1.
Arbeitskraft und Produktionsmittel in der Sowjetwirtschaft Die Meinung ist
verbreitet, dass die russische Oktoberrevolution 1917 in einem
rückständigen Land ohne Entwicklungsdynamik stattgefunden habe. So schrieb
z.B. Iring Fetscher: „Ökonomisch war Russland ein weithin rückständiges
Land. Es gab lediglich Anfänge eigener Industrien (vor allem in der Nähe
von St. Petersburg), die allerdings in modernen und stark konzentrierten
Großbetrieben bestanden. Ein großer Teil dieser industriellen Anlagen
gehörte ausländischen ‚Kapitalisten’. Grundlage der Volkswirtschaft war
die landwirtschaftliche Produktion...“ [1]
Das DDR-Schulbuch[2] stellte es nicht
anders dar: „In den Jahren nach
1907 stieg zwar die industrielle Erzeugung Russlands rasch an. ... Doch im
Tempo der industriellen Entwicklung blieb Russland noch immer hinter den
anderen kapitalistischen Großmächten zurück. Der Anteil der Industrie an
der Gesamtproduktion betrug 1913 nur 42,5 Prozent, während der Anteil der
Landwirtschaft 57,5 Prozent ausmachte. Russland war ein Agrarland
geblieben, in dem 76 Prozent der Bevölkerung von der Landwirtschaft
lebten.“ Tatsächlich war das zaristische Russland zwar sehr
ungleich entwickelt, aber seine Wachstumszahlen lagen – anders als es das
DDR-Schulbuch behauptet - mindestens seit 1900 über den Vergleichszahlen
der westeuropäischen Länder. Trotz des schweren Krisenjahres 1905 erreicht
die russische Volkswirtschaft von 1900 bis 1913 ein durchschnittliches
Jahreswachstum von fast 5 Prozent gegenüber 2 Prozent der meisten
kapitalistischen Länder.[3]
An seiner Wirtschaftskraft gemessen lag Russland 1910 an 10. Stelle in der
Welt [4], ein Rang, den heute
Spanien einnimmt. Niemand käme auf die Idee, Spanien als ein „weithin
rückständiges Land” zu bezeichnen. Die russische Industrie war vor der Revolution 1917
für damalige Verhältnisse hochmodern, weil sie zum großen Teil importiert
war. Im Jahr 1912 stammten 57 Prozent aller Anlagen aus dem Ausland. In
ausländischem Besitz waren 1915 noch rund 33 Prozent. Vor allem die
Ölindustrie gehörte vorwiegend zu ausländischem Kapital.[5] Abgesehen von der Ölindustrie konzentrierten sich die
Großbetriebe – oft Rüstungs- und Eisenbahnbetriebe - auf den Raum von St.
Petersburg, Moskau, das russische Polen und die Ukraine. Das sonstige Land
war beherrscht vom kleinen Handwerk und der Landwirtschaft. Kleine
Handwerksbetriebe beschäftigten im Jahr 1915 rund 67 Prozent aller
Arbeiter oder 5,2 Millionen von insgesamt 7,76 Millionen Arbeitern bei
einer Gesamtbevölkerung von rund 165 Millionen.[6]
1.1. Arbeitskraft als
Ware? Jedes Wirtschaften
besteht aus dem Zusammenwirken zweier Elemente: dem sachlichen Element der
Produktionsmittel (Boden, Gebäude, Arbeitsgerät, Arbeitsmaterial etc.) und
dem persönlichen Element der Produktion: den Produzenten. Damit überhaupt
etwas produziert werden kann, müssen sich diese beiden Produktionselemente
verbinden. An der speziellen Art dieser Verknüpfung kann und muss man die
verschiedenen ökonomischen Epochen voneinander
unterscheiden. Ich setze als gegeben
und bekannt voraus, dass in der kapitalistischen Wirtschaft sachliche und
persönliche Produktionselemente zwei geschiedenen Personenkreisen
zugeordnet sind: Die sachlichen Elemente der Produktion, die
Produktionsmittel, sind - wenn nicht ausschließlich, so doch überwiegend -
privates Eigentum der Kapitalisten. Die wirklichen Produzenten, die
Lohnarbeiter, verfügen über keine Produktionsmittel, aber über ihre
Arbeitskraft. Was beide Elemente verbindet, sind Kaufakte des
Kapitalisten, der sowohl Produktionsmittel wie Lohnarbeit auf den
jeweiligen Märkten einkauft. Wie anders hat die
Sowjetwirtschaft die Verknüpfung von Produzenten und Produktionsmitteln
bewerkstelligt? Das ist die erste Fragestellung. 1.1.1. Betriebliche
Selbstverwaltung der ersten Revolutionszeit Einige moderne
Großbetriebe in einem Meer von kleinen „Krautern“, das war das Erbe, das
die russischen Arbeiter 1917 von den in- und ausländischen Kapitalisten
übernahmen. Die „Verknüpfung der Arbeiter mit den Produktionsmitteln“, war
zunächst einfach: Seit Frühjahr 1917 besetzten die Arbeiter immer mehr
Großbetriebe und organisierten dort Arbeiterräte. Die Arbeiterräte
beaufsichtigten teils die Geschäftsleitungen, teils übernahmen sie selber
die Geschäftsführung. Diese „spontane“ Übernahme der Betriebe durch die
Arbeiter wurde durch ein Dekret der Revolutionsregierung vom 27. November
1917 weniger bestätigt und legalisiert als beschnitten und
gebremst. Das Dekret befasste
sich mit der „Arbeiterkontrolle“. Das russische Wort ‚kontrol’, das
Lenin häufig in Verbindung mit „Arbeiterkontrolle“ gebrauchte, hatte
anders als im Deutschen oder Englischen nur die Bedeutung von
„jemanden/etwas überprüfen/beaufsichtigen“ entsprechend dem
englischen Fachwort „Controlling“. „Kontrol“ hatte nicht die andere
deutsche Bedeutung von „kontrollieren = über etwas/jemanden die alleinige
Macht ausüben; etwas/jemanden beherrschen“. In diesem Dekret wurde
zum Unternehmensmanagement festgelegt, dass die Arbeiterräte „aktiv in alle Bereiche der
betrieblichen Produktion und Verteilung eingreifen“
können. Sie bekamen das Recht, die „Produktion zu
überwachen“ und
konnten „Mindestausstoßziffern“ festlegen und sollten alle
„Buchungszahlen und Daten“ ihres Unternehmens
einsehen dürfen.[7] „Verfügungen und Aktivitäten der
Unternehmensverwaltung bzw. des Unternehmers … können ohne Informierung
und Zustimmung des Fabrikkomitees der Arbeiter nicht wirksam
werden.”[8]
Mit diesem
Regierungsdekret besaßen die russischen Arbeiter also neben
Informationsrechten auch ein Vetorecht und damit weitergehende
betriebliche Rechte als die Arbeiter in irgendeinem kapitalistischen Land
der Welt je hatten. Aber die russischen Arbeiterräte bildeten mit all
diesen verbrieften Rechten nur einen starken „Betriebsrat“. Juristisch
gesprochen stellten diese Arbeiterräte weder die Betriebsleitung noch den
Aufsichtsrat in ihren Unternehmen. Die Arbeiter sollten nach dem Willen
der Regierung ihre Unternehmensleitungen zwar beaufsichtigen, aber nicht
selber diese Leitung ausüben oder eigene Leitungen einsetzen. Die
Leninsche Arbeiterkontrolle war nichts als eine weitgehende
Arbeiter-Mitbestimmung. Aber selbst davon blieb später nichts
übrig. Dass Lenin und die
Bolschewiki keine wirkliche Arbeiterselbstverwaltung wollten, kann man an
der Auseinandersetzung zwischen der bolschewistischen Regierung und der
Eisenbahnverwaltung genau verfolgen. Die Eisenbahnen wurden seit der
Revolution von der Eisenbahnergewerkschaft geleitet, also tatsächlich von
den Arbeitern selbst verwaltet. Diese Selbständigkeit und Selbstbestimmung
der Eisenbahnarbeiter geriet ständig in Konflikt mit der
Entscheidungshoheit und den Plänen der Regierung. Dies umso mehr, als der
Eisenbahntransport im weiß-roten Bürgerkrieg zum kriegsentscheidenden
Faktor wurde. Es kam erst zu Verhandlungen zwischen Regierung und
Eisenbahnergewerkschaften, dann zu Drohungen gegen die Eisenbahner,
schließlich wurden die Gewerkschaften entmachtet und die Eisenbahnarbeiter
von Trotzki im März 1918 insgesamt unter Kriegsrecht gestellt. Ihnen
wurden Erschießungen angedroht, wenn sie nicht den Befehlen von Trotzki
und der Regierungskommissare folgten. Die Beseitigung der
Arbeiterselbstverwaltung durch Lenin, Trotzki und die Bolschewiki war
jedoch nicht einfach böser Wille oder ideologische Verbohrtheit. Ganz im
Gegenteil. Die russischen Arbeiterräte und
Arbeiter-Selbstverwaltungsorgane waren zwar – ähnlich wie die deutschen
Arbeiter nach Ende des Zweiten Weltkriegs – in der Lage, die Produktion in
ihren Betrieben selbständig wieder in Gang zu bringen, aber sie waren
nicht ohne weiteres in der Lage, zwischen den einzelnen Unternehmen eine
sinnvolle wirtschaftliche Koordination herzustellen. Lenin und die
Bolschewiki führten nur aus, was ihnen die ökonomischen Notwendigkeiten
diktierten. Weil Geld durch
zaristische Kriegsverschuldung und Inflation wertlos geworden war,
arbeiteten die selbstverwalteten russischen Unternehmen fast nur „auf
Gegenseitigkeit“, das heißt jede Betriebsbelegschaft lieferte zunächst an
solche Betriebe, die im Gegenzug ihr etwas liefern konnte, wofür sie
Bedarf hatte. So brauchte vielleicht eine Topffabrik Kohlen, aber die
Belegschaft der nächstgelegenen Kohlenzeche war schon mit Töpfen versorgt.
Die brauchten aber vielleicht neue Stiefel. Daher wollten die
Zechenarbeiter ihre Kohlen lieber an eine Stiefelfabrik liefern, als an
die Topffabrik. Auf diese Weise entwickelte sich die russische Industrie
rückwärts vom Kapitalismus zum einfachen Produktentausch. Das war freilich
ein großes Hindernis für die Entwicklung der Produktion. Viele Betriebe
produzierten gar nicht, und ihre Arbeiter nutzten die betrieblichen
Anlagen und Rohstoffe, um in „Eigenarbeit“ sich kleinere handwerkliche
Produkte, wie zum Beispiel Feuerzeuge, herzustellen, die sie dann auf dem
Schwarzmarkt auf eigene Rechnung verkauften. Die Arbeiterselbstverwaltung
des revolutionären Russland war ohne unternehmensübergreifende
Koordination nicht lebensfähig. Unter den gegebenen Bedingungen war die
Arbeiterselbstverwaltung, die betriebsegoistisch nur für die Belange des
eigenen Betriebes und der eigenen Belegschaft sorgte, ein Hindernis für
die Entwicklung und Entfaltung der russischen
Wirtschaft. Nach Beseitigung der
Eisenbahner-Selbstverwaltung wurden die Arbeiterräte in den
Staatsbetrieben entmachtet. Sie sollten ab Sommer 1918 nur noch die
betriebliche Umsetzung der wirtschaftlichen Entscheidungen der
Wirtschaftsbehörden kontrollieren und für die „Durchsetzung proletarischer Disziplin unter den
Arbeitern und Angestellten sorgen”[9]. Auf Drängen Lenins
sollten die Betriebsleiter in den Staatsbetrieben seit Frühjahr 1918 nur
noch von der Wirtschaftsbehörde und nicht mehr von ihren Arbeitern
abgesetzt werden können. Die Bolschewiki setzten in den Staatsbetrieben
von ihnen abhängige Betriebsleiter ein. Das Hauptargument
Lenins dafür war: „Zur zweiten Frage, zur Bedeutung gerade der
diktatorischen Macht einzelner Personen vom Standpunkt der spezifischen
Aufgaben des gegebenen Moments muss man sagen, dass jede maschinelle
Großindustrie – d. h. gerade die materielle, die produktive Quelle und das
Fundament des Sozialismus – unbedingte und strengste Einheit des Willens
erfordert, der die gemeinsame Arbeit von Hunderten, Tausenden und
Zehntausenden Menschen leitet… Wie aber kann die strengste Einheit des
Willens gesichert werden? Durch die Unterordnung des Willens von Tausenden
unter den Willen eines einzelnen.”[10] Lenin ging in seiner Argumentation
zwar von einer richtigen Voraussetzung aus, aber seine Schlussfolgerung
war falsch und beweist, dass er mit der Arbeit in der maschinellen
Großindustrie nicht vertraut war. Richtig ist, dass die moderne
Großindustrie eine Einheit des Willens nicht nur erfordert, sondern auch
schafft. Die moderne Industrie schafft „die strengste Einheit des Willens”
weniger durch Unterordnung unter einen fremden Menschenwillen als durch
Unterordnung unter technologische und wirtschaftliche
Sachzwänge. Karl Marx beschrieb
diesen Übergang von subjektiver, persönlicher Regie des Arbeitsprozesses
zur wissenschaftlich-objektiven und damit unpersönlichen Steuerung so:
„In der
Manufaktur ist die Gliederung des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses rein
subjektiv.... Im Maschinensystem besitzt die große Industrie einen ganz
objektiven Produktionsorganismus, den der Arbeiter als fertige materielle
Produktionsbedingung vorfindet. ... Die Maschinerie, mit einigen später zu
erwähnenden Ausnahmen, funktioniert nur in der Hand unmittelbar
vergesellschafteter oder gemeinsamer Arbeit. Der kooperative Charakter des
Arbeitsprozesses wird jetzt also durch die Natur des Arbeitsmittel selbst
diktierte technische Notwendigkeit.“[11] Insofern die moderne
Technologie vergesellschaftet, also arbeitsteilig und kooperativ
organisiert ist, stellt sie selber den notwendigen Zusammenhang der
verschiedenen Teilarbeiter zu einem ganzen Produkt her. Moderne
Lohnarbeiter machen in ihrer Arbeit, was der technologische
Gesamtzusammenhang erfordert. Da bedarf es keiner persönlichen
Befehlsmacht. Es mag heute noch einzelne Arbeitsplätze geben, wo ein Chef
seinen Untergebenen sagt: „Heute machst du das und
Sie machen das!“
Die Lohnarbeiter an einer modernen Werkstraße arbeiten aber ebenso
weitgehend ohne ständige persönliche Befehle wie die Programmierer eines
IT-Unternehmens. Aus Lenins Forderung
nach einem „persönlichen Regiment“ spricht noch die Rückständigkeit eines
patriarchalen Kapitalismus, der der Handwerkerzeit gerade entwachsen ist,
und in dem ein Kapitalist tatsächlich noch über eigene produktive
Kenntnisse verfügte und seinen Arbeitern ständig Anordnungen gab und geben
musste. Zweifelsohne war Lenin in diesem Punkt nicht rückständiger als die
wirtschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit. Insofern hatte Lenin auch
historisch recht, dass die russischen Arbeiter „die Unterordnung ihres
Willens unter den Willen eines Einzigen” noch nötig hatten. Kritikwürdig
wird der Sachverhalt erst, wenn man aus dieser historisch bedingten
Notwendigkeit ein „sozialistisches Modell“ macht. Wenn die „strengste Einheit des
Willens“ nicht von sachlichen Notwendigkeiten, und –
soweit es um Zukunftsfragen geht – von der freien Verständigung aller
Gesellschaftsmitglieder über das, was als notwendig gelten soll, abhängt,
sondern von der „Unterordnung des Willens von
Tausenden unter den Willen eines einzelnen” ist der Weg schon zu einem Stalin geebnet, der
aus der Not eine Tugend machte und für die ganze Gesellschaft umsetzte,
was in den Fabriken von Lenin gefordert und eingeführt worden
war. [1] Iring Fetscher : Von Marx zur Sowjetideologie. Frankfurt 18. Aufl. 1973: S. 60. [2] Geschichte. Lehrbuch für Klasse 9. Volk und Wissen, Berlin 1974, S. 12. („Das Lehrbuch wurde unter Verantwortung des Instituts für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR entwickelt. ... Vom Ministerium für Volksbildung der Deutschen Demokratischen Republik als Schulbuch bestätigt.“) [3]
vgl. Nove, Alec: An Economic History of the U.S.S.R., Harmondsworth 1972,
S. 12. [4] Durch den Zusammenbruch des Sowjetsystems ist die Sowjetunion auf den derzeit 16. Platz in der Welt zurückgefallen. 1989 hatte sie noch mit 28 % des amerikanischen Bruttosozialprodukts die dritte Stelle in der Welt hinter Japan und vor der Bundesrepublik Deutschland eingenommen. [5]
Nove, Alec: An Economic History of the U.S.S.R., Harmondsworth 1972, S.
18. [6]
vgl. Nove, Alec: An Economic History of the U.S.S.R., Harmondsworth 1972,
S. 17. [7]
Zitiert nach sowjetischen Quellen bei: Nove, Alec: An Economic History of
the U.S.S.R., Harmondsworth 1972, S. 49 [8]
zit. nach Franz, Hermann: Herrschaft und Industriearbeit in der
Sowjetunion und China. Frankfurt/New York. 1985, S.
32f. [9]
Franz, Hermann: Herrschaft und Industriearbeit in der Sowjetunion und
China. Frankfurt/New York. 1985, S. 33. [10]
Lenin, Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht, Ausgew. Werke II, S.
762f. [11]
Karl Marx, Das Kapital I. MEW 23, S.
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