1.2.3. Stahl statt Butter?

Die schrittweise Abschaffung der Arbeiterselbstverwaltung beseitigte zwar die Selbstbestimmung der Arbeiter, schien aber gleichzeitig das einzige Mittel zu sein, das wirtschaftliche Chaos zu beseitigen, die Schäden des vergangenen Weltkrieges zu reparieren und die Wirtschaft zu entwickeln.

Seit der Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes im Jahr 1921 drehte sich der politische Kampf nicht mehr um die Frage, wer die Macht ausübt und mit welchen Mitteln diese Macht ausgeübt wird. Diese Fragen hatten die Bolschewiki für sich entschieden. Sie hatten ihr wirtschaftliches und politisches Machtmonopol behauptet und setzten es rücksichtslos gegen jeden Widerstand ein. Seit Kronstadt stand im Zentrum der politischen Auseinandersetzung nur noch, für welches Ziel die Staatsmacht eingesetzt werden sollte.

          Die Wirtschaft sollte wieder aufgebaut werden. Das war nötig, nicht nur wegen den Zerstörungen des Weltkrieges und der sich anschließenden Bürgerkriege in Russland. Erst im Jahr 1926 war in der Sowjetunion das industrielle Vorkriegsniveau gerade wieder erreicht worden. Gleichzeitig führte die Fordsche Technologie- und Management-Revolution im kapitalistischen Westen zu einem Produktivitätssprung.

Woher sollten in der jungen Sowjetunion die Mittel für den Ausbau der sowjetischen Industrie kommen? Investitionen aus dem Ausland wurden in der jungen Sowjetunion zunächst politisch abgelehnt. Als sie später ins Auge gefasst wurden, blieb die Investitionsbereitschaft unter den Kapitalisten im Westen gering. Mussten die sowjetischen Investitionen durch Konsumverzicht finanziert werden?

Bis ins Jahr 1927 war die Mehrzahl der sowjetischen Parteiführer überzeugt, dass industrielle Wachstumsraten von 10 Prozent pro Jahr, die in Boomjahren auch unter dem Zarismus in Reichweite gewesen waren, bei gleichzeitiger Steigerung des Lebensniveaus der städtischen Werktätigen zu erreichen seien -  vor allem durch Steigerungen der Arbeitsproduktivität und Senkung der Kosten.[1]

Der Entwurf des ersten Fünfjahres-Wirtschaftsplans von 1926 sah vor, dass von den geplanten 16,3 Milliarden Rubel Investitionen zwei Drittel - 10,8 Milliarden - aus Gewinnen und Abschreibungen der vorhanden und neu geschaffenen staatlichen Industrie kommen sollte, nur das letzte Drittel aus Besteuerung des Konsums.[2] Nur die fehlenden 5,5 Milliarden Rubel sollten aus den erwarteten Staatseinnahmen von rund 20 Milliarden Rubeln während des kommenden Jahrfünfts aufgebracht werden. Mit diesem Plan wäre sowohl ein Ausbau der Wirtschaft wie eine Verbesserung des Lebensstandard möglich gewesen. Aber dies war nur der erste Entwurf, um den schnell eine hitzige Diskussion entbrannte.

In der Partei-Diskussion um das Investitionsvolumen für die Jahre 1927 - 1932 planten die verschiedenen Parteiflügel so unterschiedlich hohe Steigerungsraten wie plus 14 Prozent (rechter Flügel mit Bucharin und Rykow) und plus 190 Prozent (linker Flügel mit Trotzki und Preobraschenskij). ). Die rücksichtslosen Industrialisierungspläne Trotzkis wurden im August 1926 von Stalin, Rykow und Kuibyschew noch kritisiert, weil diese hohen Investitionen zu einer „Ausplünderung der Bauern[3] führen müssten. Der Streit, ob das Industrialisierungsprogramm der kommenden fünf Jahre auf Kosten des Massenkonsums gehen darf oder nicht, eskalierte noch im selben Jahr zum Ausschluss Trotzkis und seiner Anhänger aus der Partei.

Tatsächlich wurde dann von der Parteimehrheit[4] beschlossen, die Investitionen um plus 131 Prozent anzuheben.[5] Der Sache nach hatten die Trotzkisten also fast Recht bekommen, obwohl sie gleichzeitig als „Parteifeinde“ bekämpft wurden.

Auf der 15. Parteikonferenz, Ende 1926, wurde dann festgelegt, dass die Sowjetunion „in einer möglichst kurzen Zeit das entwickelte Industrieniveau der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder erreichen[6] solle. Das war die Geburtsurkunde des Sowjetsystems:
Aufgabe dieses Sozialismus war nicht Abkehr vom Kapitalismus, Aufgabe war Konkurrenz mit dem Kapitalismus. Man übernahm das Ziel des Kapitalismus: hohes Wirtschaftswachstum, wenn auch nicht die Methode des Kapitalismus. Aber Stalin versicherte noch, die sozialistische Methode der Industrialisierung basiert auf der ständigen Verbesserung der materiellen Verhältnisse der Massen
[7].

Erst die schwere Lebensmittelversorgungskrise von 1927/28, als gerade in einer Zeit des zunehmenden Industriewachstums und einer wachsenden Arbeiterbevölkerung in den Städten, die Getreideversorgung stockte, machte der Parteiführung deutlich, dass die Vorstellungen von beschleunigter Industrialisierung plus gleichzeitig steigendem Lebensstandard blauäugig waren. Die Alternative wurde unausweichlich: Entweder den Konsum kürzen oder die Investitionen.

In dieser Krisen-Situation plädierte Bucharin für ein langsameres Industriewachstum und mehr Rücksichtnahme auf die Bauern. Die Parteimehrheit entschied dagegen und bekämpfte Bucharin seither als „Rechten“. 1929 wurden Bucharin und Rykow aus der Parteiführung ausgeschlossen und es wurde mit der Verabschiedung des ersten Fünfjahresplans der UdSSR eine „maximale Entwicklung der Produktion von Produktionsmittel als Basis für die Industrialisierung des Landes“ festgelegt.[8]

Nicht nur diese Zielsetzung ist bemerkenswert, sondern auch der krisenhafte Zeitpunkt, zu dem sie beschlossen wurde. Jetzt plötzlich wurde in der Parteiresolution, die Bucharins zögerliche Wirtschaftspolitik verurteilte, ein „Tribut von der Bauernschaft[9] verlangt.

Trotzki beschwerte sich zwar daraufhin aus dem Exil, dass die Partei sein ehrgeiziges Industrialisierungsprogramm gestohlen hätte, aber die Parteimehrheit hatte seine „Stahl-statt-Butter-Politik“ so lange abgelehnt, als andere Entwicklungsstrategien noch möglich schienen. Erst als nach der Krise von 1927/28 die Alternative zwischen beidem unausweichlich wurde, entschied sich die Parteimehrheit hinter Stalin für Stahl und gegen Butter.

Dass außerhalb der kommunistischen Partei niemand sonst in der Sowjetunion über eine so lebenswichtige und weitreichende Frage entscheiden durfte, war weder Bucharin, noch Trotzki, noch Stalin ein Gedanke wert. Seit der Entmachtung der Arbeiterselbstverwaltung in den russischen Betrieben blieb die kommunistische Partei (Bolschewiki) als alleiniger Entscheidungsträger, und damit als einziges frei handelndes Subjekt der sowjetischen Gesellschaft übrig. Die sowjetische Gesellschaft war ebenso zum Objekt der Parteientscheidungen geworden wie die Natur, die es umzugestalten galt. Die sowjetische Direktivwirtschaft war geboren und es war eine Sturzgeburt, ausgelöst durch die Versorgungskrise der Jahre 1927/28.

Der Moskauer Jungarbeiter Stepan Podlubnyi schrieb am 2. Mai 1933 in sein Tagebuch[10]: „Mein persönliches Leben verläuft zur Zeit nicht übel. Während der drei Jahre, die ich in Moskau lebe, kann ich mich nicht erinnern, jemals randvoll satt gewesen zu sein. Immer lief ich hungrig herum. Im ersten Jahr aß ich gerade so viel, um vor Hunger nicht zu krepieren. Es kam vor, dass ich auf der Straße ein hartgefrorenes Stück Brotrinde fand. Ich blies den Schnee und Dreck weg und aß es.... Im zweiten Jahr lief ich noch halbwegs hungrig und zerrissen herum. Im dritten Jahr: ein Drittel hungrig und mehr oder weniger gut angezogen.

Ständig „ein Drittel hungrig“ – dieses Los sowjetischer Werktätigen war kein Versehen, sondern die Konsequenz des Willens und Plans der Sowjetbürokratie. Die Beschränkung des Massenkonsums war der Preis der beschleunigten Industrialisierung der Sowjetunion.

Warum dann spätere Sowjetführer die „maximale Entwicklung der Produktion der Produktionsmittel auf Kosten des Konsums der Werktätigen bis zum Untergang fortsetzten, obwohl die grundlegende Aufgabe der Produktionsmittelindustrie, eine Basis für die Industrialisierung zu schaffen, spätestens 1950 erfüllt war, ist eines der Rätsel, die die sowjetische Wirtschaftsgeschichte aufgibt. Im Jahr 1926 hatte die Produktionsmittelindustrie noch einen Anteil von 44 Prozent an der gesamten Industrieproduktion gegenüber 41 Prozent vor 1913.[11]

In der Endzeit der UdSSR lag dieser Anteil bei 75 Prozent.[12] Dieser extrem hohe Prozentsatz der Produktionsmittelindustrie auf Kosten des Konsums mit dem viel Stahl aber wenig Butter produziert wurde, wurde zum Wesensmerkmal der Sowjetwirtschaft. Wer dieses Merkmal der Sowjetwirtschaft nicht zu erklären weiß, der hat das Sowjetsystem nicht verstanden.

DISKUSSION


[1] Carr, E.H. and Davies, R.W.: A History of Soviet Russia. Vol. 9 + 10: Foundations of a Planned Economy (1926-1929) London 1. Ed. 1969, S. 274.

[2] Carr, E.H. and Davies, R.W.: A History of Soviet Russia. Vol. 9 + 10: Foundations of a Planned Economy (1926-1929) London 1. Ed. 1969, S. 85.

[3] zitiert nach Carr, E.H. and Davies, R.W.: A History of Soviet Russia. Vol. 9 + 10: Foundations of a Planned Economy (1926-1929) London 1. Ed. 1969, S. 28

[4] bestehend aus Stalinfraktion plus rechter Flügel

[5] Carr, E.H. and Davies, R.W.: A History of Soviet Russia. Vol. 9 + 10: Foundations of a Planned Economy (1926-1929) London 1. Ed. 1969, S. 278

[6] zitiert nach Carr, E.H. and Davies, R.W.: A History of Soviet Russia. Vol. 9 + 10: Foundations of a Planned Economy (1926-1929) London 1. Ed. 1969, S. 288.

[7] zitiert nach Carr, E.H. and Davies, R.W.: A History of Soviet Russia. Vol. 9 + 10: Foundations of a Planned Economy (1926-1929) London 1. Ed. 1969, S. 287.

[8] zitiert nach Carr, E.H. and Davies, R.W.: A History of Soviet Russia. Vol. 9 + 10: Foundations of a Planned Economy (1926-1929) London 1. Ed. 1969, S. 424.

[9] zitiert nach Carr, E.H. and Davies, R.W.: A History of Soviet Russia. Vol. 9 + 10: Foundations of a Planned Economy (1926-1929) London 1. Ed. 1969, S. 329.

[10] Hellbeck, Jochen (Hrsg.): Tagebuch aus Moskau 1931 – 1939. Aufzeichnungen des Stepan Podlubnyi. München 1996, S. 128.

[11] Carr, E.H. and Davies, R.W.: A History of Soviet Russia. Vol. 9 + 10: Foundations of a Planned Economy (1926-1929) London 1. Ed. 1969, S. 271. Ein Verhältnis 40 zu 60 – Produktionsmittelsektor zu Konsumtionsmittelsektor – entspricht ungefähr der Größenordnung, den diese Sektoren heute in Deutschland haben.

[12] Nove, Alec: The Soviet Economic System. Boston, Third Edition, 1986. S.19.