Demenz steckt in jedem von uns. Schon vor dem 30. Lebensjahr lässt jedes Gehirn nach, die großen Erfinder und Wissenschaftler hatten den Höhepunkt ihres Schaffens vor dem 40. Lebensjahr.
Spätestens ab dem 40. Lebensjahr geht es mit uns bergab. Deshalb ist es auch schwer für uns, bei uns oder bei Angehörigen den Anfang von Demenz auszumachen.
Für die Schwiegermutter setzen meine Frau und ich das Demenz-Datum auf den Tag, als sie sich plötzlich weigerte, Johannisbeeren zu essen, und abstritt, jemals Johannisbeeren gemocht zu haben, obwohl sie früher in ihrem Garten Beerensträucher angepflanzt hatte. Ärztlich diagnostiziert wurde bei ihr eine vaskuläre Demenz erst ein Jahr später.
Bei meiner Schwiegermutter (88) zeigt sich die Demenz wie Ebbe und Flut. Die Demenzflut kommt bei ihr vor allem morgens.
Als nach unserem letzten Urlaub der Pflegedienst – wie vorher üblich – um sieben Uhr in der Wohnung der Eltern stand, um für die beiden das Frühstück zu machen, die Medikamenteneinnahme zu unterstützen und den Schwiegervater zu waschen, zu rasieren und anzuziehen, machte die Schwiegermutter daraus ein existentielles Drama:
Sie wisse nichts davon, sie verstehe das nicht, sie wolle das nicht, man wolle ihr ihren Mann wegnehmen, sie werde die Polizei rufen – eine Mischung aus Gedächtnisverlust und stressbedingter Überreizung.
Die Demenz des Schwiegervaters ist dagegen wie ein großer Stausee, in dem das gesamte frühere Leben untergegangen ist, aber einige Kirchtürme ragen noch über den Wasserspiegel empor.
Er hat keine Vorstellung, wie alt er oder andere Menschen sind.
Nach dem Abendessen betrachtete er die großen Fotos, die ihm gegenüber an der Wand hängen und fragt:
„Auf dem Foto steht: ‚Hermann wird 91‘. Wer ist denn dieser Hermann?“
Wir: „Das bist du bei deinem Geburtstagsfrühstück!“
Er: „Nee, das kann nicht sein. Den Hermann kenne ich nicht!“
Und als er morgens von der Pflegerin, die ihn für den Tag fertig machte, mit „Opa“ angesprochen wurde, antwortet er muffelig: „Von wegen Opa!“
Die Turmspitzen, die aus seinem Demenzsee ragen, werden von uns festgehalten und notiert. Gestern Abend kam das Gespräch auf die Hochzeitsfeier von Geert Mak („Das Jahrhundert meines Vaters“) in den 60er Jahren, die von der Familie des Mannes boykottiert wurde, weil er nicht kirchlich heiraten wollte, und von der Familie der Frau, weil die Braut kein weißes Hochzeitskleid, sondern einen orangenen Hosenanzug trug.
Mein Kommentar: „So waren damals Eltern. Wenn Sie nicht über die Hochzeit ihres Nachwuchses bestimmen konnten, waren sie verärgert und machten Stress. Euch ging es mit unserer Hochzeit doch ganz genau so!“
Der Schwiegervater protestiert: „Von eurer Hochzeit haben wir doch gar nichts mitbekommen!“
Da hatte er recht.
Als wir mal mit den beiden Alten im Cafe saßen und wir uns an vergangene Unglücke erinnerten – ein Motorradunfall mit Hautabschürfungen, ein Knöchelbruch beim Bergwandern - , hatte ich den Schwiegervater gefragt:
„Und du, hattest du dir auch mal was gebrochen?“
Er: „Ja, den Finger!“
„Den Finger? Wie ist das denn passiert?“
Statt einer Antwort fuhr er mit dem Finger durch einen imaginären Sahnetopf und schleckte ihn ab.