Gesellschaft
1. Gesellschaft ist das Produkt des wechselseitigen Handelns der Individuen Ihr Handeln und damit
ihre Stellung innerhalb ihrer Gesellschaft bzw. innerhalb der
Untergliederungen ihrer Gesellschaft (Klassen) ist wiederum bestimmt durch
den Entwicklungsstand der Produktivkräfte. Wenn der Mensch von
Natur gesellschaftlich ist, so entwickelt er seine wahre Natur erst in der
Gesellschaft, und man muss die Macht seiner Natur nicht an der Macht des
einzelnen Individuums, sondern an der Macht der Gesellschaft messen.
K. Marx,
Hl. Familie, MEW 2, 138. Was ist die
Gesellschaft, welches immer auch ihre Form sei? Das Produkt des
wechselseitigen Handelns der Menschen. Steht es den Menschen
frei, diese oder jene Gesellschaftsform zu wählen? Keineswegs. Setzen Sie
(Adressat des Schreibens, Annenkow) einen bestimmten
Entwicklungsstand der Produktivkräfte der Menschen voraus, und Sie
erhalten eine bestimmte Form des Verkehrs ... und der Konsumtion. Setzen
Sie bestimmte Stufen der Entwicklung der Produktion, des Verkehrs und der
Konsumtion voraus, und Sie erhalten eine entsprechende soziale Ordnung,
eine entsprechende Organisation der Familie, der Stände oder der Klassen,
mit einem Wort eine entsprechende Gesellschaft ... Setzen Sie eine solche
Gesellschaft voraus, und Sie erhalten eine entsprechende politische
Ordnung (Staatsapparat), die nur der offizielle Ausdruck der
Gesellschaft ist. Man braucht nicht
hinzuzufügen, dass die Menschen ihre Produktivkräfte die Basis
ihrer ganzen Geschichte nicht frei wählen; denn jede Produktivkraft ist
eine erworbene Kraft, das Produkt früherer Tätigkeit. Die Produktivkräfte
sind also das Resultat der angewandten Energie der Menschen, doch diese
Energie selbst ist begrenzt durch die Umstände, in welche die Menschen
sich versetzt finden, durch die bereits erworbenen Produktivkräfte, durch
die Gesellschaftsform, die vor ihnen da ist, die sie nicht schaffen, die
das Produkt der vorhergehenden Generation ist. Dank der einfachen
Tatsache, dass jede neue Generation die von der alten Generation
erworbenen Produktivkräfte vorfindet, die ihr als Rohmaterial für neue
Produktion dienen, entsteht ein Zusammenhang in der Geschichte der
Menschen, entsteht die Geschichte der Menschheit, die umso mehr Geschichte
der Menschheit ist, je mehr die Produktivkräfte der Menschen und
infolgedessen ihre gesellschaftlichen Beziehungen
wachsen. Die notwendige Folge:
Die soziale Geschichte der Menschen ist stets nur die Geschichte ihrer
individuellen Entwicklung, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht.
Ihre materiellen Verhältnisse sind die Basis aller ihrer Verhältnisse.
Diese materiellen Verhältnisse sind nichts anderes als die notwendigen
Formen, in denen ihre materielle und individuelle Tätigkeit sich
realisiert. K. Marx, Brief an
Annenkow (1846), MEW 4, 548. Wenn also von Produktion die Rede ist, ist immer die Rede von Produktion auf einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsstufe von der Produktion gesellschaftlicher Individuen. K. Marx, Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 616. Die sozialen
Verhältnisse sind eng verknüpft mit den Produktivkräften. Mit der
Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre
Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art,
ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre
gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Handmühle ergibt eine Gesell-schaft
mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen
Kapitalisten. Aber dieselben Menschen, welche die sozialen Verhältnisse gemäß ihrer Produktionsweise gestalten, gestalten auch die Prinzipien, Ideen, die Kategorien gemäß ihren gesellschaftlichen Verhältnissen. K. Marx, Elend der Philosophie, MEW 4, 130. Persönliche
Abhängigkeitsverhältnisse (zuerst ganz naturwüchsig) sind die ersten
vorkapitalistischen Gesellschaftsformen, in denen sich die
menschliche Produktivität nur in geringem Umfang und auf isolierten
Punkten entwickelt. Persönliche
Unabhängigkeit auf sachlicher Abhängigkeit gegründet (=
Kapitalismus) ist die zweite große Form, worin sich erst ein System
des allgemeinen gesellschaftlichen Stoffwechsels, der universalen
Beziehungen, allseitiger Bedürfnisse und universeller Vermögen
bildet. Freie Individualität,
gegründet auf die universelle Entwicklung der Individuen und die
Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen gesell-schaftlichen Produktivität,
als ihres gesellschaftlichen Vermögens, ist die dritte Stufe
(Kommunismus). Die zweite schafft die
Bedingungen der dritten. K. Marx, Grundrisse
der Kritik der politischen Ökonomie, 75. 2. Individualität ist
ein Produkt der Geschichte Je tiefer wir in der
Geschichte zurückgehen, je mehr erscheint das Individuum, daher auch das
produzierende Individuum, als unselbständig, einem größeren Ganzen
angehörig ... Erst in dem 18.
Jahrhundert, in der bürgerlichen Gesellschaft, treten die verschiedenen
Formen des gesellschaftlichen Zusammenhangs dem Einzelnen als bloßes
Mittel für seine Privatzwecke entgegen, als äußerliche
Notwendigkeit. Aber die Epoche, die
gerade diesen Standpunkt erzeugt, den des vereinzelten Einzelnen, ist
gerade die der bisher entwickeltsten gesellschaftlichen ... Verhältnisse.
... Die Produktion des vereinzelten Einzelnen außerhalb der Gesellschaft ... ist ein ebensolches Unding als Sprachentwicklung ohne zusammen lebende und zusammen sprechende Individuen. K. Marx, Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 615f. und ebenso: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 6. Die
Kooperation im Arbeitsprozess, wie wir sie in den Kulturanfängen der
Menschheit, bei Jägervölkern oder etwa in der Agrikultur indischer
Gemeinwesen vorherrschend finden, beruht einerseits auf dem Gemeineigentum
an den Produktionsbedingungen, andererseits darauf, dass das einzelne
Individuum sich von der Nabelschnur des Stammes oder des Gemeinwesens noch
ebenso wenig losgerissen hat wie das Bienenindividuum vom
Bienenstock. Beides unterscheidet sie von der kapitalistischen
Kooperation. ... Die kapitalistische Form der Kooperation setzt dagegen
von vornherein den freien Lohnarbeiter voraus, der seine Arbeitskraft
dem Kapital verkauft. K. Marx,
Kapital I, MEW 23, 353f. Die wechselseitige
und allseitige Abhängigkeit der gegeneinander gleichgültigen Individuen
bildet im Kapitalismus ihren gesellschaft-lichen Zusammenhang.
Dieser gesellschaftliche Zusammenhang ist ausgedrückt im Tauschwert
(in der Ware), worin für jedes Individuum seine eigene Tätigkeit
oder sein Produkt erst eine Tätigkeit und ein Produkt für die
Gesellschaft wird. ... Andererseits die Macht, die jedes Individuum
über die Tätigkeit der anderen oder über die gesellschaftlichen Reichtümer
ausübt, besteht in ihm als Eigner von Tauschwert, von Geld.
Das Individuum trägt seine gesellschaftliche Macht, wie seinen
Zusammenhang mit der Gesellschaft, in der Tasche mit sich.
... Dies ist in der Tat
ein Zustand sehr verschieden von dem, worin das Individuum oder das in
Familie und Stamm (später Gemeinwesen) ... erweiterte Individuum direkt
aus der Natur sich reproduziert ... Der gesellschaftliche Charakter der Tätigkeit, wie die gesellschaftliche Form des Produkts, wie der Anteil des Individuums an der Produktion erscheint hier als den Individuen gegenüber Fremdes, Sachliches; nicht als das Verhalten der Individuen gegeneinander, sondern als Unterordnen unter Verhältnisse, die unabhängig von ihnen bestehen und aus dem Anstoß der gleichgültigen Individuen miteinander entstehen. Der allgemeine Austausch der Tätigkeiten und Produkte, der Lebensbedingung für jedes einzelne Individuum geworden ist, ihr wechselseitiger Zusammenhang, erscheint ihnen selbst fremd, unabhängig, als eine Sache. Im Tauschwert (Geld) ist die gesellschaftliche Beziehung der Personen in ein gesellschaftliches Verhalten der Sachen verwandelt; das persönliche Vermögen in ein sachliches. K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 74. Das bloß atomistische
Verhalten der Menschen in ihrem gesellschaftlichen Produk-tionsprozess und
daher die von ihrer Kontrolle und ihrem bewussten individuellen Tun
unabhängige, sachliche Gestalt ihrer eigenen Produktionsverhältnisse
erscheinen zunächst darin, dass ihre Arbeitsprodukte allgemein die
Warenform annehmen. K. Marx,
Kapital I, MEW 23, S. 107f. 3. Emanzipierte
Individuen, die bewusst kooperieren, sind erst das Erbe
entwickelter Produktivkräfte Die universal
entwickelten Individuen, deren gesellschaftliche Verhältnisse als ihre
eigenen, gemeinschaftlichen Beziehungen auch ihrer eigenen
gemeinschaftlichen Kontrolle unterworfen sind, sind kein Produkt der
Natur, sondern der Geschichte. Der Grad und die
Universalität der Entwicklung der Vermögen, worin diese
Individualität möglich wird, setzt eben die Produktion auf der Basis der
Tauschwerte voraus, die ... die Allgemeinheit und Allseitigkeit der
Beziehungen und Fähigkeiten des Individuums erst produziert.
K. Marx,
Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 79. Als das rastlose Streben nach der allgemeinen Form des Reichtums (d. h. nach dem Geld) treibt aber das Kapital die Arbeit über die Grenzen ihrer Naturbedürftigkeit hinaus und schafft so die materiellen Elemente für die Entwicklung der reichen Individualität, die ebenso allseitig in ihrer Produktion als Konsumtion ist und deren Arbeit daher auch nicht mehr als Arbeit, sondern als volle Entwicklung der Tätigkeit selbst erscheint, in der die Naturnotwendigkeit in ihrer unmittelbaren Form verschwunden ist; ... K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 231. ,Fast jedes Produkt von Kunstfertigkeit und Geschicklichkeit ist das Resultat gemeinsamer und kombinierter Arbeit. (Dies ist ein Resultat der kapitalistischen Produktion.) So abhängig ist der Mensch vom Menschen und so sehr wächst diese Abhängigkeit, je mehr die Gesellschaft fortschreitet, dass kaum die Arbeit irgendeines einzelnen Individuums ... vom geringsten Wert ist, wenn sie nicht einen Teil der großen gesellschaftlichen Arbeit bildet. K. Marx, Theorien über den Mehrwert III, MEW 26.3, 307. Im planmäßigen Zusammenwirken mit anderen streift der Arbeiter seine individuellen Schranken ab und entwickelt sein Gattungsver-mögen. K. Marx, Kapital I, MEW 23, 349. Die Gleichgültigkeit
gegen eine bestimmte Art der Arbeit setzt eine sehr entwickelte Totalität
wirklicher Arbeitsarten voraus, von denen keine mehr die alles
beherrschende ist ... Die Gleichgültigkeit gegen die bestimmte Arbeit
entspricht einer Gesellschaftsform, worin die Individuen mit Leichtigkeit
aus einer Arbeit in die andere übergehen und die bestimmte Art der Arbeit
ihnen zufällig, daher gleichgültig ist. Die Arbeit ... hat aufgehört als Bestimmung mit den Individuen in einer Besonderheit verwachsen zu sein. K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 25. In großen Umrissen
können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche
Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen
Gesellschaftsformationen bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses ... Mit dieser Gesellschaftsform schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab. K. Marx, Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 9. Siehe auch die Artikel:
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Zur
Zitierweise: Wo es dem Verständnis dient, wurden veraltete
Fremdwörter, alte Maßeinheiten und teilweise auch Zahlenbeispiele zum
Beispiel in Arbeitszeitberechnungen modernisiert und der Euro als
Währungseinheit verwendet. Dass es Karl Marx in Beispielrechnungen weder
auf absolute Größen noch auf Währungseinheiten ankam, darauf hatte er
selbst hingewiesen: Die Zahlen mögen Millionen Mark, Franken oder Pfund
Sterling bedeuten. Kapital II, MEW 24, 396. Alle modernisierten Begriffe und Zahlen sowie erklärende Textteile, die nicht wörtlich von Karl Marx stammen, stehen in kursiver Schrift. Auslassungen im laufenden Text sind durch drei Auslassungspunkte kenntlich gemacht. Hervorhebungen von Karl Marx sind normal fett gedruckt. Die Rechtschreibung folgt der Dudenausgabe 2000. Quellenangaben verweisen auf die Marx-Engels-Werke, (MEW), Berlin 1956ff. |