Pyrenäenwanderung Ist Urlaub Privatsache? Urlaub ist so wenig Privatsache, dass es die
Zuarbeit vieler Menschen bedarf, damit aus Urlaub eine Erholung und keine
Katastrophe wird. Der Gesamtwert dieser Urlaubsdienstleistungen für
deutsche Urlauber betrug 2005 rund 47 Mrd. Euro. Umgerechnet in
Arbeitsstellen heißt das, dass rund 1,5 Millionen Menschen in aller Welt
ein ganzes Arbeitsjahr damit beschäftigt waren, unseren Urlaub erholsam zu
machen. Urlaub ist so wenig Privatsache, dass der
Jahresurlaub für Lohnarbeiter zur Erhaltung und Wiederherstellung der
Arbeitskraft
im Bundesurlaubsgesetz gesetzlich vorgeschrieben
ist. Was an meiner Fernwanderung durch die Pyrenäen
nicht Privatsache war, das habe ich hier (auf)gezeichnet, fotografiert und
berichtet. Pauschalurlauber kaufen ein komplettes
Dienstleistungspaket als Ware, um im Urlaub bedient zu werden wie
heutzutage Kinder oder wie zu früheren Zeiten
Könige. Selbst wenn Urlauber wie ich Dach, Schlafzimmer,
Küche und Kleiderschrank auf dem Rücken mit sich tragen und nicht nur das
Reiseziel, sondern auch alle Reisetappen selbst bestimmen, der muss vorher
die fertige Wanderausrüstung kaufen und beansprucht sowohl Transportarbeit
bis zum Reisebeginn als auch fremde Arbeit zum Anlegen und Unterhalten der
Wege durch die Berge. Der Startpunkt unserer Fernwanderung war Jaca in
den spanischen Pyrenäen. Wir flogen nach Barcelona und stiegen dort in
einen Fernbus.
1. Berghütten und
Ökologie Im Vergleich zur französischen Seite und erst
recht im Vergleich zu den Alpen sind die spanischen Pyrenäen weniger
verkehrstechnisch und touristisch erschlossen. Straßen in Seitentälern
sind meist ungeteerte Schotterpisten. Neben einigen Bergdörfern, die ganz
auf Tourismus ausgerichtet sind, stößt man auf Dörfer, die weder Gasthaus
noch Kiosk aufweisen oder gar auf Dörfer, die von ihren Bewohnern ganz
oder teilweise verlassen wurden. Um so wichtiger sind Berghütten als
Anlauf- und Durchlaufstation für Tagestouristen, Wanderer und
Bergsteiger. Sind Helikopter sanft und ökologisch? Viele
Berghütten in den Pyrenäen werden durch Hubschrauber ver- und entsorgt.
Gleichzeitig wird aber durch Text und Bild in den Berghütten suggeriert,
Bergsteigen und Bergwandern sei ein "sanfter", ja sogar ein besonders
"edler" Tourismus. Tourismus ist Warenkonsum und Naturkonsum und
egal, wo wir uns im Urlaub aufhalten, in den Bergen oder am Strand, in der
Stadt oder in der Natur, wir konsumieren, verbrauchen und zerstören dabei
Natur - mal mehr und mal weniger. Im eigenen Zelt irgendwo in der Bergwelt schlafen
wir besser als mit schnarchenden und stinkenden Mitmenschen im
Matratzenlager einer Hütte. Das Zelten abseits der Wege ist in den
Pyrenäen in Höhen ab 1800 Meter und begrenzt auf die Nachtzeit selbst in
den Naturparks erlaubt. Wir richteten unsere Wegroute so ein, dass wir
allenfalls Mittags oder Nachmittags zum Essen in einer Berghütte waren und
vermieden die Übernachtung dort. In den Tälern gibt es Campingplätze und
Pensionen oder Hotels. 2. Stiefel oder das
Proletariat Meine Stiefel sind meinem Willen unterworfen und
müssen hingehen, wohin ich will. Die Stiefel sind Mittler und Puffer
zwischen mir und der Natur. Sie puffern und polstern mir die Stöße,
Spitzen und Stacheln von Stein, Fels und Pflanzen und geben mir Sicherheit
im schwierigen Gelände. Barfuß und ohne meine Stiefel käme ich in den
Bergen keine vier Schritte weit. Kurz - innerhalb meines Urlaubsystems spielen
meine Stiefel die Rolle des Proletariats und wie das Proletariat können
sich die Stiefel nur destruktiv gegen die Zumutungen ihrer Herrschaft
wehren - indem sie ihren Dienst verweigern und versagen, indem die Bändel
reißen, die Nähte platzen, sich die Sohlen lösen. Als Stiefelkapitalist meine ich natürlich, meine
Helfer zu lieben. Ich pflege die Stiefel, aber nicht, weil es den
Stiefeln, sondern weil es mir gut tut, und die Stiefel länger halten.
Gehen die Stiefel kaputt, kaufe ich mir neue. Außerdem habe ich Ersatzschuhe bei mir für alle
Gelegenheiten, wo mir die Stiefel zu klobig, zu schwer, zu unbequem sind:
In der Stadt, am Abend, beim Schwimmen im Bergsee. 3. Wege und
Wegzeiten Die Bergpfade wurden meist von Hirten mit ihren
Herden angelegt. Für sie war wichtig, dass sie möglichst gefahrlos in die
Höhen kommen. Erst mit den heutigen Bergtouristen kam moderne Eile hinzu,
die in Stunden und Minuten denkt, nicht in Tagen und Tageszeiten.
In unseren Städten werden Kunden mit
Billigangeboten in die Geschäfte gelockt. In den Bergen werden Wanderer
und Tagestouristen mit optimistischen Wegzeiten zu Hütten und anderen
Ausflugszielen gelockt. Solche Wegzeiten suggerieren die Pünktlichkeit und
Zuverlässigkeit von Fahrzeugen, die auf Straßen und Schienen verkehren.
Wir erreichten - selbst bei bestem Wetter - keine dieser angegebenen
Wegzeiten. Meist benötigten wir 50 Prozent mehr Zeit, manchmal sogar 100
Prozent mehr. Auf der spanischen Seite sind Zeitangaben seltener, wo man
sie antrifft, sind sie ebenso irreführend. Ein Gutteil der Bergunfälle mit Tageswanderern
wird durch verführerische Wegangaben verursacht, die Leute in Regionen
locken, für die sie nicht die Ausdauer, Ausrüstung oder Zeit
mitbringen. 4. Natur und
Wertdenken Gemsen erzeugen nur so viel Fleisch (Nachkommen),
Fett, Milch etc. wie sie für sich und die Erhaltung ihrer Art benötigen.
Sie betreiben gewissermaßen Subsistenzwirtschaft und leben, produzieren
und konsumieren nur für sich. Man vergleiche damit die Ziegen, die von Menschen
domestiziert wurden. Ihnen wurde die Selbständigkeit geraubt und sie
werden umsorgt - aber nur, damit sie einen Überschuss, ein Mehrprodukt
liefern an Milch, Fell, Fleisch (Nachkommen), das sich ihre Besitzer
aneignen. Murmeltiere haben Rattenköpfe und Mopskörper. Es
sind ziemlich hässliche Lebewesen. Viele finden sie dennoch niedlich - wohl weil
diese Tiere den Menschen fliehen und sich rar machen. Würden die
Murmeltiere wie Ratten in unserer Kanalisation oder wir Kaninchen in
unseren Parks hausen, Kinder würden mit Steinen nach ihnen
werfen. Beim Edelweiß ist es nicht anders: Es hat mehr
Ähnlichkeit mit einer Distel als mit einer Blume, jedes Gänseblümchen ist
schöner. Das Edelweiß lebt und wächst aber weit weg von der Menschenwelt.
Das macht es scheinbar "edel". Nur mit elitärer Menschen- und
Massenverachtung gelingt es, eine unscheinbare Sache als "edel"
wertzuschätzen, weil sie nicht in Massen und nicht in unserer Mitte
vorkommt. 5. Rucksack und
Sozialstaat Aus meinem Rucksack versorge ich mich mit dem
Lebensnotwendigem. Der Rucksack enthält meinen Vorrat an Existenzmitteln.
Der Rucksack ist mein Sozialstaat. Aber wie beim Sozialstaat kann ich aus dem
Rucksack nur nehmen, was vorher hineingetan wurde. Die Forderung an den Staat nach bedingungslosem
Grundeinkommen für alle, ist so sinnvoll wie die Forderung an meinen
Rucksack, alle Bergwanderer mit Essen, Trinken und warmer Kleidung zu
versorgen. Natürlich kann man den Rucksack wie den
Sozialstaat mit mehr Gütern füllen, aber was man an Gütervorrat gewinnt,
wird gleichzeitig mehr Last zu schleppen. Je voller der Rucksack, desto
beschwerlicher die Last. Sowieso dient ein Rucksack - wie der Sozialstaat -
nur für Leute und Örtlichkeiten, die von der Produktion von
Existenzmitteln getrennt sind. Wo ich mir ständig Lebensmittel beschaffen
kann - zu Hause, in der Berghütte, im Hotel - brauche ich keinen Rucksack.
Leute, die ihre Lebensmittel, ihre Kleidung, ihre Häuser für sich selber
produzieren, brauchen keinen Sozialstaat. Die Notwendigkeit des Rucksacks entsteht durch die
Trennung, bzw. Entfernung von den Produktionsstätten der Lebensmittel. Die
Notwendigkeit des Sozialstaats entsteht durch die Trennung von Produzenten
und Konsumenten. Weil den wirklichen Produzenten (den Lohnarbeitern) nicht
gehört, was sie produzieren, müssen sie im Notfall, bei Arbeitslosigkeit,
Krankheit und Alter beim Sozialstaat um Unterstützung betteln gehen.
Der Staat und die Staatsbediensteten produzieren
aber nicht selbst, sondern holen bei den einen, was sie den anderen geben.
Der Sozialstaat verteilt nur, was er anderen abgenommen hat. Aus dem
Rucksack kann nur herausgeholt werden, was vorher hineingetan wurde. Wer
nach mehr Sozialstaat ruft, der schreit nach mehr Steuern und Abgaben,
nach mehr Staatsbediensteten, der will einen größeren Rucksack.
Wer den Rucksack bzw. den Sozialstaat erst füllen
und dann schleppen muss, der wird davon nicht begeistert
sein. Wal Buchenberg, 21.08.2006 |
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