Henryk Grossmann: Anarchismus. In: Wörterbuch der Volkswirtschaft, Fischer Verlag, 4. Auflage, Jena 1931-1934.
(Henryk Grossmann gehörte zu dem Kreis der „Professoren-Marxisten“ um Max Horkheimer, wb)

3. Der neuere kommunistische Anarchismus und seine Taktik; die „Propaganda der Tat“: Bakunin, Kropotkin
Die Anfänge des revolutionären kommunistischen Anarchismus reichen - wenn man von der ephemeren Gruppe, die sich 1841 unter der geistigen Führung Jean Joseph Mays um die Zeitschrift »L’ Humanitaire« sammelte, absieht - in die Periode der Enttäuschungen, der sozialen Erbitterung und Hoffnungslosigkeit nach der Niederlage des Proletariats in der Junischlacht von 1848 zurück, als in der Emigration ein blasser kraftloser Sozialismus vegetierte und in Frankreich das Arbeitermilieu der Spielplatz ultragemäßigter Elemente wurde, die das Kaisertum ganz für sich zu gewinnen hoffte. Zu den ersten Vertretern dieser Richtung des Anarchismus gehören Joseph Déjacque (geb. um 1821 starb 1864 oder 1867 in Paris) und Ernest  Coeurderoy (geb. um 1825, starb 1862 in der Umgebung von Genf), deren Ideen und Schriften noch vor dem Aufschwung der anarchistischen Bewegung in den sechziger Jahren so gut wie in völlige Vergessenheit gerieten In diesen Schriften finden sich, viele Keime von Gedanken, die später von Bakunin und anderen weiterentwickelt worden sind.

Michael Bakunin (1814-1876) bezeichnet seine Lehre über Recht, Staat und Eigentum als Anarchismus. »Wir verwerfen jede Gesetzgebung, jede Autorität, jeden privilegierten, patentierten, offiziellen, legalen Einfluß, auch wenn er durch das allgemeine Stimmrecht geschaffen sein sollte, in der Überzeugung, daß derartiges immer nur zum Vorteil einer herrschenden Minderheit von Ausbeutern und zum Nachteil der geknechteten ungeheuren Mehrheit gereichen kann. In diesem Sinne sind wir in Wahrheit Anarchisten.« Keine Gesetzgebung hat jemals einen anderen Zweck gehabt als den, die Ausbeutung des arbeitenden Volkes durch die herrschenden Klassen zu befestigen. Das gesetzte Recht ist mit dem Staat verbunden, der das Volksleben durch die Gesetze von oben nach unten regelt. »Jede Regierung beruht einerseits notwendig auf Ausbeutung, andererseits hat sie die Ausbeutung zum Ziel und verleiht ihr Schutz und Gesetzlichkeit.« Das Privateigentum ist zugleich Folge und Grundlage des Staates. Die politische Gleichheit, soweit sie zu ihrer Basis nicht die soziale und wirtschaftliche Gleichheit hat, ist eine Fiktion. Der Hauptgrund dafür ist die Unwissenheit der Massen, die aus ihrer ungünstigen Lage entspringt. Daraus folgt, daß die gebildete Minderheit stets über die ungebildeten Massen regieren wird. Der Staat gewährt den privilegierten Vertretern der Kopfarbeit, nicht weil sie mehr Verstand hätten, sondern weil sie in der privilegierten Klasse geboren sind, allen Reichtum, alle Kultur, die Annehmlichkeiten des Familienlebens, den ausschließlichen Genuß der politischen Freiheit, somit die Möglichkeit, Millionen von Arbeitern auszubeuten und sie im eigenen Interesse zu regieren. Die Millionen von Proletariern, die Vertreter der Handarbeit, leben in Elend und Unwissenheit. Es gilt ein Mittel zu finden, daß einem jeden die Ausbeutung fremder Arbeit unmöglich macht und jedermann an dem Gütervorrat der Gesellschaft, der ein Erzeugnis der Arbeit ist, den Mitgenuß nur insoweit gestattet, als er zur Erzeugung dieses Gütervorrats unmittelbar durch seine Arbeit beigetragen hat. Dieses Mittel besteht darin, daß in der nächsten Entwicklungsstufe der Menschheit das Privateigentum nur in bezug auf die Konsumtionsmittel zugelassen wird, dagegen werden die Produktionsmittel, d. h. »Grund und Boden, die Arbeitswerkzeuge sowie alles andere Kapital als Kollektiveigentum der ganzen Gesellschaft ausschließlich dem Nutzen der ackerbauenden und gewerblichen Vereinigungen dienen.« Auf diese Art wird jedem Arbeiter der Ertrag seiner Arbeit gesichert sein. »Ich bin nicht Kommunist«, sagt Bakunin, »sondern Kollektivist.« Der Kollektivismus der künftigen Gesellschaft, meint Bakunin (...) fordert keineswegs die Errichtung irgendwelcher zentraler Gewalt. Der Staat ist zwar ein geschichtlich notwendiges Übel, jedoch nur eine vorübergehende Form der Gesellschaft. Dabei kämpft Bakunin nicht nur gegen den Staat, sondern auch gegen das Prinzip der Herrschaft selbst, da der Staat, wie die Religion, auf dem Gedanken der Autorität aufgebaut ist. Mit dem Staat wird auch das gesetzte Recht der Juristen fallen und durch freie Verträge ersetzt werden. »Ich will die Organisation der Gesellschaft und des Kollektiv oder Gesellschaftseigentums von unten nach oben durch die Stimme der freien Vereinigung, nicht von oben nach unten vermittels irgendwelcher Autorität.« Ewige Verpflichtungen sind mit der Freiheit und Gerechtigkeit unvereinbar »Das Recht freier Vereinigung und Trennung ist das erste und wichtigste aller politischen Rechte.«

Die Forderung nach der absoluten Freiheit und Selbstbestimmung der Individuen erstreckte Bakunin auch auf Nationen und führte das Prinzip der Selbstbestimmung bis zu seinen äußersten logischen Konsequenzen durch. Jede Nation habe das Recht, sich frei  mit jeder anderen zu verbinden und sich ebenso frei von ihr zu trennen. Das Recht der Nation, frei über ihr Schicksal zu bestimmen, gehört wie das oben erwähnte Recht der Vereinigung mit zu den bedeutsamsten. Das Streben zur Bildung großer staatlicher Einheiten bedroht die Freiheit, die nur verwirklicht werden kann durch die Zerstörung aller großen und kleinen politischen Zentralisationen und durch das Prinzip des Föderalismus, der freiwilligen Vereinigung freier Nationen.

War das Ideal Bakunins die Anarchie, so seine Methode, sie zu verwirklichen, der Putschismus. Bakunin verwirft jede politische Aktion des Proletariats, die nicht unmittelbare und definitive ökonomische Emanzipation der Arbeiter, die „soziale Liquidadon“ zum Gegenstand habe, als eine Bourgeoisbewegung. Die wirklich ökonomische Befreiung der Arbeiter wird durch eine soziale Revolution, d  h. durch einen gewaltsamen Umsturz erfolgen, dessen Beschleunigung und Erleichterung die Aufgabe derer bildet, welche den Gang der Entwicklung vorhersehen. Es ist notwendig, alle bestehenden Institutionen zu zerstören: den Staat, die Kirche, das juridische Forum, die Bank  die Universität, die Administration, die Armee, die Polizei. Und es genügt nicht, sie in einem Staat zu zerstören; sie müssen in allen Ländern vernichtet werden, da angesichts der Verflechtung aller privilegierten Interessen und aller reaktionären Mächte Europas keine Revolution auf Erfolg rechnen kann, wenn sie nicht international wird. Wenn auch die Revolution nach Bakunin aus tieferen Ursachen langsam heran reift und nicht gemacht werden kann, so lehnt er dennoch den Gedanken der Spontaneität der Revolution ab: sie muß stets durch eine kleine Gruppe von Berufsrevolutionären, die eine Art von revolutionärem Generalstab bilden, vorbereitet werden, deren Aufgabe darin besteht, die Bauern und, die Arbeiter, „die einzige wirkliche Macht des Jahrhunderts«, und ihre, schlummernden revolutionären Leidenschaften durch revolutionäre Taten zu entfesseln. Jeder Aufruhr, so erfolglos er auch unmittelbar sein mag, ist nützlich: das Volk lernt erst im Kampfe seine Kräfte und Energien zu entwickeln. Aus vielen kleineren mißlungenen Aufständen wird die siegreiche Revolution erstehen. Denn das Volk, besonders die Bauern, verstehen die Ideen nur in konkreter Form. Es kann daher nicht durch wissenschaftliche Grundsätze oder durch diktatorische Dekrete, sondern  allein durch revolutionäre Taten revolutioniert werden, d. h. durch die Wirkung des Aufhörens des bisher auf dem Volk lastenden politischen und ökonomischen Drucks; der amtlichen Staatstätigkeit in den Gemeinden, durch das Aufhören der Steuerzahlung, Auflösung der Gerichte, des Heeres, der Polizei, demgemäß Wegfall aller Schuldenzahlungen, Eigentumstitel, Prozeßakten usw. Erst nach gründlicher Zerstörung des Eigentums und seiner unvermeidlichen Folge, des Staates, kann eine Neugestaltung erfolgen. Auch sie muß von unten nach oben durch freie und abberufbare revolutionäre Vertreter der einzelnen Straßen, Viertel, Kommunen und Provinzen vollbracht werden.

An Bakunin knüpft die Richtung des „kommunistischen Anarchismus“ an, als dessen theoretische Hauptvertreter - soweit hier von Theorie die Rede sein kann - der Russe Fürst Peter Kropotkin (1842—1921) anzusehen ist. In seiner Kritik der bestehenden Gesellschaftsordnung, insbesondere des Staates, des Rechtes und des Privateigentums findet sich bei Kropotkin kein einziger Gedanke, der neu wäre und eine theoretische Weiterführung oder Vertiefung der dem Anarchismus zugrunde liegenden Gedankenreihen bedeutete. Eine Fortbildung der Lehre kann bloß darin gesehen werden, daß Kropotkin die Kritik des Staates auch auf den Staat in seiner demokratischen parlamentarischen Form erweitert. »Der Parlamentarismus ist für jeden, der ihn in der Nähe gesehen hat, ein Ekel.« Wo es sich um die Interessen der herrschenden Kapitalistenklasse handelt, dort ist »das namenlose sechshundertköpfige Tier« des Parlamentarismus ebenso unnachgiebig wie jeder andere Despot Er ist überall »zu einem Werkzeug für Umtriebe und persönliche Bereicherung geworden« Er dient nur dazu, um innerhalb der herrschenden Bourgeoisieklasse selbst die Möglichkeit einer friedlichen Austragung ihrer Streitigkeiten zu geben und das Gleichgewicht verschiedener feindlicher Interessentengruppen herzustellen. Nie wird es aber gelingen, im Wege der Gesetzgebung Vorteile zugunsten der beherrschten Majorität zu erzwingen. Der Name der Parlamente stammt von »reden«, parler, es sind Redetribünen, die immer die Entscheidungen zugunsten des Volkes zu verschleppen suchen und nur vor dem entschlossenen Willen der Massen zurückweichen, um im besten Falle die durch die »Straße« geschaffenen Tatsachen nachträglich zu legalisieren. »Erst die vierzigjährige Bewegung, die Bewegung, die auch die Felder in Brand steckte, konnte das englische Parlament dahin bringen, den Pächter den Wert der von ihm geschaffenen Verbesserungen zu sichern.« Alle verfassungsrechtlichen »Freiheiten«: die Freiheit der Presse, das Vereinigungs- und Versammlungsrecht, das Briefgeheimnis und die Unverletzlichkeit der Wohnung sind ebenso viele Illusionen und Scheinrechte, die »nur so lange geachtet werden, als das Volk von ihnen keinen Gebrauch gegen die privilegierten Klassen macht«, aber an dem Tage, an dem das Volk beginnt, diese Freiheiten zur Untergrabung der Privilegien der herrschenden Klasse zu gebrauchen, wirft man alle diese feierlich garantierten »Rechte« über Bord.

Beachtung verdienen die Anschauungen Kropotkins über die Mittel und Wege zur Herbeiführung des idealen Gesellschaftszustandes. Die zu erwartende Wandlung der bestehenden Ordnung wird nicht friedlich, sondern im Wege eines gewaltsamen Umsturzes erfolgen. Die soziale Revolution wird keine Erhebung von wenigen Tagen sein, vielmehr wird man eine längere Revolutionsperiode von mehreren Jahren durchzumachen haben, bis die ökonomische und rechtliche Umgestaltung vollendet ist. Die soziale Revolution wird zwar in einem Staate beginnen, aber zu ihrem sicheren Erfolg ist ihre Ausbreitung über ganz Europa erforderlich. Die Aufgabe der Vorbereitung der Revolution ruht auf den in geheimen Gesellschaften und revolutionären Organisationen vereinigten Berufsrevolutionären. Diese sind zwar noch eine Minderheit. Aber am Vorabend der Revolution werden sie durch eine richtige revolutionäre Taktik die Massen gewinnen und zur Mehrheit werden. Im Frankreich vor der großen Revolution war die Zahl derer, die an die Abschaffung des Königtums und des Feudalismus dachten, gering; dies Minderheit hat die Revolution begonnen und in wenigen Jahren ist es ihr gelungen, die Massen mit sich fortzureißen. Die Mittel, durch welche die Massen für die Sache der Revolution gewonnen werden können  sind: mutiges Handeln, aufrührerische Taten. In revolutionären Zeiten vermehren sich die Kriegserklärungen der Bedrückten  und ihre Racheakte gegen die heutige Gesellschaft und machen mehr Propaganda als tausend Broschüren. Die Verfolgungen der Regierung treiben die Empörer zum Heldenmut. Gegner schließen sich dem Aufruhr an, die Regierung wird uneins, Zugeständnisse kommen zu spät, die Revolution bricht aus. Am Beispiel der Französischen Revolution zeigt Kropotkin, wie die damaligen Empörer  das Volk auf der Straße gewöhnten, der Polizei, den Truppen und der Kavallerie Trotz zu bieten. Das Volk wurde durch das tägliche Leben zum aktiven Angriff gegen die herrschende Klasse erzogen: es zündete in den Dörfern die Scheunen an, verweigerte die Zahlung der Grundzinsen an die Herren und der Steuern an den Staat, es erbrach die Speicher, vernichtete die Ernte der Gutsherren, verbrannte die Rechnungsbücher – und so brach die Revolution allenthalben los. Die sog. »Propaganda der Tat« des neueren Anarchismus ist somit keineswegs ein Vollbringen sinnloser Verbrechen an einzelnen Repräsentanten der herrschenden Ordnung zu propagandistischen Zwecken, wie sie zum erstenmal  in Rußland, von Bakunins Jünger Netschajew seit 1869 angewendet und seit 1878 auch von dem Deutschen Johann Most (1846-1906), einem ehemaligen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten, empfohlen und tatsächlich vielfach in Frankreich, Deutschland usw. praktiziert wurde, was in der Folge zu strengsten Repressalien seitens  der Regierungen führte, die die gesamte Arbeiterbewegung getroffen haben; sondern sie ist eine revolutionäre Taktik in einer unmittelbar revolutionären Situation, mit dem Zweck, die breitesten Massen in einen aktiven, tagtäglich zu führenden Kampf  gegen alle Machtpositionen der herrschenden Klasse hineinzuziehen und diese Klassenherrschaft zu zerbrechen. (...)