Während des Lockdowns gab es viel Zeit zum Nachdenken – zum Nachdenken über das eigene Leben und die eigene Arbeit und zum Nachdenken über das Leben der anderen und deren Arbeit.
Ich beginne mit dem Kranken- und Pflegepersonal und den Kindergärtnerinnen, deren Arbeit als wichtiger erkannt wurde als die Arbeit von Flugzeugpiloten, von Musikanten oder von freischaffenden Künstlern - ganz zu schweigen von Kapitaleignern.
Die chronische Krise des Gesundheitswesens in Deutschland wurde während des Corona-Lockdowns noch durch die Abreise vieler osteuropäischer Pflegekräfte verstärkt. Die Aufmerksamkeit für die Lebens- und Arbeitsbedingungen im Niedriglohnsektor hat sich überall erhöht.
In den USA sind Hunderttausende von Lohnarbeitern vor allem im Handel und in der Gastronomie nach Corona nicht mehr in ihre schlechtbezahlten Jobs zurückgekehrt. Im August dieses Jahres kehrten fast eine halbe Million Lohnabhängige weniger in die Arbeitswelt zurück als die Arbeitgeber erwarteten. Vor allem im Gastgewerbe und in der Freizeitbranche blieben die Jobangebote unbesetzt. obwohl schon höhere Löhne angeboten wurden. „Die Leute zögern noch ihre Rückkehr in die frühere Hektik des Arbeitslebens hinaus.“(The Economist, 03.09.21)
In Großbritannien hat das Fehlen der osteuropäischen LKW-Fahrer eine Versorgungskrise ausgelöst. Als diese Immigranten das erste Mal in Großbritannien Arbeit suchten, wussten sie wohl nicht, was sie erwartete. In ihre Heimat zurückgekehrt, haben offenbar viele von ihnen entschieden, dass sie sich diese miesen Jobs im Ausland nicht noch einmal antun wollen.
Auch auf der oberen Hälfte der Lohneinkommen hat sich einiges verändert. Über die Kaufwelle der Wohnmobile lässt sich leicht spotten – es sind fast 700.000 Fahrzeuge unterwegs, aber es gibt nur 230.000 Stellplätze in Deutschland - und es ist ein teures Vergnügen. Der jährliche Wertverlust plus alle Unterhaltskosten liegt bei 12.000 Euro. Angenommen, das eigene Wohnmobil wird an jedem der 30 Urlaubstage genutzt, kommt man auf tägliche Kosten von 400 Euro. Trotzdem haben die Wohnmobile auch positive Wirkungen. Es ist damit zu rechnen, dass die stolzen Wohnmobilbesitzer in Zukunft teilweise oder ganz auf teure und extrem klimaschädliche Auslandsflugreisen verzichten werden. "Zuletzt hatten die deutschen Flughäfen knapp 55 Prozent des Passagieraufkommens registriert, das sie 2019 erreichten." (FAZ)
In einem großen deutschen IT-Unternehmen hat eine heftige Diskussion darüber begonnen, wie in Zukunft mit dem Home-Office umgegangen werden soll. Vor Corona hatte die Geschäftsführung nur dort einzelne Heimarbeitsplätze genehmigt, wo besondere Umstände wegen langer Anfahrt oder wegen pflegebedürftigen Familienangehörigen vorlagen. Während Corona arbeitete praktisch die gesamte Belegschaft im Home-Office. Nun wollte die Firmenleitung mit wenigen Ausnahmen die Heimarbeitszeit auf maximal 40 Prozent der Arbeitszeit für alle begrenzen. Dagegen entfaltet sich zur Zeit ein spontaner Proteststurm. Die Mehrzahl der (gutbezahlten) Beschäftigten dieses Unternehmens haben die Vorteile eines flexiblen Heimarbeitsplatzes schätzen gelernt und wollen ihn nicht wieder hergeben.
Ich denke, das Kräfteverhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital, das sich seit den 80er Jahren zugunsten der Kapitalseite verschoben hatte, kehrt sich wieder um. Die Coronakrise hat die scheinbar festgefügten Machtverhältnisse in der kapitalistischen Kernzone in Rutschen gebracht.
Dass die Christkonservativen in Deutschland und anderswo aus der Regierung abgewählt wurden, ist ein Anfang.