Bewusstsein der Lohnarbeiter (2007)

Das amerikanische Forschungsinstitut Gallup untersucht in Deutschland seit 2001 jährlich die Liebe der Lohnarbeiter zum Job und zu den Kapitalisten. Im Soziologendeutsch heißt so was "Engagement-Index". Das englische Wort "Engagement" hat einen Bedeutungsumfang von "feste (Liebes)Beziehung" über "Verpflichtung", und "wichtige Beschäftigung", "Abhängigkeit" bis hin zu "Kriegshandlung".

"Kriegshandlungen" der Lohnarbeiter gegen Kapital und Staat haben in Deutschland Seltenheitswert. Wie sehr treffen aber die anderen Wortbedeutungen von "Engagement" in der Arbeit und bei der Arbeit zu?
Wie sehr fühlen sich Lohnarbeiter in Deutschland ihren Kapitalisten verbunden? Das ist die Frage, die Gallup untersucht, und eines der ersten Kapitalistenblätter in Deutschland findet diese "Ergebnisse wieder einmal erschütternd".

Wirklich "engaged" mit ihrer Arbeit und ihrem Unternehmen sind 13 Prozent der Lohnarbeiter. Da wir wissen, dass die leitenden Angestellten, deren Aufgabe es ist, Kapitalfunktionen zu verrichten, ohne Kapitalisten zu sein, rund 1,5 % aller Lohnarbeiter stellen, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass 11,5% der Lohnarbeiter das Kapital (und das "Unternehmen") lieben, obwohl sie nicht die Vorteile der Kapitalisten genießen. Im linken Jargon gesprochen haben diese 11,5% ein "falsches Bewusstsein". Sie fühlen und denken nicht im Einklang mit ihrer sozioökonomischen Rolle.

Aber 87 Prozent der Lohnarbeiter in Deutschland "verspürten im vergangenen Jahr keine echte Verpflichtung gegenüber ihrem Job."
In der linken Theoriebildung gilt dieses "Jobbewusstsein" wenig. Für Marx war diese Gleichgültigkeit gegenüber der Tätigkeit, die für Lohn ausgeübt wird, die Basis allen Klassenbewusstseins. Erst dieses "Jobbewusstsein" zerreißt die Bindung der vorkapitalistischen Handwerker und kleinen Selbständigen an ihre Tätigkeit "...deren ökonomischer Charakter gerade in der Bestimmtheit ihrer Arbeit und dem Verhältnis zu einem bestimmten Meister liegt etc." K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen ßkonomie, 204.

"Daher ging aber auch jeder mittelalterliche Handwerker ganz in seiner Arbeit auf, hatte ein gemütliches Knechtschaftsverhältnis zu ihr und war viel mehr als der moderne Arbeiter, dem seine Arbeit gleichgültig ist, seiner besonderen Arbeit unterworfen." K. Marx, Deutsche Ideologie MEW 3, 52.
Dass dem "modernen Arbeiter" (in der großen Mehrheit) seine Arbeit gleichgültig ist und gleichgültig sein sollte, wusste Marx vor 150 Jahren. Die Gallup-Soziologen wissen das seit gestern. Es gibt Linke, die nicht einmal das wissen.

Die Gleichgültigkeit gegenüber dem jeweiligen Job ist Basis und Grundlage allen Lohnarbeiterbewusstseins.
"Richtiges Klassenbewusstsein", das wissen alle, ist aber nicht nur passive Gleichgültigkeit, sondern aktive Ablehnung und praktische Auflehnung.

Wie sieht es damit aus?
Mindestens passive Ablehnung äußert sich in "Dienst nach Vorschrift". Dienst nach Vorschrift machen laut Gallup 68 Prozent aller Lohnarbeiter in Deutschland - eine Zwei-Drittel-Mehrheit, die also für jede grundlegende ßnderung (auch des Grundgesetzes) ausreicht.

Aktive Ablehnung gegenüber Job und Unternehmen trifft auf 19 Prozent aller Lohnarbeiter in Deutschland zu. Sie haben laut Gallup "die innere Kündigung bereits vollzogen". Das sind die Kollegen "mit Wut im Bauch". Wo es zu "Kriegshandlungen" kommt, werden diese Kollegen am ehesten dabei sein. Immerhin ein Fünftel, also nicht gerade wenige.

ßbrigens sind diese Mehrheitsverhältnisse seit der ersten Gallup-Untersuchung von 2001 ziemlich unverändert geblieben.

Aus: Financial Times Deutschland, April 2007