In der Urabstimmung zur Einleitung von tariflichen Streikmaßnahmen stimmten über 95 Prozent der Mitglieder der Lokführergewerkschaft GDL für den Arbeitskampf. Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) mit 34.000 Mitgliedern sieht sich als älteste deutsche Gewerkschaft, die 1867 gegründet wurde, dennoch zählt die Deutsche Bahn AG sie nicht zu den tariffähigen Gewerkschaften, mit denen sie Lohntarifverträge abschließt.

In der GDL sind nicht nur Lokführer organisiert, sondern auch anderes Zugpersonal wie Schaffner und Mitarbeiter der Bord-Bistros. Sie fordern eine Lohnerhöhung von 31 Prozent. Für bundesdeutsche Verhältnisse sind das hohe Lohnforderungen. Zuletzt wurden in den 70er Jahren zweistellige Lohnerhöhungen in Deutschland gefordert und durchgesetzt.

Angestellte Lokführer verdienen bei der deutschen Bundesbahn im Monat maximal 2.150 Euro brutto. Die Zugbegleiter bekommen im Monat höchstens 1.885 Euro. Die Forderung der GDL beläuft sich also auf 645 Euro mehr für Lokführer und 565 Euro mehr für Zugbegleiter. Oder anders: Die Lokführer verlangen einen Monatslohn von 2.795 Euro, die Zugbegleiter von maximal 2.450 Euro. Und das nennt Herr Mehdorn eine "irrwitzige Forderung".
Sieht man die jetzige Lohnforderung auf dem Hintergrund von 10 Jahren Lohnstagnation, dann schrumpft eine einmalige Erhöhung von 30 Prozent über zehn Jahre verteilt auf 2,7 Prozent jährlich. (Wer es nicht glauben will, der sollte nachrechnen, indem er 100 (und jedes weitere Resultat) zehnmal mit 1,027 multipliziert. Nach zehn Erhöhungen sind 130 erreicht.)

Hintergrund dieses Lohnkampfs ist die Konkurrenz zweier Gewerkschaften, der GDL und der Transnet, um Einfluss und Mitglieder.
Deshalb schreien der Bahnchef Mehdorn und die Konkurrenzgewerkschaft Transnet: "Einheit, Einheit über alles!" Mehdorn im Spiegel: "Eine kleine Gruppe von Gewerkschaftsfunktionären ... versucht, die Bahnbelegschaft zu spalten."

Tatsächlich hat der gewerkschaftliche Einheitsbrei in Deutschland den Interessen der Lohnarbeiter eher geschadet als genutzt. Das weiß auch Herr Mehdorn, wenn er im Spiegel sagt: "In Frankreich hat die SNCF rund ein Dutzend verschiedene Gewerkschaften, das heißt, sie ist schwer steuerbar. Ich lege großen Wert darauf, dass wir in den vergangenen Jahren mit hohem Maß an Sozialverträglichkeit das Unternehmen saniert haben - im guten Dialog mit allen Gewerkschaften."

Konkurrierende Gewerkschaften sind für die Herren Arbeitgeber schwerer "steuerbar". Leichter steuerbar ist eine Einheitsgewerkschaft. Aber sind Einheitsgewerkschaften, die von der anderen Seite aus "steuerbar" sind, auch gut für die Lohnarbeiter?

Nur in Japan sind Streiks noch seltener als in der Bundesrepublik.



Wenn dann in Deutschland doch einmal gestreikt werden soll, dann schreien Politiker und Journalisten Zeter und Mordio und tun so, als ginge die (deutsche) Welt unter.

Richtig ist, dass die DGB-Gewerkschaften mit wenig Kampf einiges für die Lohnarbeiter in Deutschland erreicht haben. Sicher ist aber auch, dass sie mit mehr Kampfeinsatz viel mehr erreicht hätten.
Wirtschaftsprofessor Klaus Hardach schrieb über die Gründung der Einheitsgewerkschaften in der jungen Bundesrepublik Deutschland: "Die Bildung von Einheitsgewerkschaften hatte ... auch ihre Verantwortung für das Gemeinwohl erhöht. Da die Gewerkschaftsführung nicht unter dem Zwang stand, eine besonders aggressive Lohnpolitik verfolgen zu müssen, wie dies unter konkurrierenden Gewerkschaften üblich ist, konnte sie mit Erfolg einen zeitweiligen Lohnverzicht ... das Wort reden. ...
Neben der allgemeinen Abneigung der Gewerkschaften, den beginnenden Wiederaufbau durch hohe Lohnforderungen zu gefährden, hatte ihre Zurückhaltung noch andere Gründe. So waren die gewerkschaftlichen Streikkassen nach der Währungsreform leer ... Lohndrückend wirkte sich ferner die Praxis aus, regionale statt betriebliche Tarifabkommen abzuschließen; sie zwang dazu, sich nach der Kostensituation der Grenzproduzenten und nicht nach der Ertragslage des Spitzenreiters der Branche zu richten ...
Die Berücksichtigung von Dingen, die nicht in der Lohntüte steckten, wie Sicherheit des Arbeitsplatzes, Urlaubsregelungen, Mitbestimmung, aber auch Geldwertstabilität ... kennzeichnete die gewerkschaftliche Tarifpolitik bereits in der Frühphase des Wiederaufbaus.
Es dauerte Jahre, bis der erste größere Streik der Nachkriegszeit ausgerufen wurde, doch selbst die sechs Monate dauernde Arbeitsniederlegung der Metallarbeiter Schleswig-Holsteins im Jahr 1955 konnte das im allgemeinen harmonische Verhältnis der Sozialpartner nicht ernsthaft beeinträchtigen. Die Zurückhaltung der Gewerkschaften - sei es aus gesamtpolitischem Verantwortungsbewusstsein ihrer Führung, sei es in richtiger Erkenntnis der harten Notwendigkeiten durch ihre Mitglieder - trug ganz erheblich zum deutschen Wiederaufstieg bei."
(Karl Hardach; Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert (1914-1970). Kleine Vandenhoeck-Reihe Göttingen, 3. Aufl. 1993: 203f.)

Herr Schell und die Lokführer in der GDL sind keine "Klassenkämpfer". Sie bedrohen mit ihrem Streik nicht den Fortbestand des Kapitalismus in Deutschland. Die streikenden Bahnbediensteten tun nur, was jeder tun muss, der im Kapitalismus überleben will: Sie nutzen ihre Verhandlungsmacht und verschenken sie nicht für ein Linsengericht an die Kapitalseite.
Vielleicht nehmen sich ja andere Lohnarbeiter ein Beispiel daran. Es wäre nicht zu ihrem Schaden.

Wal Buchenberg, 06.08.2007