Judentum und Antisemitismus
1. Judentum
als Religion „Die politische
Emanzipation des Juden, des Christen, überhaupt des religiösen
Menschen, ist die Emanzipation des Staats vom Judentum, vom
Christentum, überhaupt von jeder Religion. In ... der seinem Wesen
eigentümlichen Weise, als Staat emanzipiert sich der Staat von der
Religion, indem er sich von der Staatsreligion emanzipiert, d. h.
indem der Staat als Staat keine Religion bekennt ... Der Staat kann
sich also von der Religion emanzipiert haben, sogar wenn die
überwiegende Mehrzahl noch religiös ist. Und die
überwiegende Mehrzahl hört dadurch nicht auf, religiös zu sein, dass sie
privat religiös ist.“ K. Marx, Judenfrage,
MEW 1, 353. „Die politische Emanzipation ist allerdings ein großer Fortschritt, sie ist zwar nicht die letzte Form der menschlichen Emanzipation überhaupt, aber sie ist die letzte Form der menschlichen Emanzipation innerhalb der bisherigen Weltordnung.“ K. Marx, Judenfrage, MEW 1, 356.
2. Antisemitismus als
angeblich antikapitalistische Bewegung „... Der
Antisemitismus ist das Merkzeichen einer zurückgebliebenen Kultur und
findet sich deshalb auch nur in Preußen und Österreich bzw. Russland. Wenn
man hier in England oder in Amerika Antisemitismus treiben wollte, so
würde man einfach ausgelacht. ... Es ist in Preußen
der Kleinadel, das Junkertum, das 10.000 Mark einnimmt und 20.000 Mark
ausgibt und daher den Wucherern verfällt, das in Antisemitismus macht; und
in Preußen und Österreich ist es der dem Untergang durch die
großkapitalistische Konkurrenz verfallene Kleinbürger, Zunfthandwerker und
Kleinkrämer, der den Chor dabei bildet und
mitschreit. Wenn aber das Kapital
diese Klassen der Gesellschaft vernichtet, die durch und durch reaktionär
sind, so tut es, was seines Amtes ist, und tut ein gutes Werk, einerlei,
ob es nun semitisch oder arisch, beschnitten oder getauft
ist; es hilft den
zurückgebliebenen Preußen und Osterreichern vorwärts, dass sie endlich auf
den modernen Standpunkt kommen, wo alle alten gesellschaftlichen
Unterschiede aufgehen in den einen großen Gegensatz von Kapitalisten und
Lohnarbeitern. Nur da, wo dies noch nicht der Fall ist, wo noch
keine starke Kapitalistenklasse existiert, also auch noch keine starke
Lohnarbeiterklasse, wo das Kapital noch zu schwach ist, sich der gesamten
nationalen Produktion zu bemächtigen, und daher die Aktienbörse zum
Hauptschauplatz seiner Tätigkeit hat, wo also die Produktion noch in den
Händen von Bauern, Gutsherren, Handwerkern und ähnlichen aus dem
Mittelalter überkommenen Klassen sich befindet – nur da ist das Kapital
vorzugsweise jüdisch, und nur da gibt’s
Antisemitismus. In ganz Nordamerika,
wo es Millionäre gibt, deren Reichtum sich in unseren lumpigen Mark,
Gulden oder Franken kaum ausdrücken lässt, ist unter diesen Millionären
nicht ein einziger Jude, und die Rothschilds sind wahre
Bettler gegen diese Amerikaner. Und selbst hier in
England ist Rothschild ein Mann von bescheidenen Mitteln z. B.
gegenüber dem Herzog von Westminster. Selbst bei uns am Rhein, die wir mit
Hilfe der Franzosen den Adel vor 95 Jahren zum Land hinausgejagt und uns
eine moderne Industrie geschaffen haben, wo sind da die
Juden? Der Antisemitismus ist
also nichts anderes als eine Reaktion mittel-alterlicher, untergehender
Gesellschaftsschichten gegen die moderne Gesellschaft, die wesentlich aus
Kapitalisten und Lohnarbeitern besteht, und dient daher nur reaktionären
Zwecken unter scheinbar sozialistischem Deckmantel; er ist eine Abart des
feudalen Sozialismus, und damit können wir nichts zu schaffen haben. Ist
er in einem Lande möglich, so ist das ein Beweis, dass dort noch nicht
genug Kapital existiert. Kapital und Lohnarbeit sind heute untrennbar. Je
stärker das Kapital, desto stärker auch die Lohnarbeiterklasse, desto
näher also das Ende der Kapitalistenherrschaft. Uns Deutschen, wozu ich
auch die Wiener rechne, wünsche ich also recht flotte Entwicklung der
kapitalistischen Wirtschaft, keineswegs deren Versumpfen im Stillstand.
Dazu kommt, dass der
Antisemitismus die ganze Sachlage verfälscht. Er kennt nicht einmal die
Juden, die er niederschreit. Sonst würde er wissen, dass hier in England
und in Amerika, dank den osteuropäischen Antisemiten, und in der Türkei
(d. h. Palästina), dank der spanischen Inquisition, es Tausende und
aber Tausende jüdischer Proletarier gibt; und zwar sind
diese jüdischen Arbeiter die am schlimmsten ausgebeuteten und die
allerelendesten. Wir haben hier in England in den letzten zwölf Monaten
drei Streiks jüdischer Arbeiter gehabt, und da sollen wir
Antisemitismus treiben als Kampf gegen das Kapital? Außerdem verdanken wir den Juden viel zu viel. Von Heine und Börne zu schweigen, war Marx von stockjüdischem Blut; Lassalle war Jude. Viele unserer besten Leute sind Juden. Mein Freund Victor Adler, der jetzt seine Hingebung für die Sache des Proletariats im Gefängnis in Wien abbüßt, Eduard Bernstein, der Redakteur des Londoner ,Sozialdemokrat‘, Paul Singer, einer unserer besten Reichstagsmänner – Leute, auf deren Freundschaft ich stolz bin, und alles Juden! Bin ich doch selber von der ‚Gartenlaube‘ zum Juden gemacht worden, und allerdings, wenn ich wählen müsste, dann lieber Jude als (ein adeliger) ‚Herr von‘!“ F. Engels, Antisemitismus, MEW 22, 49ff.
Anmerkung: Diese
Charakterisierung des Antisemitismus als Antikapitalismus von Aristokraten
und Kleinbürgern, also vom Kapitalismus mit Ruin bedrohten Eigentümern,
passt für den Antisemitismus der Zeit um 1900 und die Anfänge des
Nationalsozialismus als politische Bewegung. Möglicherweise passt diese
Charakterisierung auch auf den heutigen Antisemitismus in der arabischen
Welt. Beim staatlichen Massenmord an den Juden (Holocaust), den
die deutschen Nazis an der Macht halb offen und halb im Verborgenen
organisierten, kamen andere Beweggründe hinzu. Erst nachdem der Angriff
der Hitlerarmee auf die Sowjetunion ins Stocken gekommen war, wurde die
Ermordung der Juden „industriell“
organisiert. Soweit der heutige Antisemitismus in Europa nicht arabisch beeinflusst ist, ist er nicht viel mehr als ein identitätsstiftendes Traditionssymbol der nationalistischen Rechten – so wie in rechten Kreisen Deutschlands versucht wird, die Reichskriegsfahne als Symbol zu halten, obwohl es die Armee nicht mehr gibt, die diese Fahne getragen hat.
Siehe auch die Artikel: |
Zur
Zitierweise: Wo es dem Verständnis dient, wurden veraltete
Fremdwörter, alte Maßeinheiten und teilweise auch Zahlenbeispiele zum
Beispiel in Arbeitszeitberechnungen modernisiert und der Euro als
Währungseinheit verwendet. Dass es Karl Marx in Beispielrechnungen weder
auf absolute Größen noch auf Währungseinheiten ankam, darauf hatte er
selbst hingewiesen: „Die Zahlen mögen Millionen Mark, Franken oder Pfund
Sterling bedeuten.“ Kapital II, MEW 24, 396. Alle modernisierten Begriffe und Zahlen sowie erklärende Textteile, die nicht wörtlich von Karl Marx stammen, stehen in kursiver Schrift. Auslassungen im laufenden Text sind durch drei Auslassungspunkte kenntlich gemacht. Hervorhebungen von Karl Marx sind normal fett gedruckt. Die Rechtschreibung folgt der Dudenausgabe 2000. Quellenangaben verweisen auf die Marx-Engels-Werke, (MEW), Berlin 1956ff. |