Thesen zum Ursprung der
Verschwörertheorien
1. In allen frühzeitlichen Welttheorien und
Philosophien (bei den Griechen z.B. bis zu den frühen Naturphilosophen)
wurde die Welt als großer, selbstregulierter, chaotischer Organismus
gesehen. Die Gottheiten waren idealisierte Naturkräfte, keine
Menschenkräfte. Dieses Denken entsprach der Produktionsweise von Jägern,
Hirten und Bauern, die von den Veränderungen der Natur abhängig waren,
selber aber wenig an dieser Naturwelt änderten. Belege: Frühe
Mythologien, Arche-Begriff der Vorsokratiker.
2. Erst durch
die Entwicklung des städtischen Handwerks lernten die Menschen,
zweckgerichtet und geplant auf die Natur einzuwirken. Es entstand dadurch
ein neues Denkmodell, das den Arbeitsprozess als Paradigma zur
Welterklärung benutzte: Am Anfang steht ein Plan, eine Idee, der Planende
benutzt totes, willenloses Material und zwingt diesem Material mit seinen
Werkzeugen seine Produktidee auf. Am Ende ist die Idee verwirklicht. Die
äußere Natur wird als toter Stoff gesehen, als Material. Ursache der
Veränderung ist der handwerkende Mensch. Die Götter erhielten
Menschengestalt. Den handwerklichen Arbeitsprozess zur Welterklärung
wurde zuerst von Platon formuliert und von Aristoteles ausgearbeitet.
Dieses Denken bildete die Basis der europäischen Philosophie bis
Hegel.
Belege: „Im Augenblick aber müssen wir uns drei
Gattungen denken: das Werdende (=Produkt), das, worin es wird (=Material),
und das, woher nachgebildet das Werdende geboren wird (=Plan des
Handwerkers).“ Platon, Timaios 50 d. Die Naturphilosophen hatten
gedacht, dass Ursachen der Dinge in ihnen (der Natur selbst) liege. Das
Handwerkerdenken geht davon aus, dass die Dinge nur totes Material seien,
die Ursachen also außerhalb von ihnen liegen: „Ich frage dich, ob
dich notwendig dünkt, dass alles Werdende kraft einer Ursache werde....
Und das Bewirkende kommt doch immer zuerst, seiner Natur nach, das
Bewirkte aber folgt als Werdendes jenem.“ Platon, Philebos 26 e - 27
a. Diese (Erst)Ursache wird als der Plan eines Handwerkers = Schöpfers
gedacht. Die planende Vernunft ist die höchstenwickelte menschliche
Fähigkeit: „Aber als ich einmal einen vorlesen hörte, aus einem Buche
des Anaxagoras, wie er sagte, dass die Vernunft das Anordnende ist und
aller Dinge Ursache, an dieser Ursache erfreute ich mich, und es schien
mit auf gewissen Weise sehr richtig, dass die Vernunft von allem die
Ursache ist, und ich gedachte, wenn sich dies so verhält, so werde die
ordnende Vernunft auch alles ordnen und jegliches stellen, so wie es sich
am besten befindet. Wenn nun einer die Ursache von jeglichem finden
wollte, wie es entsteht oder vergeht oder besteht, so müsse er nur dieses
daran finden...“ Platon, Phaidon 97 c - d.
3. Alles was
ist, ist also nach dem Plan einer Person gemacht. Hinter der Natur und der
Geschichte steht dann ebenso eine geplante Schöpfung wie hinter einem
Tisch oder einem Auto. Die Verschwörertheorien sind eine säkularisierte
Religion. In der Theologie entstammt alles, was ist, dem Gedanken Gottes.
In den Verschwörertheorien entstammt alles, was geschieht, dem Plan von
Menschen. Wer diese Menschen sind, weiß man ebenso wenig, wie man weiß,
wer Gott ist. Aber ein Plan muss da sein, weil es ein Ergebnis
gibt. Dieses Handwerker-Denken hat eine lange und erwürdige Tradition,
und auch so kluge Menschen wie Einstein hatten diese
Handwerker-Philosophie. Einstein sagte: „Gott würfelt nicht!“ So denken
die Verschwörungstheoretiker bei jedem Ereignis: Da muss doch ein Plan
dahinterstecken!
4. Dass die Natur, das ganze Weltall, ein
selbstregulierender „Organismus“ ist, ohne planende Außensteuerung oder
Einwirkung „von Außen“, das ist die Grundannahme der modernen
Naturwissenschaft. Was ist aber mit der Menschenwelt, der Geschichte,
der Gesellschaft und der Wirtschaft? Hier agieren lauter denkende,
vernunftbegabte Wesen, die zweckgerichtet und planvoll handeln. Aber ihre
Pläne und Zwecke widersprechen und durchkreuzen sich. Was am Ende
herauskommt, ist die Resultante des Kräftevielecks der
aufeinanderwirkenden Willen. Statistisch gesehen kommt am Ende immer das
heraus, was keiner gewollt hat.
5. Wer die Organisation
eines großen Unternehmens kennengelernt hat, der weiß, wie chaotisch das
abläuft – trotz aller Planung. Jemand mit moderner Arbeitserfahrung wird
nie auf die Idee kommen, ein ganzes Land oder sogar die ganze
Weltgeschichte könnte durch den Willen weniger Menschen gesteuert werden.
Solche Erfahrungen in großen Unternehmen haben aber sehr viele. Daher
werden die Verschwörungstheoretiker immer ein unbedeutende Minderheit
bleiben – obwohl sie sich auf die Denktradition der europäischen
Philosophie stützen können. Wal Buchenberg 6.2.2002
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