben
und sterben, entstehen und vergehen, ihre Wesentlichkeit, ihre
Allgemeinheit ist die Gattung, und diese ist nicht bloß als ein
Gemeinschaftliches aufzufassen.“ G. W. F. Hegel,
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, Frankfurt 1986,
82. 2. Gattungsbegriff bei
Karl Marx 2.1. Marx legte das
Wesen des Menschen in die „Gattung Mensch“ Damit lehnte er
alle Theorien ab, die das Wesen eines Menschen in seiner Rasse, seiner
Nation, seinem sozialen Stand oder seiner Klasse suchen. Nur Tiere sind
von ihrer Rasse bzw. Art geprägt, nicht die
Menschen. „Die einzige
Gleichheit, die im wirklichen Leben der Tiere hervortritt, ist die
Gleichheit eines Tieres mit den anderen Tieren seiner bestimmten Art, die
Gleichheit der bestimmten Art mit sich selbst, aber nicht die Gleichheit
der Gattung. Die Tiergattung selbst
erscheint nur in dem feindseligen Verhalten der verschiedenen Tierarten,
die ihre besonderen unterschiedenen Eigen-schaften gegeneinander
geltend machen.“ K. Marx,
Holzdiebstahl, MEW 1, 115. „Der Standpunkt des
neuen Materialismus ist die menschliche Gesellschaft oder
die vergesellschaftete Menschheit.“ K. Marx, Thesen über
Feuerbach 10, MEW 3, 535. Aber im Unterschied zu
Platon und Hegel ist die „Gattung Mensch“ bei Marx keine unwandelbare,
präexistierende Idee, sondern eine von den Menschen selbst geschaffene,
historisch wandelbare Größe. „Feuerbach löst das
religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche
Wesen ist kein dem einzelnen Individuum einwohnendes Abstraktum. In seiner
Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen
Verhältnisse. Feuerbach, der auf die
Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher
gezwungen: 1. von dem
geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren ... ein abstrakt – isoliert
– menschliches Individuum vorauszusetzen. 2. Das Wesen kann
daher (bei Feuerbach) nur als ‚Gattung‘, als innere, stumme, die
vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefasst
werden.“ K. Marx, Thesen über
Feuerbach 6, MEW 3, 534. 2.2. Die
Entwicklungsgeschichte der Menschheit ist eine zunehmende Trennung des
Individuums von der Gattung „Jene alten
gesellschaftlichen Produktionsorganismen (der Vor- und
Frühgeschichte) sind außerordentlich viel einfacher und durchsichtiger
als der bürgerliche, aber sie beruhen entweder auf der Unreife des
individuellen Menschen, der sich von der Nabelschnur des natürlichen
Gattungszusammenhangs mit andren noch nicht losgerissen hat, oder auf
unmittelbaren Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnissen. Sie sind
bedingt durch eine niedrige Entwicklungsstufe der Produktivkräfte der
Arbeit und entsprechend befangene Verhältnisse der Menschen inner-halb
ihres materiellen Lebenserzeugungsprozesses, daher zueinander und zur
Natur. Diese wirkliche Befangenheit spiegelt sich ideell wider in den
alten Natur- und Volksreligionen. Der religiöse
Widerschein der wirklichen Welt kann überhaupt nur verschwinden, sobald
die Verhältnisse des praktischen Werktagslebens den Menschen tagtäglich
durchsicht vernünftige Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen.
Die Gestalt des gesellschaftlichen Lebens-prozesses, d. h. des materiellen
Produktionsprozesses, streift nur ihren mystischen Nebelschleier ab,
sobald sie als Produkt frei vergesell-schafteter Menschen unter deren
bewusster planmäßiger Kontrolle steht.“ K. Marx, Kapital I,
MEW 23, 93f. „Der Mensch vereinzelt
sich erst durch den historischen Prozess. Er erscheint ursprünglich als
ein Gattungswesen, Stammwesen ... Der
(Waren-)Austausch selbst ist ein Hauptmittel dieser Vereinzelung.
Er macht das Herdenwesen überflüssig und löst es auf. Bald hat die
Sache sich so gedreht, dass der Warenbesitzer als Vereinzelter nur
mehr sich auf sich bezieht, die Mittel aber, um sich als Vereinzelter zu
setzen, sein sich Allgemein- und Gemeinmachen durch Warentausch
geworden sind. ... In der bürgerlichen Gesellschaft steht der Arbeiter z.
B. rein objektivlos, subjektiv da; aber die Sache, die ihm
gegen-übersteht, ist das wahre Gemeinwesen nun geworden, das
er zu verspeisen sucht, und von dem er verspeist wird.“ K. Marx, Grundrisse
der Kritik der politischen Ökonomie, 395f. „Ricardo betrachtet
mit Recht, für seine Zeit, die kapitalistische Produktionsweise als die
vorteilhafteste für die Produktion überhaupt, als die vorteilhafteste zur
Erzeugung des Reichtums. ... Stellt man, wie der Schweizer Ökonom
Sismondi, das Wohl der Einzelnen diesem Zweck gegenüber, so behauptet man,
dass die Entwicklung der Gattung aufgehalten werden muss, um das
Wohl der Einzelnen zu sichern, dass also z. B. kein Krieg geführt werden
dürfe, worin Einzelne jedenfalls kaputt gehen. ... Dass diese Entwicklung
der Fähigkeiten der Gattung Mensch, obgleich sie sich zunächst auf
Kosten der Mehrzahl der Menschenindividuen und ganzer Menschenklassen
macht, schließlich diesen Antagonismus durchbricht und zusammenfällt mit
der Entwicklung des einzelnen Individuums, dass also die höhere
Entwicklung der Individualität nur durch einen historischen Prozess
erkauft wird, worin die Individuen geopfert werden, wird (von Sismondi)
nicht verstanden, abgesehen von der Unfruchtbarkeit solcher
erbaulicher Betrachtungen, da die Vorteile der Gattung im Menschenreich
wie im Tier- und Pflanzenreich sich stets durchsetzen auf Kosten der
Vorteile der Individuen, weil diese Gattungsvorteile zusammenfallen mit
den Vorteilen besonderer Individuen, die zugleich die Kraft dieser
Bevorzugten bilden.“ K. Marx, Theorien über
den Mehrwert II, MEW 26.2, 111. Dass der Kommunismus
die Individualität zerstöre, ist „altes Gewäsch ...
Als ob an den jetzigen, durch die Teilung der Arbeit wider Willen zu
Schustern, Fabrikarbeitern, Bourgeois, Juristen, Bauern, d. h. zu Knechten
einer bestimmten Arbeit und der dieser Arbeit entsprechenden Sitten,
Lebensweisen, Vorurteile, Borniertheiten etc. gemachten Individuen
irgendeine Individualität zu zerstören wäre!“ F. Engels, Karl
Heinzen, MEW 4, 323. 3. Marx war zwar
„gelernter“ Philosoph, hatte sich aber von der Philosophie ab- und der
Wissenschaft zugewandt „Philosophische
Phraseologie“ (Vgl. MEW 3, 217) wie „Gattung Mensch“ etc. benutzte Marx
vor allem in seinen Frühschriften. In seinen späteren Veröffentlichungen
verzichtete er fast ganz darauf. Zu seinen philosophischen Frühschriften
bemerkte Marx: „Der Weg
zur materialistischen, nicht voraussetzungslosen, sondern
die wirklichen materiellen Voraussetzungen als solche empirisch
beobachtenden und darum erst wirklich kritischen Anschauung der
Welt ... (geschah) damals noch in philosophischer Phraseologie ...; so
gaben die hier traditionell unterlaufenden philosophischen Ausdrücke wie
‚menschliches Wesen‘, ‚Gattung‘ usw. den deutschen Theoretikern die
erwünschte Veranlassung, ... zu glauben, es handele sich hier wieder nur
um eine neue Wendung ihrer abgetragenen theoretischen Röcke
... Man muss ‚die
Philosophie beiseite liegen lassen‘ ... man muss aus ihr herausspringen
und sich als ein gewöhnlicher Mensch an das Studium der Wirklichkeit
geben, wozu auch ... ein ungeheures, den Philosophen natürlich unbekanntes
Material vorliegt. ... Philosophie und
Studium der wirklichen Welt verhalten sich zueinander wie Onanie und
Sex.“ K. Marx, Deutsche
Ideologie, MEW 3, 217f. Siehe auch die Artikel:
|
Zur
Zitierweise: Wo es dem Verständnis dient, wurden veraltete
Fremdwörter, alte Maßeinheiten und teilweise auch Zahlenbeispiele zum
Beispiel in Arbeitszeitberechnungen modernisiert und der Euro als
Währungseinheit verwendet. Dass es Karl Marx in Beispielrechnungen weder
auf absolute Größen noch auf Währungseinheiten ankam, darauf hatte er
selbst hingewiesen: „Die Zahlen mögen Millionen Mark, Franken oder Pfund
Sterling bedeuten.“ Kapital II, MEW 24, 396. Alle modernisierten Begriffe und Zahlen sowie erklärende Textteile, die nicht wörtlich von Karl Marx stammen, stehen in kursiver Schrift. Auslassungen im laufenden Text sind durch drei Auslassungspunkte kenntlich gemacht. Hervorhebungen von Karl Marx sind normal fett gedruckt. Die Rechtschreibung folgt der Dudenausgabe 2000. Quellenangaben verweisen auf die Marx-Engels-Werke, (MEW), Berlin 1956ff. |