Gattungswesen Mensch
1. Mit dem Begriff „Gattung“ fasst unser Denken in einer bestimmten Menge von unterschiedlichen Dingen oder Sachverhalten das Gemeinsame.
„Gattung (wird) gebraucht von solchen Menschen oder Dingen, die zusammengehören, zusammenpassen...“ Grimm’sches Wörterbuch, Bd. 4, 1878, 1512.

„... schon im 16. Jahrh. ‚Gattung’, genus ...
Später wurden ‚Gattung’ und ‚Art’ logisch so unterschieden, dass man jenes für ‚genus’, dieses für ‚species’ brauchte.“ Grimm’sches Wörterbuch, Bd. 4, 1878, 1514.

1.1 Den Gattungsbegriff hatte Platon in die europäische Philosophie eingeführt
„... Wer zuerst die Gemeinschaft zwischen vielen (Dingen) bemerkt, (sollte) nicht eher ablassen, bis er alle Verschiedenheiten in denselben gesehen hat ...;
und wiederum, wenn die mannigfaltigen Unähnlichkeiten an einer Mehrheit erschienen sind, dann sollte man nicht ... eher aufhören, bis man alles Verwandte innerhalb einer Ähnlichkeit eingeschlossen und unter das Sein einer Gattung befasst hat.“ Platon, Politikos, 285 b.


1.3 Platon glaubte, dass die Gattungsbegriffe uns angeboren waren, also vor und unabhängig von den Arten und Individuen und unabhängig von unserem Denken im Reich Gottes existierten.
„Denn der Mensch muss nach Gattungen Ausgedrücktes begreifen, indem er von vielen Wahrnehmungen zu einem durch Denken Zusammengebrachten fortgeht. Und dies ist Erinnerung an jenes, was einst (vor ihrer Geburt) unsere Seele gesehen, als sie Gott nachwandelte...“ Platon, Phaidros, 249, c.

„Willst du also, dass wir die Betrachtung hierbei anfangen nach der gewohnten Weise? Nämlich einen Begriff pflegen wir doch jedes Mal aufzustellen für jegliches Viele, dem wir denselben Namen beilegen ...
Wie zum Beispiel, wenn es dir recht ist, gibt es doch viele Bettgestelle und Tische? ... Aber Begriffe gibt es doch nur zwei für diese Geräte, einen des Bettes und einen des Tisches. - Ja - Und pflegen wir nicht zu sagen, dass die Verfertiger jedes dieser Geräte, auf den Begriff sehend, so der eine Bettgestelle macht, der andere die Tische, deren wir uns bedienen, und ebenso alles andere? Denn den (Gattungs)Begriff selbst verfertigt doch keiner von diesen Handwerksmeistern. ....
Was aber ist mit dem Tischler? Sagtest du nicht eben, dass auch er ja den Begriff nicht macht, der doch eigentlich, wie wir behaupten, ist, was das Bettgestell ist, sondern der Tischler mache nur ein einzelnes Bettgestell ...
Also wenn er nicht macht, was ist, so macht er auch nicht das Seiende, sondern nur etwas Sobeschaffenes wie das Seiende, Seiendes aber nicht? ....“ Platon, Politeia, 596 a - 597 a.
Platon schöpfte aus dem Arbeitsprozess der griechischen Handwerker seine Philosophie:
Tatsächlich produziert der Tischler nicht das Seiende als Material, sondern er verändert nur die Form des Seienden.
Tatsächlich steht zu Beginn seines Arbeitsprozesses schon die „Idee“ des Produkts als Arbeitsplan. Im Arbeitsprozess wird diese Idee nachgearbeitet und verwirklicht.
Dieses griechische Handwerkerdenken übertrug Platon auf die gesamte Natur und kam so zur Präexistenz der Ideen und zu seinem „Handwerkergott“.
Diese griechische Handwerkerphilosophie wurde die Basis der europäischen Philosophie.

1.4 Hegel machte die Begriffe ‚Gattung’, ‚Art’ und ‚Individuum’ zur Grundlage seiner Logik als Dialektik von Allgemeinem (= Gattung), Besonderem (=Art) und Einzelnem (=Individuum).
In seiner Dialektik übernahm Hegel auch die europäische Tradition des Handwerkerdenkens von der Präexistenz der Gattung (Idee) vor der Art und dem Individuum:
 „Die Gattung teilt sich oder stößt sich wesentlich in Arten ab; sie ist Gattung nur, insofern sie Arten unter sich begreift; die Art ist Art nur, insofern sie einerseits in Einzelheiten existiert, andererseits in der Gattung eine höhere Allgemeinheit ist.“ F.W. Hegel, Wissenschaft von der Logik, II, Suhrkamp-Werke, 335.

„Die Dinge überhaupt haben eine bleibende, innere Natur und ein äußerliches Dasein. Sie leben und sterben, entstehen und vergehen, ihre Wesentlichkeit, ihre Allgemeinheit ist die Gattung, und diese ist nicht bloß als ein Gemeinschaftliches aufzufassen.“ F.W. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I., Suhrkamp-Werke, 82.

2.1 Auch Marx legte das Wesen des Menschen in die gesamte Menschheit als Gattung. Damit lehnte Marx zunächst alle Theorien ab, die das Wesen eines Menschen in seiner Rasse, seiner Nation, seinem sozialen Stand oder seiner Klasse suchen. Nur die Tiere sind von ihrer Rasse bzw. Art geprägt, nicht die Menschen.
„Die einzige Gleichheit, die im wirklichen Leben der Tiere hervortritt, ist die Gleichheit eines Tieres mit den anderen Tieren seiner bestimmten Art, die Gleichheit der bestimmten Art mit sich selbst, aber nicht die Gleichheit der Gattung.
Die Tiergattung selbst erscheint nur in dem feindseligen Verhalten der verschiedenen Tierarten, die ihre besonderen unterschiedenen Eigenschaften gegeneinander geltend machen. Im Magen des Raubtieres hat die Natur die ... das Organ des Zusammenhangs der verschiedenen Tierarten bereitet.“ K. Marx, Holzdiebstahl, MEW 1, 115.

„Der Standpunkt des neuen Materialismus ist die menschliche Gesellschaft oder die vergesellschaftete Menschheit.“ K. Marx, Thesen über Feuerbach 10, MEW 3, 535.

2.2 Aber im Unterschied zu Platon und Hegel ist die „Gattung Mensch“ bei Marx keine unwandelbare, präexistierende Idee, sondern eine von den Menschen selber geschaffene, historisch wandelbare Größe.
„Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum einwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen:
1. von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren ... ein abstrakt - isoliert - menschliches Individuum vorauszusetzen.
2. Das Wesen kann daher (bei Feuerbach) nur als ‚Gattung’, als innere, stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefasst werden.“ K. Marx, Thesen über Feuerbach 6, MEW 3, 534.

2.3 Die bisherige Entwicklungsgeschichte der Menschheit ist eine zunehmende Trennung des Individuums von der Gattung. Wobei einzelne Individuen, bzw. Klassen von Individuen aller Entwicklungsvorteile für sich monopolisierten und jeder Entwicklungsfortschritt auf Kosten der Masse der Ausgebeuteten und Unterdrückten erkauft wurde.
„Jene alten gesellschaftlichen Produktionsorganismen (der Vor- und Frühgeschichte) sind außerordentlich viel einfacher und durchsichtiger als der bürgerliche, aber sie beruhen entweder auf der Unreife des individuellen Menschen, der sich von der Nabelschnur des natürlichen Gattungszusammenhangs mit andren noch nicht losgerissen hat, oder auf unmittelbaren Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnissen. Sie sind bedingt durch eine niedrige Entwicklungsstufe der Produktivkräfte der Arbeit und entsprechend befangene Verhältnisse der Menschen innerhalb ihres materiellen Lebenserzeugungsprozesses, daher zueinander und zur Natur. Diese wirkliche Befangenheit spiegelt sich ideell wider in den alten Natur- und Volksreligionen.
Der religiöse Widerschein der wirklichen Welt kann überhaupt nur verschwinden, sobald die Verhältnisse des praktischen Werktagslebens den Menschen tagtäglich durchsicht vernünftige Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen. Die Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses, d.h. des materiellen Produktionsprozesses, streift nur ihren mystischen Nebelschleier ab, sobald sie als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewusster planmäßiger Kontrolle steht.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, S. 93-94.

„Der Mensch vereinzelt sich erst durch den historischen Prozess. Er erscheint ursprünglich als ein Gattungswesen, Stammwesen ...
Der Austausch selbst ist ein Hauptmittel dieser Vereinzelung. Er macht das Herdenwesen überflüssig und löst es auf. Bald hat die Sache sich so gedreht, dass er als Vereinzelter nur mehr sich auf sich bezieht, die Mittel aber, um sich als Vereinzelter zu setzen, sein sich Allgemein- und Gemeinmachen geworden sind. ...
In der bürgerlichen Gesellschaft steht der Arbeiter z.B. rein objektivlos, subjektiv da; aber die Sache, die ihm gegenübersteht, ist das wahre Gemeinwesen nun geworden, das er zu verspeisen sucht, und von dem er verspeist wird.“ K. Marx, Grundrisse, 395f.

„Ricardo betrachtet mit Recht, für seine Zeit, die kapitalistische Produktionsweise als die vorteilhafteste für die Produktion überhaupt, als die vorteilhafteste zur Erzeugung des Reichtums. ... Stellt man, wie Sismondi, das Wohl der Einzelnen diesem Zweck gegenüber, so behauptet man, dass die Entwicklung der Gattung aufgehalten werden muss, um das Wohl der Einzelnen zu sichern, dass also z.B. kein Krieg geführt werden dürfe, worin Einzelne jedenfalls kaputtgehen. ...
Dass diese Entwicklung der Fähigkeiten der Gattung Mensch, obgleich sie sich zunächst auf Kosten der Mehrzahl der Menschenindividuen und ganzer Menschenklassen macht, schließlich diesen Antagonismus durchbricht und zusammenfällt mit der Entwicklung des einzelnen Individuums, dass also die höhere Entwicklung der Individualität nur durch einen historischen Prozess erkauft wird, worin die Individuen geopfert werden, wird (von Sismondi) nicht verstanden, abgesehen von der Unfruchtbarkeit solcher erbaulicher Betrachtungen, da die Vorteile der Gattung im Menschenreich wie im Tier- und Pflanzenreich sich stets durchsetzen auf Kosten der Vorteile der Individuen, weil diese Gattungsvorteile zusammenfallen mit den Vorteilen besonderer Individuen, die zugleich die Kraft dieser Bevorzugten bilden.“ K. Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26.2, 111.

Dass der Kommunismus die Individualität zerstöre ist „altes Gewäsch ... Als ob an den jetzigen, durch die Teilung der Arbeit wider Willen zu Schustern, Fabrikarbeitern, Bourgeois, Juristen, Bauern, d.h. zu Knechten einer bestimmten Arbeit und der dieser Arbeit entsprechenden Sitten, Lebensweisen, Vorurteile, Borniertheiten etc. gemachten Individuen irgendeine Individualität zu zerstören wäre!“ F. Engels, Die Kommunisten und K. Heinzen, MEW 4, 323.

2.4 Erst die weltumspannende Kooperation im industriellen Arbeitsprozess und erst recht die Beseitigung der Lohnarbeit schaffen die Grundlagen dafür, dass die Entwicklung der Gesellschaft nicht mehr auf Kosten der Individuen verläuft.
„Im planmäßigen Zusammenwirken mit andern streift der Arbeiter seine individuellen Schranken ab und entwickelt sein Gattungsvermögen.“ K. Marx, Kapital I, MEW 23, 349.

„Es stellt sich ... allerdings heraus, dass die Entwicklung eines Individuums durch die Entwicklung aller anderen, mit denen es in direktem oder indirektem Verkehr steht, bedingt ist, und dass die verschiedenen Generationen von Individuen, die miteinander in Verhältnisse treten, einen Zusammenhang unter sich haben, dass die Späteren in ihrer physischen Existenz durch ihre Vorgänger bedingt sind, die von ihnen akkumulierten Produktivkräfte und Verkehrsformen übernehmen und dadurch in ihren eigenen gegenseitigen Verhältnissen bestimmt werden. Kurz, es zeigt sich, dass eine Entwicklung stattfindet und die Geschichte eines einzelnen Individuums keineswegs von der Geschichte der vorhergegangenen und gleichzeitigen Individuen loszureißen ist, sondern von ihr bestimmt wird.“ K. Marx, Dt. Ideologie, 3, 423.

„Dass der wirkliche geistige Reichtum des Individuums ganz von dem Reichtum seiner wirklichen Beziehungen abhängt, ist nach dem Obigen klar. Die einzelnen Individuen werden erst hierdurch von den verschiedenen nationalen und lokalen Schranken befreit, mit der Produktion (auch mit der geistigen) der ganzen Welt in praktische Beziehung gesetzt und in den Stand gesetzt, sich die Genussfähigkeit für diese allseitige Produktion der ganzen Erde (Schöpfungen der Menschen) zu erwerben ...“ MEW 3, 37.

„An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ K. Marx, Kommunistisches Manifest, MEW 4, 482.

3. Marx war zwar „gelernter“ Philosoph, hatte sich aber von der Philosophie ab- und der Wissenschaft zugewandt.
„Philosophische Phraseologie“ (MEW 3, 217) wie „Gattung Mensch“ etc. , benutzte Marx vor allem in seinen Frühschriften. In seinen späteren Veröffentlichungen verzichtete er fast ganz darauf. Zu seinen philosophischen Frühschriften bemerkte Marx:
Der „Weg zur materialistischen, nicht voraussetzungslosen, sondern die wirklichen materiellen Voraussetzungen als solche empirisch beobachtenden und darum erst wirklich kritischen Anschauung der Welt ... (geschah) damals noch in philosophischer Phraseologie ...;  So gaben die hier traditionell unterlaufenden philosophischen Ausdrücke wie ‚menschliches Wesen’, ‚Gattung’ usw. den deutschen Theoretikern die erwünschte Veranlassung, ... zu glauben, es handle sich hier wieder nur um eine neue Wendung ihrer abgetragenen theoretischen Röcke ...
Man muss ‚die Philosophie beiseite liegen lassen’ ... man muss aus ihr herausspringen und sich als ein gewöhnlicher Mensch an das Studium der Wirklichkeit geben, wozu auch ... ein ungeheures, den Philosophen natürlich unbekanntes Material vorliegt. ...
Philosophie und Studium der wirklichen Welt verhalten sich zueinander wie Onanie und Sex.“ K. Marx, Dt. Ideologie, MEW 3, 217f.

Wo es dem Verständnis dient, habe ich die Rechtschreibung, veraltete Fremdwörter, Maßeinheiten und Zahlenangaben modernisiert. Diese und alle erklärenden Textteile, die nicht wörtlich von Marx stammen, stehen in kursiver Schrift.
Wal Buchenberg, 13.12.2001