Die Revolution hat längst begonnen!

 Die moderne Wirtschaft ist "ein gemeinschaftliches Produkt und kann nur durch eine gemeinsame Tätigkeit vieler Mitglieder, ja in letzter Instanz nur durch die gemeinsame Tätigkeit aller Mitglieder in Bewegung gesetzt werden." (Kommunistisches Manifest, MEW 4 : 475f)

Schon lange haben unsere Kapitalisten die persönliche Leitung der Wirtschaft an Manager abgegeben, die nichts anderes sind als bezahlte (und bestochene) Lohnarbeiter. Wo ein Kapitalist wirklich noch etwas bewegt, wie Bill Gates bei Microsoft, wird er teils als Supermann bestaunt, teils als Überbleibsel des patriarchalischen Kapitalismus attackiert.
Gleichzeitig bekommen wir tagtäglich mit den Aktienkursen, Steuerquoten und Standortfragen eingeschärft, dass unser Wohl und Wehe von den Profiten der kapitalistischen Investoren und den Launen der kapitalistischen Spekulanten abhängt. Das Kapital ist zum Gespenst geworden: es lenkt und entscheidet alles, aber niemand sieht wo und wie.
In Gang gehalten wird die Wirtschaft von uns Lohnarbeitern, vom einfachen Hilfsarbeiter bis zum hochbezahlten Ingenieur (sogar die Manager zählen zu uns Lohnarbeitern, wenn auch nur mit Teilaspekten ihrer Tätigkeit).
Wir Lohnarbeiter leisten alle gesellschaftliche Arbeit, trotzdem haben wir in unserer Arbeit weder Macht über uns selbst, noch haben wir Macht über die Gesellschaft.
In unserer Arbeit sind wir immer noch einem fremdem Willen in Gestalt des Managements unterworfen wie in der Gesellschaft der Macht des Staates in Gestalt der Bürokratie, den Politikern, der Polizei und dem Militär.

Das Kapital hat zwar unsere technologischen Möglichkeiten und persönlichen Fähigkeiten entwickelt, die Produktion verwissenschaftlicht und vergesellschaftet, die Produktivität unermesslich gesteigert und das Bildungsniveau der Lohnarbeiter ständig gehoben, trotzdem entscheiden immer noch eine Handvoll Menschen über das Schicksal von Millionen.
Immer noch verhindert das Kapital, dass der gesellschaftliche Charakter der modernen Wirtschaft vollständig anerkannt wird, indem Wirtschaft und Gesellschaft nicht nur durch unsere gemeinsame Tätigkeit in Bewegung gehalten, sondern auch bewusst von uns "in Bewegung gesetzt", das heißt von uns allen gemeinsam geleitet wird.
Scheinbar sind wir immer noch gleich weit entfernt von einer emanzipierten Gesellschaft wie zu Zeiten von Marx und Engels, von einer Gesellschaft, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. (Kommunistisches Manifest, MEW 4 : 482)
Tatsächlich gibt es in den entwickelten kapitalistischen Ländern mehr Sozialismus und Kommunismus als in jedem Land, das sich bisher sozialistisch oder kommunistisch genannt hat.

Sozialistisch sind z. B. in Deutschland die frei gewählten Betriebsräte, die mehr Wirtschaftsmacht ausüben als die von oben eingesetzten und von oben dirigierten sowjetischen Betriebs-Direktoren je konnten.
Kommunistisch ist in der BRD, dass täglich und wöchentlich das Volk in vielen Fragen seinen Willen äußert, ohne auf kapitalistische Profite und die Rechte des Eigentums Rücksicht zu nehmen:
- ob das Airbus-Werk Hamburg erweitert werden darf oder nicht;
- ob die Transrapid-Strecke eingerichtet wird oder nicht;
- ob ein Atomendlager genutzt wird oder nicht;
- ob Treibhausgase oder langlebige Gifte in der Produktion eingesetzt werden dürfen oder nicht;
- ob ein Atomkraftwerk oder sonst ein Betrieb geschlossen wird oder nicht;
- ob eine Unternehmensfusion stattfindet oder nicht;
- Ob BSE-Fleisch verkauft werden darf oder nicht;
- wann die Ladenöffnungszeiten sind usw. usf.

In all diesen Auseinandersetzungen wird den Herrschenden schon lange die Verfügungsgewalt über ihre Fabriken und sonstigen Produktionsmittel streitig gemacht. Wo immer die Interessen der Lohnarbeiter über die Interessen des Kapitals siegen, wird heute schon ein Stück Kommunismus praktiziert.
Fragt einen beliebigen Kapitalisten, und er wird euch vorjammern: Er kann weder produzieren, wo er will und was er will, er kann nicht produzieren, wie er will und womit er will, noch kann er verkaufen, wo und wann er will, und was er will. Das freie Unternehmertum ist bei uns schon tausendfach beschnitten und in den Augen der Kapitalisten ist das kapitalistische System schon längst an tausend Stellen abgeschafft.

An tausend Stellen wird die Leitung der Wirtschaft und der Gesellschaft nicht mehr von den Kapitalisten, den Privateigentümern, ausgeübt, sondern von den Lohnarbeitern gemeinsam, von allen Gesellschaftsmitgliedern gemeinsam. Das ist der Stoff, aus dem der Kommunismus gemacht ist.

Das Proletariat oder die Lohnarbeiter, die in Deutschland 83 Prozent der Bevölkerung stellen, haben die sozialistische Revolution und den Kommunismus längst begonnen. Sie wissen es vielleicht nicht, aber sie tun es, weil ihre Interessen es erfordern. Was noch zu tun bleibt, ist, das zur Gewohnheit und zur allgemeinen Regel zu machen, was heute noch stückweise geschieht.
Trotz dieser großen Erfolge werden die Lohnarbeiter und das Volk in Deutschland von den Linken geringgeschätzt oder gar verachtet. Und warum? Weil die Lohnarbeiter nicht nach linkem Rat verlangen und nicht nach linker Führung rufen.

Die sozialistische Revolution wurde in Deutschland längst begonnen, aber die Linken warten immer noch darauf, dass sie von den Massen aufgefordert werden, ein Startsignal zu geben und die Marschrichtung für alle zeigen. Macht sich da nicht jemand lächerlich?
Aber die Linken können sich trösten:
Je klüger die Lohnarbeiter und das Volk sind, desto dümmere Politiker wählen sie an die Macht, und wer in die Regierung kommt, kriegt nur eine möglichst schwache Mehrheit. Die Politiker sollen möglichst wenig Macht bekommen, das Volk braucht und will die Macht für sich.
In allen bisherigen Klassengesellschaften gab es noch wirkliche Bildungsunterschiede zwischen dem arbeitenden Volk und den Herrschenden. Unsere Politiker sind längst Durchschnittsmenschen und das ist gut so. Bei uns können Apothekenhelferinnen eine Weltstadt wie Frankfurt regieren und abgebrochene Studenten können das Außenministerium leiten. Um heute Regierungschef zu sein, muss man nicht klüger sein als alle anderen. Auch das ist ein Stück Kommunismus.

Friedrich Engels hatte 1882 über die Reife für den Kommunismus geschrieben: "... die Abschaffung der gesellschaftlichen Klassen ... hat also zur Voraussetzung einen Höhegrad der Entwicklung der Produktion, auf dem Aneignung der Produktionsmittel und Produkte und damit der politischen Herrschaft, des Monopols der Bildung und der geistigen Leitung durch eine besondre Gesellschaftsklasse nicht nur überflüssig, sondern auch ökonomisch, politisch und intellektuell ein Hindernis der Entwicklung geworden ist. Dieser Punkt ist jetzt erreicht." (MEW 19 : 225).

Jeder von uns Lohnarbeitern erledigt nur eine Teilaufgabe und beherrscht nur ein Teilgeschick. Als einzelner zählt ein Lohnarbeiter nichts. Aber die Zeit, als es noch auf individuelles Geschick ankam, ist längst vergangen. Weil wir als lohnabhängige Teilarbeiter im gesellschaftlichen Arbeitsprozess alle zusammenwirken,  halten wir weltumspannende Unternehmen in Gang, bauen Raumstationen und entschlüsseln die Gene des Menschen. Im gemeinsamen Arbeitsprozess verkörpern wir fast alles Geschick und fast alle Intelligenz dieser Welt. Da sollen wir nicht in der Lage sein, unsere Unternehmen und unsere Gesellschaft selber zu verwalten?

An der Wende zum neuen Jahrtausend sind in Deutschland und allen entwickelten kapitalistischen Ländern nicht nur alle technischen und persönlichen Bedingungen für die Abschaffung aller Klassen entwickelt. Der Wille und die Fähigkeiten des Volkes, selber zu bestimmen und selber zu entscheiden, haben sich längst ausgebildet.

Weil in Russland und weil in China dieser gesellschaftliche Reifegrad noch lange nicht erreicht war, sondern erst nach der Machtergreifung der kommunistischen Parteien durch despotische Maßnahmen von oben geschaffen werden sollte, war die Oktoberrevolution ohne einen Lenin, und die chinesische Revolution ohne einen Mao Zedong nicht machbar.

Moderne Gesellschaften und moderne Revolutionen haben keinen Bedarf für Führer, die dem unwissenden Volk den richtigen Weg weisen. Warum wollen Linke immer noch die großen Führergestalten der rückständigen Revolutionen imitieren?

Bis zum Programm der Kommunistischen Internationale von 1928 blieb es die Grundüberzeugung aller Marxisten, dass das gesamte kommunistische Programm prinzipiell und viele Forderungen auch aktuell mehrheitsfähig sind.

Dieses revolutionäre Vertrauen in die Mehrheit ging durch die Entwicklungen in der Sowjetunion und in Nazi-Deutschland verloren: Beeindruckt von den Erfolgen der bolschewistischen Partei der UdSSR, die ihre Macht auf keine Mehrheit in der Gesellschaft stützte, und verunsichert durch die Schläge der Faschisten verloren viele Marxisten in der Welt ihr Vertrauen in die Weisheit der Lohnarbeiter und der großen Mehrheit und suchten Stärke und Siegesgewissheit in anderen Quellen:
- in der organisatorischen Schlagkraft der Partei (Trotzki, Stalin);
- in der wissenschaftlichen Objektivität des dialektischen Materialismus (Marxisten-Leninisten);
- in der geistigen Hegemonie einer linken Elite (Gramsci, Frankfurter Schule);
- in dem militärisch-politischen Druck und den Geldmitteln des sozialistischen Lagers (Realsozialisten);
- oder im bewaffneten Kampf (Maoisten).

Diese politischen Taktiken haben gemeinsam, dass sie kein Vertrauen in die eigenen Lohnarbeiter und die Mehrheit des Volkes setzen. Alle diese Taktiken halfen nur unter ganz bestimmten Umständen und nur eine ganz bestimmte Zeit. Die Menschen, die sich darauf verließen, wurden enttäuscht, weil sie die grundlegende Wahrheit aus den Augen verloren hatten: Revolutionen werden nicht von einer Partei gemacht, sondern vom ganzen Volk. (K. Marx 1978, MEW 34 : 514).

Die soziale Emanzipation ist die Sache der großen Mehrheit. Wer sich für die soziale Emanzipation einsetzt, hat keine anderen Aufgaben als die große Mehrheit.
In den Worten des Kommunistischen Manifests: "Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minderheiten oder im Interesse von Minderheiten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl." (MEW 4 : 473)

Die das verstanden haben, haben "es nicht mehr nötig, die Wissenschaft in ihrem Kopfe zu suchen; sie haben sich nur Rechenschaft abzulegen von dem, was sich vor ihren Augen abspielt, und sich zum Organ desselben zu machen." (K. Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4 : 143).

 

Wal Buchenberg, 16.12.2000

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