Bei Lenin waren die Triebfedern des imperialistischen Krieges die Suche nach Rohstoffquellen, Anlagesphären und Märkten.
Nirgends findet sich bei Lenin jedoch als Kriegsgrund die „Sicherheit“, die angeblich für Putin und Russland die zentrale Rolle für den Angriff auf die Ukraine spielte. Gab es in moderner Zeit irgendwann und irgendwo einen Eroberungskrieg, dessen Resultat „Sicherheit“ in dem eroberten Gebiet war? Die „Sicherheit“ eines jeden Staates endet an seiner Staatsgrenze. Jede Vereinnahmung von fremdem Gebiet, jede Eroberung schafft nur eine neue Grenze, an der die eigene staatliche „Sicherheit“ endet. Putin kann durch die Eingemeindung der Ukraine oder von Teilen davon die Sicherheit Russlands nicht erhöhen. Putins Suche nach „Sicherheit“ ist entweder ein Vorwand oder eine Dummheit.
Für die ukrainische Bevölkerung hat Putins angebliche Suche nach "Sicherheit" das extreme Gegenteil von Sicherheit gebracht. Für die Ukrainer bringt die russische Invasion Tod, Verletzung, Folter und Unterdrückung, Hunger, Kälte, Krankheit, Obdachlosigkeit und Exil. Für die Ukrainer ist dieser Krieg ein Kampf um staatliche Unabhängigkeit und um Selbstbestimmung.
Karl Marx kannte nur einen rechtmäßigen Krieg: Ein „Krieg der Geknechteten gegen ihre Unterdrücker" ist der „einzig rechtmäßige Krieg in der Geschichte." K. Marx, Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, 358.
Für die Ukrainer ist die Vertreibung der russischen Invasoren ein rechtmäßiger Krieg.
Aber auch Lenins Kriegstheorie lässt noch Fragen offen:
Wenn es den Kapitalistenstaaten so sehr um Rohstoffquellen, Anlagesphären und Märkten geht, warum kaufen dann die Kapitalisten nicht die Rohstoffe, warum sollen sie sie mit Militärgewalt erobern? Der Einkauf der Rohstoffe ist zweifellos risikoloser als ein Raub der Rohstoffe mittels Soldaten. Und die Eroberung fremder Märkte durch billigere und hochwertigere Produkte ist zweifellos profitabler als die Eroberung eines fremden Staatsgebietes.
Bei der Frage, "ob sich ein Krieg für sie lohnt", sind sich die Kapitalisten in jedem Land nie ganz einig. Es gab im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg in jeder beteiligten Nation herrschende Kreise, die eher für eine militärische Lösung und andere, die eher für "wirtschaftlichen Wettbewerb" waren. Allgemein gesagt, sind Kapitalisten, die gegenüber der Konkurrenz über einen Produktivitätsvorsprungs verfügen, eher für "friedlichen Wettbewerb", während die Kapitalisten, die im Wettbewerb zu unterliegen drohen, eher für eine militärische Option eintreten.
Karl Marx führte aus: „Die Manchesterschule (= der klassische Liberalismus, w.b.) will in der Tat den Frieden, um industriell Krieg führen zu können, nach außen und nach innen. Sie will die Herrschaft der englischen Kapitalistenklasse auf dem Weltmarkt, wo bloß mit ihren Waffen, den Baumwollballen, gekämpft werden soll ...“ K. Marx, Parlamentsdebatten, MEW 11, 283.
„Es wäre ein großer Irrtum anzunehmen, dass das Friedensevangelium der Manchesterschule tiefe philosophische Bedeutung habe. Es besagt bloß, dass die feudale Methode der Kriegführung durch die kaufmännische ersetzt werden soll, Kanonen durch Kapital.“ K. Marx, Todesstrafe, MEW 8, 510.
Karl Marx unterschied also eine kaufmännische Methode der Kriegführung mittels Produktivitätsvorsprung und daher billigeren Preisen von der feudalen Methode der Kriegsführung mittels staatlicher Armeen und militärischer Expansion.
In der amerikanischen Politik war der US-Präsident Woodrow Wilson und seine Anhänger die Hauptvertreter der "wirtschaftlichen Kriegführung", genannt "Politik der Offenen Tür". "Die Politik der Offenen Tür ... ist auch Ausdruck des amerikanischen Überlegenheitsgefühls in bezug auf das eigene Wirtschaftssystem. Die Mehrheit der Führungseliten von Politik und Wirtschaft ging seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert von der Überzeugung aus, dass sich der amerikanische Handel aufgrund der amerikanischen Produktionskraft bei formaler Gleichstellung mit anderen Handelsnationen letztlich als überlegen erweisen werde. ... Im Extremfall konnte dies eine amerikanische Hegemonialstellung bedeuten." H.-J. Schröder in: "Der Erste Weltkrieg" hrsg. v. Wolfgang Michalka, S. 161f.)
Auch die deutsche Außenpolitik wurde seit 1870 von diesen zwei Optionen bestimmt: Auf der einen Seite Wirtschaftskrieg mit der Losung "Wandel durch Handel", auf der anderen Seite Monarchisten, Revanchisten und Nationalsozialisten mit der Losung "Hegemonie durch militärische Überlegenheit".
Als früher Vertreter der wirtschaftlichen Expansion sei hier der Großkapitalist Hugo Stinnes von 1911 zitiert: "... wenn ich langsam aber sicher mir die Aktienmehrheit von dem oder jenem Unternehmen erwerbe, wenn ich nach und nach die Kohlenversorgung Italiens immer mehr an mich bringe, wenn ich in Schweden und Spanien wegen der notwendigen Erze unauffällig Fuß fasse, ja mich in der Normandie festsetze - lassen Sie noch 3-4 Jahre ruhiger Entwicklung, und Deutschland ist der unbestrittene wirtschaftliche Herr in Europa." (zit. n. G. Niedhart in "Der Erste Weltkrieg" hrsg. v. Wolfgang Michalka, S. 179.)
Diese "unauffällige" und "ruhige Entwicklung" war seit 1949 auch das Erfolgsrezept der Bundesrepublik, mit dem Ziel, "unbestrittener wirtschaftliche Herr in Europa" zu werden.
Für Russland war die Option eines erfolgreichen wirtschaftlichen Konkurrenzkampfes immer außer Reichweite. Weder in der Technologie noch im Gesamtumfang seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit kann sich Russland mit den europäischen Staaten und schon gar nicht mit den USA messen. Entweder findet sich Russland – immerhin der flächengrößte Staat der Erde- mit einer Rolle als „Regionalmacht“ am Katzentisch der Weltpolitik ab oder Russland muss versuchen mittels Militärmacht „größer zu werden“ und zu expandieren, was mittels Wirtschaftsmacht nicht möglich ist. Dass Putin aber auf „Größe“ und auf Weltgeltung nicht verzichten will, das zeigen seine selbstgewählten Vorbilder: die Außenpolitik der Sowjetunion und des imperialistischen Zarenreichs.
Der Ukrainekrieg ist ein dreiseitiger Krieg, einerseits ein Befreiungskrieg der Ukrainer gegen fremde Invasoren, andererseits ein Krieg zwischen Russland und dem „Westen“. Der Ausgangspunkt dieses dreiseitigen Krieges ist der Versuch Russlands, die zunehmende wirtschaftliche Überlegenheit des westlichen Manchesterkapitalismus, der mit Konsumwaren kämpft und expandiert, auf dem Gebiet der Ukraine mittels Waffengewalt zu stoppen und zurückzudrängen. Der Fehdehandschuh trägt ein russisches „Z“ Der ukrainische Widerstand gegen diese Invasion ist berechtigt. Aber es gibt einflussreiche Kräfte im Westen und in den USA, die nur zu gerne den russischen Fehdehandschuh aufgenommen haben, nicht nur um Putin „eine Lektion zu erteilen“ – eine „Lektion“ hat er sicherlich verdient -, sondern um Russland dauerhaft und schwerwiegend zu schwächen. Eine dauerhafte Schwächung Russlands wird jedoch keinen dauerhaften Frieden bringen, sondern wird den Boden für den nächsten Ost-West-Krieg bereiten. Eine Beendigung dieses Krieges mit einer dauerhaften friedlichen Lösung wird davon abhängen, ob es für die Nachkriegszeit gelingt, die ukrainischen Interessen möglichst weitgehend, aber die Nato-Interessen möglichst wenig zu berücksichtigen.
Was kann die Linke, die Arbeiterbewegung in dieser Lage tun?
Über den drohenden Krieg zwischen Deutschland und Frankreich und die damalige Friedensbewegung schrieb Karl Marx:
„Der drohende Krieg zwischen Deutschland und Frankreich interessiert natürlich das Publikum am meisten. Dicke Deklamationen und aufgeblasene Phrasen tun hier keinen Schaden. Der Beschluss, der darüber zu fassen ist, scheint nur einfach der, dass die Arbeiterklasse noch nicht hinlänglich organisiert ist, um irgendein entschiedenes Gewicht in die Waagschale zu werfen; dass aber der Kongress im Namen der Arbeiterklasse protestiert und die Urheber des Krieges denunziert; dass ein Krieg zwischen Frankreich und Deutschland ein Bürgerkrieg ist, ruinierend für beide Länder, und ruinierend für Europa überhaupt.“ K. Marx, Brief an seine Parteifreunde auf dem Brüsseler Kongress der IAA (1868), MEW 32, 558.
Gegenüber dem Ukrainekrieg kann die heutige Arbeiterbewegung nichts wesentlich Anderes tun:
Wir sind nicht hinlänglich organisiert, um irgendein entschiedenes Gewicht in die Waagschale zu werden. Wir können und müssen aber im Namen der Arbeiterklasse und der europäischen Völker gegen die Urheber des Krieges als auch gegen die uferlose Verlängerung dieses Krieges protestieren. Wir können und müssen nachweisen, dass dieser Krieg zwischen Ost und West ein europäischer Bürgerkrieg ist, ruinierend für die kriegführenden Länder und ruinierend für ganz Europa.
Wal Buchenberg, 18. Oktober 2022