Froschs Fußreise über die Vogesen

Geografisch teilt sich das Elsaß in die wirtschaftlich entwickelte linksrheinische Ebene und das bewaldete, wenig besiedelte Bergland der Vogesen. Ich reiste Anfang Oktober zu Fuß 170 km von Saverne über den Höhenkamm der Vogesen bis Col de La Schlucht. Das war eine besondere Begegnung mit der Natur und eine Reise in eine unselige deutsche Vergangenheit.

Siehe die Karte mit meinem Wanderweg.

1. Tag

Saverne(200 m) - Dabo (530 m)

Ich marschiere los in dem kleinen Städtchen Saverne. Ich spreche zwei Fremdsprachen, kann aber nur ein paar Brocken Französisch. Als ich vor etlichen Jahren im Elsaß war, schien das Land noch fest in der Hand von Antideutschen zu sein. Ein Campingplatzwart, bei dem ich mich damals anmelden wollte, herrschte mich auf Französisch an: "Hier sind wir in Frankreich! Hier spricht man Französisch!" Mein Deutsch wurde meist verstanden, aber man antwortete mir in der Regel auf Französisch. Das hat sich sehr geändert. Wo immer ich zunächst auf Französisch herumstotterte, fragte man mich, ob ich Deutsch oder Englisch könne. Selbst der französische Bahnschaffner gab mir mein Ticket zusammen mit ein paar Worten auf Deutsch. Wer heute aus Deutschland ins Elsaß kommt, wird als Gast und nicht als potentieller Feind und Mörder angesehen.

Sind Elsäßer Deutsche?

Das Elsaß gehörte zu Deutschland, bevor es ein Deutschland gab. Wie die Elsäßer einmal deutschen Kaisern gehörten, genau so gehörten Schweizer und Deutsche einmal den Habsburgern mit Machtzentrum im heutigen ßsterreich. Sofern die Elsäßer "eigentlich Deutsche" sind, sind die Deutschen und die Schweizer "eigentlich ßsterreicher".

Die alten feudalen Eigentumsrechte an Menschen erbten moderne, bürgerliche Herren. Deren Nationalstaaten bildeten sich im Streit um den "Besitz" bestimmter Menschengruppen. So gab es seit dem 30jährigen Krieg einen Streit zwischen den Herrschenden in Deutschland und in Frankreich um die Herrschaft über die Bevölkerung des Elsaß und um den Besitz ihrer Landes.

Nach dem Dreißigjährigen Krieg gehörten große Teile des Elsaß zu Frankreich. Seit der Französischen Revolution war die französische Staatszugehörigkeit den Elsässern von großem Vorteil und wurde daher von ihnen weitgehend akzeptiert.

Der preußische Machtstaat unter dem blutigen Kanzler Bismarck holte die Elsäßer - ohne sie zu fragen - nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1871 "heim ins Reich". Die Elsäßer erhielten von ihren preußischen Herren keine politischen Rechte und wurden wie der von den USA besetzte Irak von einem Statthalter regiert.

Der Versailler Friede von 1919 machte aus den Elsäßern wieder französische Bürger. 300.000 zugezogene Preußen und Deutsche wurden ausgewiesen. Diese vertriebenen Deutschen (oft Bestandteil des preußischen Herrschaftsapparates) waren also "Opfer der Geschichte". Nach dem Hitlereinfall in Polen 1939 und dem Beginn des dritten deutsch-französischen Krieges evakuierte Paris die städtische Bevölkerung des Elsaß. Die Wehrmacht eroberte ein weitgehend entvölkertes Elsaß zurück und errichtete dort ihre Terrorherrschaft. Die verbliebenen Elsäßer wurden von der Hitlerregierung zu "Volksdeutschen" erklärt. 1942 bis 1944 zwangen die Nazis 100.000 junge Elsässer in die Wehrmacht.

1945 wurde das Elsaß wieder in Frankreich eingegliedert. Als Anhänger der Theorie von einer "deutschen Kollektivschuld" unterdrückten die Herrschenden in Frankreich den Gebrauch der deutschen Sprache im Elsaß. Bis 1972 blieb Deutsch als Schulfach im Elsaß verboten. Egal unter welchen Herren - Elsäßer zu sein, war ein besonderes Pech und die Auswandererquote der Elsäßer war hoch.

Wer mit dem Flugzeug reist, macht Erfahrungen, die knapp 100 Jahre zurückreichen. 1914 startete der erste Flugpassagier von St. Petersburg. Wer mit dem Auto reist, macht Erfahrungen, die 120 Jahre zurückreichen. 1888 startete Frau Berta Benz den ersten Autoausflug von Mannheim nach Pforzheim. Wer mit dem Zug reist, macht Erfahrungen, die 180 Jahre zurückreichen. Im Herbst 1825 beförderte erstmals der Zug zwischen Stockton und Darlington auch Personen. Wer mit dem Schiff reist, macht Erfahrungen, die rund 2600 Jahre zurückreichen. Nach einem Bericht von Herodot sollen die Phönizier um 600 v. Chr. Afrika umrundet haben.

Wer zu Fuß reist, macht Erfahrungen, die rund 50.000 Jahre zurückreichen. Seit es Menschen gibt, waren sie zu Fuß unterwegs. Vier Fünftel der Menschheitsgeschichte waren die Menschen auf Wanderung.

Hinter Saverne folge ich zunächst dem rechten Ufer der Rhein-Marne-Kanal, der Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut wurde. Auf wenigen Kilometern folgen viele kleine Staustufen mit Schleusen, in die kein heutiges Transportschiff mehr passt. Dadurch verlor der Kanal seinen wirtschaftlichen Nutzen und wird heute nur noch von Sportbooten und kleinen Privatyachten befahren. Bei Stambach (200 m Meereshöhe) wechsele ich die Kanalseite bei einer Schleuse und folge ab hier den roten oder blauen Rechtecken des Fernwanderweges 53, der dem Höhenrücken der Vogesen folgt. Der breite Weg folgt einem Bachlauf und steigt gemächlich bis zum ersten Bergrücken auf 530 m an.

Der Rucksack

Beim Rucksackpacken gibt es nur eine Regel: Mensch kann mitnehmen, was er/sie will. Wenn aber alles fertig gepackt ist (samt Lebensmittel für zwei oder drei Tage), darf der Rucksack keinesfalls schwerer sein als 20 Prozent des eigenen Körpergewichts. Wer mehr mitschleppt, der hat auf seiner Reise schnell zuwenig: Zu wenig Trinkwasser, zu wenig zu Essen oder zu wenig Spaß an der Wanderung. Die modernen Mikrofaser-Gewebe machen den Rucksack um einiges leichter. Ich bin immer mit einem 70-Liter-Rucksack unterwegs. Der hat den Vorteil, dass wirklich alles hineinpasst, und nichts außen am Rucksack herumbaumelt.

 

Gleich auf dem nächsten Bergrücken treffe ich auf eine der vielen Burgruinen der Vogesen.

 

Was wie ein Gefängnis oder Verließ in der Bergeinsamkeit aussieht, das wählten sich kleine Feudalherren als ihren bevorzugten Wohnsitz. Die bauliche Nähe dieser Ritterburgen zu Verließen legt eine Seelenverwandtschaft zwischen räuberischen Verbrechern einerseits und Rittern andererseits nahe. Den Resten dieser Bauwerke sieht man noch heute an, dass sie asozialen Menschen gehörten. Ritterburgen waren die versprengten Vorläufer der modernen Staatsmacht.

Von der Ruine Ochsenstein hat man einen weiten Blick bis zum Felsen von Dabo. Unter diesem Felsen liegt ein kleiner Campingplatz, mein erstes Tagesziel.

Es geht noch zweimal ins Tal runter und wieder rauf, dann bin ich unter dem Felsen von Dabo (536 m) angekommen, der auch mal eine Ritterburg getragen hatte. Heute trägt er nur eine Kirche. Der Campingplatz ist in dieser späten Jahreszeit bis auf ein paar Campingwagen verlassen. Eine Aufsicht gibt es nicht, aber die sanitären Anlagen sind geöffnet. Die Duschen sind leider ohne Wasser. Das hatte ich mir ein bisschen komfortabler vorgestellt.

1. Tag: Saverne(200 m) - Dabo (530 m), Wegzeit 6 Std, Pausenzeit 1,5 Std, 22 km; tiefster Punkt 200 m, höchster Punkt: 586 m.

2. Tag

Dabo (530 m) - Camping Nideck (330 m)

Die Nacht im Zelt war ebenfalls weniger komfortabel als ich erwartet hatte. Ich lag ziemlich hart und kalt und musste mich häufiger umdrehen, um nicht ganz auszukühlen. Wie sich herausstellte verlor meine teure Leichtgewichts-Luftmatte ihre Luft. Sie musste repariert werden oder ein Ersatz musste her. Vom Boden her friert man nachts schneller als über die Luft.

Am Morgen geht es weiter bergauf. Eine von mir gewählte "Abkürzung" erweist sich als tückisch. Die Wegauszeichnung ist bruchstückhaft und die Karte wenig aussagekräftig. Wir fragen eine Frau in einem einsamen Bergbauernhof nach dem Weg. Sie schickt uns quer durch den Wald über den Bergkamm bis auf 900 m Höhe. Nach einem langen Abstieg finden wir im Tal rote Rechteck unseres Fernwanderweges wieder. Der Weg wurde heute länger als geplant.

Auch der heutige Campingplatz ist bis auf ein paar Dauercamper verweist. Man kann aber heiß duschen. Bevor wir unser Zelt aufschlagen, sammeln wir ein paar Tintenschöpflinge, die auf der Wiese stehen. Zum Abendessen gibt-s Pilzgericht. Heute nacht schlafe ich auf allen meinen Klamotten.

2. Tag: Wegzeit 6 Std, 21 km. Höchster Punkt: 900 m, tiefster Punkt 330 m.

Die Karten

Wer immer den Zeichen eines Hauptwanderweges folgt, für den reicht ein Kartenmaßstab von 1 : 50.000. Wer aber hier oder dort seinen eigenen Weg und nach verschwiegenen Plätzen sucht, wo er länger als nur eine Nacht bleiben kann, der braucht unbedingt Karten im Maßstab von 1 : 25.000.

Ich habe immer eine ßbersichtskarte mit, auf der die Verkehrsanbindungen des ganzen Gebiets für einen Notfall zu finden sind. Von meinen Wanderkarten schneide ich ein paar Zentimeter rechts und links meines geplanten Weges alles weg, um Gewicht zu sparen. Papier ist schwer.

3. Tag:

Camping Nideck (330 m) - Bahnhof Urmatt (240 m)

Gegen Morgen hatte es etwas geregnet und ich beäuge misstrauisch den bewölkten Himmel. Meine Leichtgewichts-Luftmatratze muss repariert oder ersetzt werden. Wir gehen nur 7 km bis zur Bahnstation und fahren ins nahe gelegene Molsheim. Französische Bahnhöfe auf dem Land sind verwaist. Für den Fahrkartenautomaten haben wir kein Kleingeld. Der Zugschaffner kommt erst kurz bevor wir aussteigen wollen. Er lässt uns ohne Fahrkarte und ohne zu bezahlen aussteigen. Einer der Gründe, warum Frankreich liebenswert ist!

Uns tun schon mächtig die Knochen weh. Ich jogge zwar regelmäßig, aber an eine Rucksacktour muss sich der Körper immer erst gewöhnen.
Wir nehmen ein Hotelzimmer mit Badewanne, um meine Matratze zu flicken. Das Loch wird gefunden und mit unserem Reparaturset geflickt.
3. Tag: Wegzeit 2 Std, 7 km.

Molsheim

Nach Molsheim flohen während der französischen Revolution alle Pfaffen und Reaktionäre von Straßburg. Der Ort macht heute noch einen muffigen Eindruck. Nur zu Zeiten, wenn in Straßburg die Parlamentarier tagen, kommt hier Leben auf. Wie uns die Frau im Tourismus-Büro mitteilt, sind dann alle guten Hotels in 60 km Umkreis von Straßburg ausgebucht. Brave Menschen dürfen unterstellen, dass es sich da nur um Ehefrauen und Ehemänner unserer Parlamentarier handelt.

4. Tag:

Lützelhouse (250 m) - Müllerplatz (Wald, 850 m)

Der Zug bringt uns wieder raus aus Molsheim und wir starten dort, wo wir den Wanderweg verlassen hatten. Der Weg führt ständig aufwärts. Wir begegnen keinen Menschen mehr. Wieder mal gehen wir falsch. Da wir kein festes Ziel mehr haben, macht das nichts. Wir werden das Zelt im Wald aufschlagen. Gegen Abend füllen wir an einem Bach unsere Wasserflaschen für die Nacht und suchen uns ein Plätzchen abseits vom Weg.

4. Tag: Wegzeit 5 Std, Pausenzeit 1,5 Std, 16 km.

Wasser

Pro Tag und Person verbrauchen die Bundesbürger durchschnittlich 130 Liter Wasser. Nur rund 5 Liter werden für Essen und Trinken verbraucht. Das meiste wird für Hygiene verwendet.

Wer mit dem Rucksack unterwegs ist, benötigt rund 5 Liter am Tag für Trinken, Essen und Hygiene. Die fünf Liter will niemand mit sich herumschleppen. Je nach Gegend muss man einschätzen, wie viel Wasser man mit sich führt. Meist starten wir nach dem Frühstück mit einem Vorrat von einem Liter für zwei Personen. Aus Quellen, die direkt aus der Erde kommen, trinke ich ohne Bedenken. Aus fließenden, klaren Gewässern fülle ich Wasser in Flaschen und gebe pro Liter eine Tablette Mikropur hinzu. Diese kleinen Tabletten, deren Silberionen vorhandene Bakterien innerhalb einer Stunde töten, gibt es in jeder Apotheke. Wer zu Hause einen Wasservorrat in offenen oder geschlossenen Behältern anlegen will, für den ist Mikropur ebenfalls zu empfehlen.

Aus stehenden und schlammigen Gewässern pumpe ich Trinkwasser mit einem Keramikfilter von Katadyn. Ist in der Anschaffung recht teuer, das Gerät hält aber einige Jahre.

Unterwegs trinken wir in jeder Pause, und wo immer wir Wasser finden, um unseren Vorrat nachzufüllen. Durch Dehydrierung verliert der Körper schnell an Leistungsfähigkeit.

Wasser ist nicht nur wichtig zum Trinken, sondern auch für die Hygiene. Verschwitzte Klamotten kühlen beim Trocknen aus und unterkühlen den Körper. In jeder Pause muss man sich entweder wärmer einpacken oder trockene Sachen anziehen. Wer abends verschwitzt ins Zelt und in den Schlafsack kriecht, wird sogar in einer lauen Sommernacht frieren. Ich habe mich unterwegs schon ohne Abendbrot schlafen gelegt, aber nie, ohne mich am ganzen Körper gewaschen zu haben. Notfalls reicht dafür das angefeuchtete Handtuch.

 

5. Tag:

Müllerplatz im Wald (850 m) - Camping La Serva (1000 m)

Es war eine ruhige Nacht. Wir störten niemand im Wald und niemand störte uns. Unser Weg stieg weiter an und wir erreichten erstmals 1000 Höhenmeter. Dann folgte der Weg dem Gebirgsrücken. Auch der Campingplatz von Serva, den wir am Nachmittag erreichten, war verwaist. Wir waren die einzigen Besucher. Die Betreiber des Platzes in der nahegelegenen Ferme Auberge gaben uns einen Schlüssel für die sanitären Anlagen und kochten uns ein spätes Mittagessen. Die Duschen sind kalt. Na ja. Kaltes Wasser macht auch sauber. Abends wird es sehr kühl. Es ist Oktober und wir sind auf 1000 Metern.

5. Tag: Wegzeit 4,5 Std, Pausenzeit 1 Std. 13 km.

Natur als Freiraum

Der ßberwachungsstaat beobachtet jeden von uns und sammelt Daten über jeden von uns. Selbst Zugfahrkarten sind nicht überall anonym zu kaufen. Aber die moderne ßberwachungs- und Datensammelwut ist technologielastig. Videokameras und Abhörwanzen enden an jeder Stadtgrenze, Trojaner und Datenbanken benötigen Strom. Schäubles ßberwachung endet vor jedem Acker und an jedem Straßengraben. Lässt man das Handy zu Haus, dann ist jeder Wald, jeder Berg ein staatsfreier Raum. Zwar gelten staatliche Gesetze auch im Unterholz, aber niemand ist da, sie durchzusetzen. Wer sich in Wald und Gebirge zu bewegen weiß, bewegt sich in einem staatsfreien und selbstbestimmten Raum.

 

6. Tag:

Camping La Serva (1000 m) - Osieres im Wald (800 m)

Zwei Stunden nach unserem Aufbruch nehmen wir in einem Gasthof an einem Col (Passhöhe) ein zweites Frühstück ein. Der Weg folgt weiter dem Höhenrücken und ich bin etwas in Sorge wegen dem Wasservorrat für die Nacht. Schließlich finden wir einen kleinen Wasserlauf und schlagen unser Zelt in der Nähe auf. Unerwarteter Weise kamen bei Sonnenuntergang noch Spaziergänger an unserem Zelt vorbei, die sich aber nicht weiter um uns kümmerten. Ein weiterer Pluspunkt für Frankreich!

6. Tag: Wegzeit 5,5 Std, Pausen 2 Std. 18 km.

Trittsicherheit

Je schwerer der Rucksack, desto fester das Schuhwerk. Turnschuhe sind für Fußreisen ganz ungeeignet. Deren Sohlen sind bei Nässe rutschig und sie geben dem Fußgelenk keine Seitenstabilität. Das führt über kurz oder lang zu Fußschmerzen oder gar zu Unfällen.

Um Kraft zu sparen tritt mensch immer möglichst mit der ganzen Sohle flach auf den Boden. Auf runden oder spitzen Steinen muss die Muskulatur zusätzlich für die Balance des Fußes sorgen. Mensch tritt immer mit seinem ganzen Gewicht auf den vorwärtsbewegten Fuß - erst recht im abschüssigen Gelände. Je mehr Gewicht auf der Sohle lastet, desto höher ist die Reibung zwischen Sohle und Untergrund, desto geringer ist die Rutschgefahr.

7. Tag:

Osieres im Wald (800 m) - St. Marie aux Mines (420 m)

Die Nacht war kalt und es bildete sich Eis an unserem Zelt.

Meist packen wir erst unsere sieben Sachen und machen erst dann Frühstück. Das dauert jeden Morgen seine zwei Stunden vom Aufwachen bis zum Abmarsch. Frühstückt man zuerst, hat man schon wieder Hunger, bevor man in die Gänge gekommen ist.

Nach einem weiteren Anstieg öffnet sich die Landschaft und wir schauen über das nächste Tal. Dort unten in St. Marie aux Mines wollen wir unsere Lebensmittelvorräte auffüllen.

St. Marie aux Mines

St. Marie und das nahegelegene St. Croix sind alte Bergarbeitersiedlungen, deren früherer Glanz längst abgeblättert ist. Beispielhaft dafür das abgebildete Haus in der Hauptgeschäftsstraße (!) von St. Marie.

 

Weil wirtschaftlich interessant, machten sich nach 1939 die Nazis in dem Tal breit.

 

 

Der erste Gasthof, in dem wir nach Unterkunft fragten, hatte geschlossen. Am Eingang des zweiten Gasthofs hing auf Deutsch und Französisch ein handgeschriebener Zettel: "Geöffnet ab 17 Uhr. Zimmer frei."

Im Gästezimmer wird mit Ganghofer-Romantik geworben.

 

 

Vogesen-Tourismus

Der (Sommer)Tourismus der Vogesen ist in Krise: Zuwenig sanfter Tourismus, zuwenig Natur im Angebot, zuviel technische Anlagen (Hallenbäder, neue Skilifte im Bau), zu fette Küche, zu süße Weine; Oberbetten, die nicht für jeden neuen Gast gewechselt werden.

Von der lokalen Küche sollte mensch das Sauerkrautgericht Choucrute vermeiden: Es ist ein Berg Sauerkraut mit fettem Bauchspeck und derben Würsten. Für Franzosen exotisch, für Deutsche nur altväterlich. Versuchen kann man das "Baeckoffe", ein zwei Stunden geschmorter Kartoffeleintopf mit vier Fleischsorten, auch sehr fett, aber schmackhaft. Von den lokalen Weinen ist besonders der Gewürztraminer so süß, dass er als Aperitif gut genießbar ist, aber nicht als Wein zum Essen. Dass mir das lokale Bier überhaupt nicht schmeckt, mag vielleicht an mir liegen.

Der Vogesen-Tourismus müsste neu erfunden werden.

Meine Idee dafür sieht so aus:

 

 

 

Wir waschen noch am Nachmittag ein paar Klamotten mit Schnelltrocknung: Wäsche auswringen, dann auf ein trockenes Hotelhandtuch legen, einwickeln und diesen Wickel noch einmal auswringen.

7. Tag: Wegzeit 5,5 Std., Pausen 2 Std., 18 km.

Am nächsten Morgen kaufen wir im Supermarkt neue Lebensmittel.

Essen kochen

Unsere heutigen Wälder sind biologisch so verarmt, dass sie für Wanderer nicht genügend Nahrung bieten. Man findet zwar Beeren, Pilze, Nüsse und Kräuter, aber das gibt etwas Abwechslung in der Küche und ersetzt nicht eigene Vorräte im Rucksack.

Zum Gewicht der Lebensmittel kommt noch das Gewicht des Brennstoffs hinzu. Wir kochen mit Spiritus und dem Trangia Kocherset. Im Wald machen wir niemals offenes Feuer. Spiritus kann man überall nachkaufen, Camping-Gas nicht. Gas hat für Anfänger jedoch den Vorteil, dass sich die Flamme regulieren lässt. Das ist mit Spiritus etwas tricky.

An Vorräten haben wir immer dabei: Tee, Kaffeepulver, Milchpulver, Haferflocken mit Rosinen für Frühstück. Bonbons und Riegel für zwischendurch. (Bei jeder Pause unterwegs sollte man ein paar Kalorien zuführen.)

Schnellgerichte, die es unterwegs zu kaufen gibt: Suppen und Nudelgerichte mit einer Kochzeit von höchstens 5 Minuten.

Die geringste Kochzeit hat Fertig-Couscous. Das wird nur in heiße Brühe gekippt und ist das ideale Gericht für Mittags oder Abends. Es lässt sich mit gesammelten Pilzen, Nüssen oder Beeren variieren.

Außerdem haben wir ßl dabei, eine Curry-Mischung für Gemüse und Salz.

Gebrauchtes Geschirr muss mit Spüli gespült werden. Dafür reicht notfalls eine Tasse voll Wasser. Spül- und Waschwasser kippt man nie in die Gewässer, sondern immer "an Land".

 

8. Tag:

St. Marie (420 m) - Quelle Fundstein (900 m)

Der Weg führt aus dem Tal heraus auf den nächsten Bergrücken.

Auf der Höhe des Rosskopfes treffen wir auf einen Wanderweg zum Gedächtnis an den Naziterror im Elsaß und gehen ein Stück dessen Strecke.

Regenschutz

Nässeschutz ist wichtig, denn nasse Klamotten wärmen nicht. Bisher nutzte ich immer einen großen Regenponcho, unter dem auch mein Rucksack verschwand. Beim Gehen im Regen sammelt sich aber unter dem Poncho fast so viel Schwitz- und Kondenswasser wie über dem Poncho Regenwasser. Einen kurzen Regenschauer im Sommer hatten wir deshalb meist unter dem Poncho "ausgesessen".

Da wir in den Vogesen mit längerem Regen rechneten, besorgten wir uns Regenschutz für die Rucksäcke und trugen dazu einen großen Schirm mit. Da es jedoch tagsüber nicht regnete, haben wir mit diesem Regenschutz noch keine Erfahrungen gemacht.

Am Wegrand finden wir den größten Pfifferling, der mir bisher unter die Augen kam.

Beim Fernwandern kann man ja nicht mit Rucksack im Unterholz herumkriechen, um nach Pilzen suchen. Nur was einen am Wegrand anlacht, nimmt man mit. Angeblich soll dieses Jahr ein gutes Pilzjahr sein. Ich kann das nicht bestätigen. Wir begegneten an manchen Stellen mehr Pilzsuchern als Pilzen. Die meisten Röhrlinge, die wir sahen, waren schon alt und verschimmelt. Außer dem einen Riesenpfifferling fanden und aßen wir noch Schopftintlinge und Parasole (Schirmpilz). Parasole werden recht groß und sind kaum zu verwechseln. Siehe die Abbildungen bei Pilzfotopage.de

Auch Beeren fanden wir weniger als erwartet. Für Himbeeren war die Zeit schon vorbei. Walderdbeeren fanden wir ganze zwei. Brombeeren und die Heidelbeeren waren überall ratzekahl abgeerntet. An manchem Brombeerstrauch fanden wir noch ein oder zwei Beeren, auch etwas sauer. In den Vogesen werden Heidelbeeren für Heidelbeerkuchen quasi "industriell" mit einem Handrechen geerntet, da bleibt für Nachzügler kaum etwas übrig. Auf dem Kamm der Südvogesen fanden wir ein Hinweisschild, dass jeder Sammler pro Tag nur drei Liter Heidelbeeren ernten dürfe. Trotzdem blieb kaum eine Heidelbeere für uns übrig.

Es ist ein Zeichen von wirtschaftlicher Armut und Kurzsichtigkeit in der Region, dass die Einheimischen ihre Wälder und Bergregionen so gründlich ausbeuten und kaum was für Gäste lassen - es sei denn als verkaufbare Ware in Form von Marmelade oder Kuchen.

Mindestens alle zwei Tage fanden wir im Wald erntereife Kastanienbäume. Das gab nahrhafte und schmackhafte Gerichte:

Die Kastanien schälen und halbieren (um die Garzeit zu verkürzen), in ßl auf kleinem Feuer 5 Minuten anbraten bis sie glasig werden. So können sie schon verzehrt werden. Wir kochten mit den gebratenen Kastanien etwas Brühe auf, Couscous dazu - fertig! Mit etwas Honig oder Marmelade ein Genuss!

Ernährung der Wanderer und der Sesshaften

Heutzutage ist die Nahrung von sesshaften Menschen vielseitiger und gesünder als das Essen von Fernwanderern. Historisch war das umgekehrt. Mit der Sesshaftigkeit der Menschen in der Jungsteinzeit wuchs zwar das Nahrungsangebot in der Menge, verminderte sich aber in der Breite und Qualität. Zahnanalysen zeigen, dass Zahnkaries bei Jägern und Sammlern unbekannt war, es war aber Volkskrankheit der sesshaft gewordenen Bauern. In ägyptischen Mumien wurden innere Krankheiten von biblischem Ausmaß gefunden. Die mittelalterlichen Pestplagen waren direkte Folge des städtischen Zusammenlebens auf engstem Raum.

Gegen Abend verlassen wir unseren Wanderweg und steigen rund 100 m ab bis zu einer Quelle. Dort steht zwar eine offene Schutzhütte des Vogesenclubs, aber wir bevorzugen lieber unser sauberes Zelt vor einer verräucherten Unterkunft. Flöhe haben wir uns schon mehrmals in solchen Unterkünften geholt. Findet man am Körper zwei oder drei "Mückenstiche" nahe beieinander, dann hat man einen Floh. Meist verstecken sich diese Viecher in Kleiderfalten. Unsere Methode die kleinen Lieblinge loszuwerden: Man steigt angezogen in eine leere Badewanne, zieht sich dort aus und duscht sich kurz ab. Die Klamotten werden über Nacht in der Badewanne eingeweicht und dann in die Waschmaschine gesteckt.

8. Tag: Wegzeit 4 Std. Pause 1 Std., 13 km.

9. Tag:

Quelle Fundstein (900 m) - Lac du Forlet (1070 m)

Morgens steigen wir wieder zu unserem Wanderweg auf und kommen auf der Berghöhe zu einer Ferme Auberge mit schönem Blick über das Tal von St. Marie. Die Ferme Auberges sind alte Bergbauernhöfe, die nur zum Teil noch bewirtschaftet werden. Nur ein einziger Hof an unserem Weg hatte mehr als 20 Kühe. Viele ehemalige Höfe sind als Feriendomizil an privat verkauft. Einige wenige Höfe bieten Restauration und noch weniger Ferme Auberges bieten ßbernachtungsmöglichkeiten.

Unser Weg folgt wieder dem Bergrücken. Wir gehen auf rund 1000 m durch Wald und über Hochmoor.

Am Col du Calvaire erwartet uns ein hässlicher Skizirkus. Wir nehmen dort ein zweites Frühstück in einer Bar.

Von dort steigen wir ab zum Lac Blanc, dem ersten von einer Perlenkette von Karseen. Im Hochsommer treten sich hier die Ausflügler auf die Füße. So spät im Jahr haben wir das Seeufer für uns allein.

Wir legen das Zelt zum Trocknen aus, denn in der Nacht hatte es geregnet.

Vom Lac Blanc führt ein schmaler Pfad zum Lac Noir. Auch dieser Bergsee ist mit dem Auto erreichbar und deshalb für Wanderer wenig erfreulich. Wir essen im dortigen Restaurant gut zu Mittag: Kalbsbries mit Kalbsnierchen und Forelle in Riesling, beides mit Spätzle.

Dann geht es weiter zum Lac du Forlet.

ßber dem See steht dort eine Ferme Auberge, wo wir auf Unterkunft hofften. Aber auch dort wurde der ßbernachtungsbetrieb eingestellt. Die Chefin hat aber nichts dagegen, dass wir unterhalb der Ferme Auberge unser Zelt aufschlagen und die sanitären Anlagen des Restaurants benutzen. Wir essen dort zu Abend.

9. Tag: Wegzeit 4,5 Std., Pausen 2,5 Std. 13 km.

Naturnähe

Beim Fernwandern kommen wir der Natur näher. Aber wir kommen der Natur an Stellen näher, wo sie stachlig, spitzig, sperrig und widerspenstig ist. Es sind Stellen der Natur mit dichter Behaarung, die feucht und stinkig werden, oder abgelegene Stellen, die nur mit Mühe und Anstrengung zu erreichen sind. Beim Wandern stinkt die Natur eher nach Schweiß, Urin und Kot als nach Rosen.

Tierspuren fanden wir viele, meist von Rotwild und von Wildschweinen. Die Fährten von Fuchs und Dachs kann ich nicht von Hundepfoten unterscheiden. Gesehen haben wir nur einige Rehe, gehört haben wir in der Nacht Wildscheine und Waldkauz.

Unsere Wälder sind ein Lebensraum, der im "Schichtbetrieb" bewohnt wird. Da tagsüber so viele Menschen unterwegs sind, bewegen sich die Tiere meist nur noch in den Morgenstunden. Tiere, die im Streichelzoo bunt und vital sind, wirken im dämmrigen Wald nur grau und unscharf. Eigene Beobachtungen in der Natur können sich nie mit dem Zoo oder Tiersendungen im Fernsehen messen.

10. Tag:

Lac du Forlet (1070 m) - Col de La Schlucht (1140 m)

Die Nacht klarte der wieder Himmel und es blieb bis in die Morgenstunden kalt.

Inzwischen hatten wir bestes, sonniges Herbstwetter. Aber der Wind blies uns bitterkalt um die Ohren. Handschuhe hatten wir mit. Wir stiegen hinter dem See den Berghang hoch auf die "Crete", die Kammhöhe der Vogesen.

Dort verlief nach 1871 und nach 1939 die deutsch-französische Grenze. Auf der gesamten Wanderung begleiteten uns daher die alten deutschen Grenzsteine: Auf der Westseite das "F" deutlich lesbar. Das "D" auf der Ostseite weggemeißelt. Ich sah nur einen einzigen Grenzstein, wo das "D" geblieben war.

Der Schöpfer der Freiheitsstatue von New York, der Colmarer Künstler Bartholdi, hatte diese anstößigen Grenzsteine mitten in Frankreich als Vorlage für eine Bilderserie genommen. (Bartholdi-Museum in Colmar)

Im Vordergrund dieser Aquarell-Serie steht der deutsche Grenzstein als Fremdkörper, im Hintergrund ist die Silhouette des Straßburger Münsters zu sehen. Die antideutsche Botschaft: Mitten durch Frankreich wurde diese Grenze gelegt.

Die rund zwölf Kilometer Höhenweg über die Hochmoorlandschaft zwischen Lac Blanc und Col de La Schlucht ist das Highlight für Tageswanderer. Trotz schöner Ausblicke und Fotomotive sind wir Fernwanderer froh, als wir diese Strecke hinter uns gelassen hatten. Wir müssen den schmalen Weg, der beidseitig eingezäunt ist, mit Senioren-Wandergruppen in Kniebundhosen und roten Strümpfen teilen. Dass es deutsche Landsleute sind, erkennen wir daran, dass sie uns nicht grüßen. Alle Franzosen, denen wir im Wald begegneten, sagten selbstverständlich "Bon Jour!"

Wir erreichen Col de La Schlucht zum Mittagessen. Wie an vielen Cols stehen hier Hotels und Restaurants.

10. Tag: Wegzeit 4 Std., Pausen 0,5, 14 km. Gesamtweg: 170 km.

Um 14 Uhr 41 warten wir vergeblich auf den Bus, der hier laut Fahrplan täglich vorbei kommen soll. Schließlich trampen wir ins Tal hinunter. Dafür müssen wir nicht lange warten. Auch das scheint sich gebessert zu haben. Meine früheren Tramperfahrungen in Frankreich sind grauslich. Einmal standen wir volle 8 Stunden hinter Lyon und wurden an diesem Tag nicht mitgenommen.

Wir lassen uns in Munster absetzen. Munster ist aber nicht besser als St. Marie und lohnt keinen Aufenthalt.

Gästeliste des Grand Hotel Munster

Das ist eine zufällig gewählte Seite aus dem originalen Gästebuch des Grand Hotels Munster von Juli 1941. Bis 1939 hatte das Hotel nur französische Gäste, nach der Besetzung nur noch deutsche Gäste. Folgende Berufe sind auf dieser Seite vertreten:

?,?,?, Professor, Geschäftsführer, Flugzeugfabrikant, Prokurist, Arzt, Direktor, Kaufmann, Bankprokurist, ?, Oberingenieur, Werbeleiter, Dipl. Ing., ?, Chemiker, Angestellter, Physiker, Reichsbahnamtmann a.D.

Es war die deutsche Elite, die sich in den von Nazis besetzten Gebieten erholte.

Mit dem Zug fahren wir weiter bis Colmar. Das ist ein nettes Städtchen mit mittelalterlichem Stadtkern. Wir werden zwar belächelt, als wir mit den großen Rucksäcken in einem guten Hotel absteigen. Nach unserer Erfahrung in der "Wildnis" wissen wir aber auch modernen Komfort zu schätzen und zu genießen.

Frosch 2007.