Folter
Von Alexander
Bahar
Spätestens seit den
Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist die Folter weltweit auf dem
Vormarsch. Laut Amnesty International (ai) ist der Irak-Krieg der
schlimmste Angriff auf Menschenrechte und internationale Vereinbarungen
seit einem halben Jahrhundert. In ihrem aktuellen Bericht konstatiert die
Menschenrechtsorganisation eine verheerende Grundtendenz, wonach der
»Kampf gegen den Terrorismus« zunehmend auf Kosten der Menschenrechte
geführt werde. Durch Pseudo-Management-Begriffe wie »Streßpositionen« und
»sensorische Manipulation« werde das absolute Folterverbot verwässert. Die
US-Streitkräfte im Irak hätten sich »grausamer Menschen-rechtsverletzungen«
schuldig gemacht, heißt es in dem ai-Bericht weiter. Folter, Tötungen und
willkürliche Verhaftungen stünden auf der
Tagesordnung.
Inzwischen steht fest, was
ai-Generalsekretär William Schulz gegenüber dem US-Sender Fox News am 5.
Juni 2005 erklärte: Die Vereinigten Staaten unterhalten ein »Netz von
geheimen Gefängnissen rund um den Globus, in denen Menschen im wahrsten
Sinne des Wortes verschwinden und wo sie auf unbegrenzte Zeit und völlig
von der Außenwelt abgeschnitten, ohne jeden Zugang zu einem Rechtsanwalt
in Haft gehalten« werden. Der verstärkte Rückgriff auf die Folter durch
eine Regierung, die sich dem christlichen Fundamentalismus verpflichtet
fühlt, legt es nahe, sich mit der Geschichte der Folter
auseinanderzusetzen, die auch und vor allem eine »Kriminal-geschichte des
Christentums« (Karlheinz Deschner) ist.
Folter
im Römischen Reich
Das Quälen von Menschen, meist von
Gefangenen, Leibeigenen oder Sklaven, ist ein aus nahezu allen
geschichtlichen Epochen bekanntes Phänomen. Auch die Praxis, Menschen
durch die Zufügung physischer Schmerzen zu bestimmten Handlungen zu
zwingen, dürfte bis weit in die Frühzeit der Menschheit zurückreichen.
Ägyptern, Chinesen und Griechen war die Folter vertraut, zumindest in
Europa jedoch blieb es den Römern vorbehalten, eine komplexe Rechtsdoktrin
der Folteranwendung zu entwickeln. Das römische Recht kannte die Folter
als probates Mittel zur Geständniserzwingung sowie zur Erpressung der
Namen von Mittätern. Das Wort »Folter« leitet sich von dem
(nachklassischen) lateinischen Wort »poledrus« ab, das seinerseits auf das
spätgriechische Wort »polos« Fohlen zurückzuführen ist: ein
scharfkantiges Foltergerät, das eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Pferd
oder eben einem Fohlen aufwies. Das römische Recht sah die Folter
vergleichbar dem griechischen Recht ursprünglich nur gegenüber Sklaven
vor.
Seit dem ersten Jahrhundert unserer
Zeit, unter der Regentschaft des Kaisers Tiberius konnten bei sogenannten
Majestäts-verbrechen (crimen laesae maiestatis), also bei Hochverrat, auch
Freie gefoltert werden. Als sich vor allem in der Zeit vom 2. bis zum 4.
Jahrhundert die sozialen Gegensätze innerhalb der römischen Gesellschaft
verschärften, wurde die Anwendung der Folter auf immer mehr jeweils
durch kaiserlichen Erlaß festgelegte Verbrechen ausgedehnt. Die
herrschende Klasse, die ihre Mitglieder als »honestiores« (Edle)
bezeichnete, degradierte die einfachen Bürger zu »humiliores« (Niedrige),
denen sie die gleiche Rechtsunfähigkeit wie Sklaven
zuschrieb.
Anders als den Römern war die
Folter nach Ansicht der meisten Rechtshistoriker dem »germanischen
Rechtsdenken« ursprünglich fremd eine These, die sich für die Zeit vor
der Völkerwanderung allerdings mangels Quellen nicht eindeutig belegen
läßt. Zwar gab es auch bei den Germanen die hausherrliche Gewalt der
Freien über die Unfreien, die auch die Anwendung physischer Zwangsmittel
erlaubte, doch war diese kein strafrichterliches Mittel zur Erzwingung
einer Aussage. Unstrittig hingegen ist, daß die Germanen als Beweismittel
neben dem Eid das sogenannte »Gottesurteil« (auch »Ordal«) kannten, zu dem
neben dem Zweikampf eine Reihe von äußert schmerzhaften Praktiken zählten
(wie etwa das Gehen über glühende Kohlen). Diese Gottesurteile dienten
allerdings nicht dem Zweck, ein Geständnis zu erzwingen, was sie
grundsätzlich von der Folter im engeren Sinne unterscheidet. Ausdrücklich
taucht die Folter vor allem gegen-über Sklaven erstmals in Sammlungen
germanischer Stammesrechte aus dem sechsten und siebten Jahrhundert u. Z.
auf. Nachweisbar ist sie fast ausschließlich in den Gebieten, die
innerhalb der Grenzen des früheren römischen Reiches lagen also in den
Gebieten westlich des Rheins und südlich der Donau. »Schon das legt den
Schluß nahe, daß die Folter aus dem römischen Recht übernommen wurde
«
(Dieter Baldau).
Gern verweisen Kirchen- und andere
Historiker auf das offizielle Folterverbot und die angeblich durchgehende
Ablehnung der Folter durch Kirchenväter und Päpste vor der
Jahrtausendwende. Dieses Verbot war freilich mehr theoretischer als
praktischer Natur. Bereits der große Kirchenvater und Kirchenlehrer
Augustinus (354431) verwarf zwar grundsätzlich die Todes-strafe, »weniger
aus humanen, sondern vielmehr aus theologischen und praktischen Gründen«
(Karlheinz Deschner), arrangierte sich aber schließlich mit ihr. Im Laufe
des Kampfes gegen die Häretiker (Donatisten, Arianer, Manichäer,
Pelagianer u. a.) paßte Augustinus seine Anschauungen den praktischen
Erfordernissen der kirchlichen Ketzerbekämpfung an. Suchte er die
Häretiker zunächst mit den Mitteln der Propaganda auf dem Wege
theologischer Polemik zu überzeugen, empfahl er in einem zweiten Schritt
ihre Unterdrückung mit gemäßigter Strenge (temperata severitas), um
schließlich zur Anwendung aller Repressivmaßnahmen zu raten
»einschließlich der Folter und der Todesstrafe, wodurch er sich vollends
den 'Ruhm' des ersten Theologen der Inquisition verdiente« (J. R.
Grigulevic).
Auf Veranlassung der Kirche verbot
noch zu Lebzeiten von Augustinus der römische Kaiser Theodosius, unter dem
das Christentum als alleinige Staatsreligion anerkannt wurde (380), die
übrigen Religionen und konfiszierte den Landbesitz der heidnischen Tempel
zugunsten der christlichen Kirche. In den achtziger Jahren und zu Anfang
der neunziger Jahre jenes Jahrhunderts erließ Theodosius, von der Kirche
nicht ohne Dank der Große genannt, eine Reihe von Edikten über die
Verfolgung der Heiden und Häretiker (Manichäer). Ein Bekenntnis und ein
Kult, die sich gegen die vom römischen Kaiser repräsentierte Religion
richtete, galt nun als Majestätsverbrechen und wurde entsprechend
verfolgt. »Majestätsverbrecher« wurden mit dem Verlust der
staatsbürgerlichen Rechte, der Einziehung ihrer Güter, Verbannung,
Deportation und schließlich mit der Todesstrafe, sogar dem Feuertod,
bestraft. Die Präfekten wurden verpflichtet, Inquisitoren
(Untersuchungsrichter) sowie Denunzianten (Geheimagenten) zum Aufspüren
verborgener Manichäer und anderer »Majestätsverbrecher« zu ernennen. Zum
ersten Mal in der Geschichte des Imperiums wurden damit »die Anhänger
eines religiösen Kults in den Rang von Staatsverbrechern erhoben und wurde
ein spezieller geheimer Untersuchungsapparat mit uneingeschränkten
Vollmachten zu ihrer Verfolgung und Bestrafung geschaffen.« (J. R.
Grigulevic). Bezeichnenderweise sollten sich in späterer Zeit alle
kirchlichen Apologeten der Inquisition zu deren Rechtfertigung auf eben
dieses Gesetz berufen. In weiteren kaiserlichen Erlassen wurden in der
Folgezeit immer mehr gegen die Kirche oder den Klerus verübte Taten und
die meisten Formen religiöser Abtrünnigkeit, allen voran die Abweichung
von den von der Kirche sanktionierten Dogmen, zu öffentlichen Verbrechen
erklärt. Der Kaiser und seine Richter waren damit verpflichtet, gegen sie
vorzugehen.
Das römische Recht geriet wie
vieles andere mit dem Untergang des Römischen Reiches in Vergessenheit.
Das Recht des europäischen Mittelalters war überwiegend durch nur
teilweise schriftlich fixiertes Gewohnheitsrecht geprägt, das sich
örtlich und zeitlich recht unterschiedlich entwickelte und nicht
systematisch begründet war. Die Verfolgung und Ahndung von »Verbrechen«
(ein Begriff aus dem 12. Jahrhundert) war über Jahrhunderte hinweg
vornehmlich eine private Angelegenheit. Ein Interesse an der Aufklärung
des Geschehens oder an der Verwirklichung eines »staatlichen
Strafanspruches« war weitgehend unbekannt. Es gab daher weder einen
öffentlichen Ankläger noch Beamte, die Straftaten aufspürten und
Untersuchungen durchführten. Dem Opfer bzw. seinen Angehörigen oblag es,
Klage zu erheben und die Vertreter der Justiz auf den Plan zu rufen. Das
Geständnis des Beklagten galt nicht als Beweismittel für dessen Schuld,
sondern lediglich als eine Strafunterwerfungserklärung. Auf ein Geständnis
der »Wahrheit« kam es gar nicht an, vielmehr glaubte man, Gott selbst
spreche sein Urteil über Schuld oder Unschuld, und in dieses göttliche
Urteil mußte sich auch der Kläger fügen. Kam es zu einer Entscheidung
zwischen den streitenden Parteien, war die Sache in der Regel auch für die
Allgemeinheit erledigt.
Erschütterung
der feudalen Ordnung
Ab dem 11. Jahrhundert geriet das
widersprüchliche soziale Gefüge der feudalen Gesellschaft mehr und mehr in
Bewegung. Innere feudale Fehden sowie nicht enden wollende Konflikte mit
äußeren Gegnern erschütterten ab dem 11. Jahrhundert Mittel- und
Westeuropa. Obwohl die Not vor allem der untersten Schichten oft
katastrophale Ausmaße annahm, stieg die Bevölkerungszahl in diesem
Jahrhundert unaufhörlich an. Grundlage dieses Wachstums waren die
Fortschritte in der landwirtschaftlichen Produktion (verbesserte
Anbaumethoden, Rodungen, Vermehrung der tierischen Arbeitskraft,
verbesserte Werkzeuge etc.)
Im 12. (und 13.) Jahrhundert
erreichte das Papsttum den Höhepunkt seiner Macht. Unter den Bedingungen
des Feudalismus hatte die Kirche in den Ländern Westeuropas einen
gewaltigen Einfluß gewonnen und unermeßliche Reichtümer angesammelt. Sie
verwandelte sich nach Friedrich Engels in die »allgemeinste
Zusammenfassung und Sanktion der Feudalherrschaft« und beherrschte das
gesamte geistige Leben der Gesellschaft. Das Streben des Papsttums nach
Hegemonie führte aber notwendigerweise zum Zusammenstoß mit der weltlichen
Macht. Gleichzeitig wuchs im Schoße der feudalen Gesellschaft langsam aber
unaufhaltsam ein neues Element heran: die Städte. Deren Bürgerschaft
stritt im erbitterten Kampf gegen die feudalen Stadtherren um ihre
Freiheit. Die Prachtentfaltung der Kirche und der Luxus, mit dem sich
insbesondere die Vertreter der hohen Geistlichkeit umgaben, standen im
krassen Gegensatz zur Armut der von Adel und Klerus ausgebeuteten
Bevölkerung.
Der Zorn der in Bewegung geratenen
Bauern und Bürger richtete sich daher vor allem gegen die Geistlichkeit
die Bischöfe, Äbte und Mönche, die auf Kosten des Volkes ein behagliches
Leben führten, das soziale Joch heiligten und in Lastern versunken waren.
Parolen gegen das »neue Babylon« (das katholische Rom) und gegen den neuen
»Antichristen« (den römischen Papst) stießen zunehmend auf offene Ohren.
Bis dahin als unerschütterlich geltende kirchliche Dogmen wurden in
wachsendem Maße angezweifelt. In ganz Westeuropa, in Norditalien,
Frankreich, bis zu einem gewissen Grad auch in Deutschland entstanden
antifeudale Bewegungen, die unter der absoluten geistigen Vorherrschaft
der Kirche nur die Form religiöser Häresien annehmen konnten. Im 11. bis
13. Jahrhundert verbanden sich die städtischen und bäuerlich-plebejischen
Häresien zu einem einheitlichen, antifeudalen Strom, der Kirche und
Adelsherrschaft gleichermaßen bedrohte. Auf der anderen Seite
zentralisierten Päpste, Könige und Landesfürsten zunehmend ihre
Machtausübung. Mehr und mehr entstand bei den herrschenden feudalen
Schichten das Bedürfnis nach allgemein anwendbaren, bindenden Gesetzen für
das gesamte christliche Europa.
Wiederentdeckung
römischen Rechts
Vor diesem Hintergrund kam es im
12. Jahrhundert in Westeuropa zu einer »Revolution« (John H. Langbein) auf
dem Gebiet des Rechts, die die Strafrechtsordnung und viele andere Gebiete
der Rechtskunde erfaßte. Dabei wich das ältere Anklageverfahren
(Akkusationsprozeß) mit seinem System von Beweisen und Gottesurteilen zwei
verschiedenen, aber gleichermaßen revolutionären Verfahren, dem
Inquisitionsprozeß, bei dem ein Richter ohne öffentliche oder private
Klage von Amts wegen ermittelte und die Strafe verhängte, und dem
Schwurgerichtsprozeß, in dem Geschworene versuchten, zu einem Urteil zu
gelangen. Weitere Folgen waren die Schaffung einer eigenen juristischen
Ausbildung, das Entstehen eines allein der Justiz dienenden Berufsstandes
und neuer Institutionen des angewandten Rechts in ganz Westeuropa, die bis
zum Ende des 18. Jahrhunderts bewahrt und weiterentwickelt
wurden.
Ein Katalysator dieser Entwicklung
war die Wiederentdeckung und Bearbeitung des geschriebenen römischen
Rechts. Unter dem oströmischen Kaiser Justinian war im Jahr 534 eine große
Rechtssammlung mit verschiedenen Teilen, das sogenannte Corpus iuris
civilis (Gesamtwerk des weltlichen Rechts) erarbeitet worden. Darunter
befand sich eine Sammlung von mehr als 2000 juristischen Schriften, der
sogenannten Digesten oder Pandekten. Auf Grund einer im 11. Jahrhundert
wiederentdeckten vollständigen Handschrift der Digesten entstand ab dem
beginnenden 12. Jahrhundert an der Universität von Bologna eine
Juristenschule, deren Vertreter sich der Rekonstruktion und methodischen
Erläuterung dieses Werkes zuwandten. In Italien griff man bereits seit dem
12. Jahrhundert auf das altrömische Recht zurück. Auch in Deutschland, wo
weltliche Herrschaftsträger sich immer wieder mit der Kirche und deren
rechtlich geschulten Klerikern auseinanderzusetzen hatten, schickte man
nun Studenten zum Studium der in Deutschland nicht existierenden
Rechtskunde vermehrt an italienische Hochschulen.
Unabhängig von der im 12.
Jahrhundert einsetzenden Rezeption des römischen Rechts hatten sich im
Kirchenrecht (Corpus iuris canonici) Spuren des älteren römischen
Verfahrens erhalten. Seit ihrer Förderung unter Konstantin I. dem Großen
war die christliche Kirche zum wichtigsten Verbündeten der römischen
Kaiser avanciert. Kein Wunder, daß sie sich am römischen Recht orientierte
(Ecclesia vivit lege romana »die Kirche lebt nach römischem Recht«). Wie
im römischen, so galt auch im kanonischen Strafverfahren als Regel, daß
das Prozeßverfahren öffentlich und mündlich und streng an die
Anklageschrift des Anklägers gebunden war; außerdem oblag es dem Richter,
ein Geständnis des Angeklagten zu erlangen. Anders als das römische Recht,
das bei Majestäts- und anderen Kapitalverbrechen die Anwendung der Folter
zuließ, akzeptierte das kanonische Anklageverfahren nur ein »freiwillig«
abgelegtes, also nicht mit Gewalt erzwungenes Geständnis. Immer wenn sich
ihre Vertreter durch das kanonische Recht an entsprechenden Maßnahmen
gehindert sahen, wandte sich die Kirche daher an die weltliche Macht
Herrscher und Gerichte. Um das im kanonischen Recht vorgeschriebene
Prinzip der »Freiwilligkeit« des Geständnisses zu wahren, verfiel man
außerdem auf den Kunstgriff, den Beklagten sein erfoltertes Geständnis
außerhalb des Folterkellers wiederholen zu lassen. Wer widerrief, was
nicht selten geschah, mußte freilich mit erneuter, noch schwererer Folter
rechnen.
Allerdings hatte sich in der Kirche
neben dem Anklageverfahren schon frühzeitig ein anderes Strafverfahren
entwickelt, das der inquisitio. Diese Verfahrensform (Einleitung des
Verfahrens durch einen Beamten, Sammeln von Tatsachenbeweisen, Anhören von
Zeugen, das vom leitenden Richter gesprochene Urteil) war entstanden, um
gegen Kleriker bei offensichtlichen Verfehlungen von Amts wegen
einzuschreiten, auch wenn kein Ankläger aufgetreten war das kanonische
Recht ließ die Anklage gegen einen Geistlichen durch einen Laien oder
gegen einen höherstehenden Geistlichen nicht zu. Die inquisitio, die schon
seit Jahrhunderten von den kirchlichen Gerichten praktiziert worden war,
kann als ein »Vorläufer« des späteren Inquisitionsprozesses angesehen
werden (Edward Peters). Auch Karl der Große soll sich der inquisitio in
seltenen Fällen bedient haben. An diese Verfahrensform, die später
insbesondere durch Papst Innozenz III. und durch die Beschlüsse des 4.
Laterankonzils von 1215 bestimmter geregelt wurden, konnte die Kirche bei
den Ketzerverfolgungen des Hochmittelalters anknüpfen. So erklärt es sich,
daß die Wiederentdeckung des römischen Rechts samt seiner Folterdoktrin
zuerst und vor allem in der Kirche auf fruchtbaren Boden fiel und auf das
Kirchenrecht den unmittelbarsten Einfluß hatte. Mit dem weiteren
Fortschreiten des 12. Jahrhundert begann das römische Recht dann alle
europäischen Rechtssysteme nachhaltig zu beeinflussen.
Wie anfänglich im Römischen Reich
beschränkte sich die Anwendung der Folter im Mittelalter zunächst auf die
untersten Schichten der Bevölkerung. Die frühesten Erwähnungen in Quellen
aus dem späten 11. und dem frühen 12. Jahrhundert belegen, daß die Folter
bekannten Verbrechern und den »geringsten unter den Menschen«, den
vilisimi homines, vorbehalten war. Dagegen war für »ehrenhafte Männer, die
nicht durch Gnadenerweise, Begünstigungen und Geld zu korrumpieren sind«,
nach wie vor der geschworene Eid als Beweismittel zugelassen. »Die
geringsten der Menschen jedoch [!], können nicht allein auf Grund ihres
Eides [als Zeugen] zugelassen werden, sondern sind der Folter zu
unterwerfen, will sagen dem Urteil des Feuers oder des kochenden Wassers«,
heißt es in einer Passage aus dem Buch von Tübingen (um 1100). Darin wird
das Gottesurteil als »Folter« bezeichnet und für eine bestimmte Gruppe von
Zeugen reserviert.
Aus: Junge Welt,
24.04.2006 |