Dogmatischer
Marxismus
Dogmatischer Marxismus ist die Verwandlung der
konkreten Analysen von Marx in eine allgemeine geschichtsphilosophische
Theorie: „Das Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation
(im ersten Band des ‚Kapitals’, wb) will nur den Weg schildern, auf
dem im westlichen Europa die kapitalistische Wirtschaftsordnung aus dem
Schoß der feudalen Wirtschaftsordnung hervorgegangen ist. ... Das ist
alles. Aber das ist meinem Kritiker zu wenig. Er muss durchaus meine
historische Skizze von der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa in
eine geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges
verwandeln, der allen Völkern schicksalsmäßig vorgeschrieben ist, was
immer die geschichtlichen Umstände sein mögen, in denen sie sich befinden,
um schließlich zu jener ökonomischen Formation zu gelangen, die mit dem
größten Aufschwung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit die
allseitigste Entwicklung des Menschen sichert. Aber ich bitte um
Verzeihung. (Das heißt mir zugleich zu viel Ehre und zu viel Schimpf
antun.) Nehmen wir ein Beispiel. (Marx führt nun die Ruinierung der
kleinen römischen Bauern an) ... Was geschah? Die römischen
Proletarier wurden nicht Lohnarbeiter, sondern ein faulenzender Mob
... und an ihrer Seite entwickelte sich keine kapitalistische, sondern
eine auf Sklavenarbeit beruhende Produktionsweise. Ereignisse von einer
schlagenden Analogie, die sich aber in einem unterschiedlichen
historischen Milieu abspielten, führten also zu ganz verschiedenen
Ergebnissen. Wenn man jede dieser Entwicklungen für sich studiert und sie
dann miteinander vergleicht, wird man leicht den Schlüssel zu dieser
Erscheinung finden, aber man wird niemals dahin gelangen mit dem
Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie,
deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein.“ K. Marx an
die Redaktion einer linken russischen Zeitung, 1877, MEW 19,
111.
„Was Ihren Versuch angeht, die Sache materialistisch zu
behandeln, so muss ich vor allem sagen, dass die materialistische Methode
in ihr Gegenteil umschlägt, wenn sie nicht als Leitfaden beim historischen
Studium behandelt wird, sondern als fertige Schablone, wonach man sich die
historischen Tatsachen zurechtschneidet.“ F. Engels an Paul Ernst,
1.10.1890., MEW 22, 81.
Über die Kapital-Zusammenfassung von
Deville schrieb Engels: „Dann aber auch nimmt er resümierende Sätze
aus Marx wörtlich auf, nachdem er ihre Voraussetzungen nur unvollkommen
gegeben. Dadurch werden diese Sätze oft ganz schief gestellt, so dass ich
bei der Durchsicht sehr oft in den Fall kam, Sätze von Marx anfechten zu
wollen, die im Original eine durch das Vorausgegangene klargelegte
Beschränkung erfahren, bei Deville aber eine ganz absolut allgemeine und
damit unrichtige Geltung erhalten.“ F. Engels an Kautsky, 9.1.1884, MEW
36, 81.
Dogmatischer Marxismus ist das Missverständnis der
Marx’schen Analysen verbunden mit ungenügender Kenntnis der Tatsachen und
Überheblichkeit: „Theoretisch fand ich darin - und das gilt im
ganzen und großen auch von der übrigen Presse der ‚Opposition’ - einen
krampfhaft verzerrten ‚Marxismus’, bezeichnet einerseits durch starkes
Missverständnis der Anschauungsweise, die man zu vertreten behauptete,
andererseits durch grobe Unbekanntschaft mit den jedes Mal entscheidenden
historischen Tatsachen, dritterseits durch das ... Bewusstsein der eigenen
unermesslichen Überlegenheit. Marx sah auch diese Jüngerschaft voraus,
als er von dem zu Ende der siebziger Jahre unter gewissen Franzosen
grassierenden ‚Marxismus’ sagte: ... „Ich weiß nur dies, dass ich
kein ‚Marxist’ bin.“ F. Engels über die ‚Sächsische Arbeiterzeitung’,
13.09.1890. MEW 22, 69.
Dogmatischer Marxismus ist die
Verwandlung der Marx’schen Analysen in eine „Lehre“, in eine
‚Doktrin’: Die deutschen Sozialisten in den USA „haben
nun einmal nicht verstanden, von ihrer Theorie aus den Hebel anzusetzen,
der die amerikanischen Massen in Bewegung setzen konnte; sie verstehen die
Theorie großenteils selbst nicht und behandeln sie doktrinär und
dogmatisch als etwas, das auswendig gelernt werden muss, dann aber auch
allen Bedürfnissen ohne weiteres genügt. Es ist ihnen ein Credo, keine
Anleitung zum Handeln.“ MEW 36, 578.
„... Die komische Erscheinung,
dass hier (in England, wb) wie in Amerika die sich für die
orthodoxen Marxisten ausgebenden Leute, die unsere Bewegungsgedanken in
ein starres, auswendig zu lernendes Dogma verwandelt haben, dass diese
hier wie bei Euch als pure Sekte figurieren, ist sehr bezeichnend.“
F. Engels an F.A. Sorge in den USA, 10.06.1891, MEW 38, 112.
„Herr
Heinzen bildet sich ein, der Kommunismus sei eine gewisse Doktrin,
die von einem bestimmten theoretischen Prinzip als Kern ausgehe und
daraus weitere Konsequenzen ziehe. Herr Heinzen irrt sich sehr. Der
Kommunismus ist keine Doktrin, sondern eine Bewegung; er geht nicht
von Prinzipien, sondern von Tatsachen aus. Die Kommunisten haben
nicht diese oder jene Philosophie, sondern die ganze bisherige Geschichte
und speziell ihre gegenwärtigen tatsächlichen Resultate in den
zivilisierten Ländern zur Voraussetzung.“ F. Engels, Karl Heinzen, 1847,
MEW 4, 321f.
Wo es dem Verständnis dient, habe ich die
Rechtschreibung, veraltete Fremdwörter, Maßeinheiten und Zahlenangaben
modernisiert. Diese und alle erklärenden Textteile, die nicht wörtlich von
Marx stammen, stehen in kursiver Schrift. Wal Buchenberg,
20.09.2001
Anmerkung:
Da jeder Einzelne von uns nur über eng begrenztes
Wissen und beschränkte Erfahrungen verfügt, führt vom Studium der
Marx’schen Analysen der bequemste und schnellste Weg immer in Dogmatismus,
wo man auf weitere Kenntnis und Analyse der Tatsachen meint verzichten zu
können. Niemand von uns ist gegen solchen Dogmatismus gefeit. Deshalb
entstanden so viele Varianten des dogmatischen Marxismus. Die
einflussreichste Variante eines dogmatischen Marxismus wurde der
Marxismus-Leninismus. Der Marxismus-Leninismus ist die Verarbeitung
politischer Erfahrungen in rückständigen sozialen Verhältnissen mit Hilfe
eines dogmatischen Marxismus. In den entwickelten kapitalistischen
Ländern haben die Lohnarbeiter also doppelten Grund, den
Marxisten-Leninisten zu misstrauen. |