3. Störungen der Zirkulation

3.1. Waren werden in Geld verwandelt

Nehmen wir an, dass die sowjetische Produktion – mit welchen Hindernissen und Störungen auch immer - durchlaufen ist, und ein fertiges Produkt hergestellt wurde. An dem Produkt selber kann man nicht unbedingt erkennen, in welchem Wirtschaftssystem es produziert wurde. Das Getreide, das in Südamerika von leibeigenen Campesinos geerntet wird, unterscheidet sich nicht von dem Getreide eines einzelwirtschaftenden Bauern in Polen oder dem eines kapitalistischen Landwirtschaftsbetriebs in Niedersachsen, der mit Lohnarbeitern bewirtschaftet wird. Für Industrieprodukte gilt – mit Abstrichen – ähnliches.[1] Egal ob ein Produkt in Einzelarbeit, genossenschaftlich oder in Lohnarbeit geschaffen wurde, wenn es für Geld verkauft wird, ist das Produkt eine Ware.

Der Warenbesitzer verkauft das fertige Produkt und nimmt dafür Geld ein. Falls es sich um einen kapitalistischen Warenbesitzer handelt, erhält er im Normalfall durch den Verkauf der produzierten Ware den Gegenwert seines vorgeschossenen Kapitals (Ankauf von Arbeitskraft und Produktionsmittel) plus einen Gewinn  zurück. Das Ziel des Kapitalisten ist es, mit seinem vorgestreckten Geld mehr Geld zu machen. Die Produktion von Waren, die notwendig dazwischen liegt, ist den Kapitalisten nur ein notwendiges Übel. Der Zugewinn an Geld den ein Kapitalist nach einer Geschäftsoperation gegenüber seinem investierten Kapital in Händen hält, die Profitrate, ist seine Triebfeder und sein Erfolgskriterium. „Am Schluss des Prozesses befindet sich der Kapitalwert also wieder in derselben Form, worin er in ihn eintrat, kann also wieder von neuem als Geldkapital eröffnen und durchlaufen. Eben weil die Ausgangs- und Schlussform des Prozesses die des Geldkapitals (G) ist, wird diese Form des Kreislaufprozesses von uns als Kreislauf des Geldkapitals bezeichnet. Nicht die Form, sondern nur die Größe des vorgeschossnen Kapitalwerts ist am Schluss verändert.[2]  G' ..., zusammengesetzt aus G, dem Kapitalwert, und g, dem durch diesen erzeugten Mehrwert, drückt verwerteten Kapitalwert aus, den Zweck und das Resultat, die Funktion des gesamten Kreislaufprozesses des Kapitals.[3]

Anders als der Kapitalismus war das Sowjetsystem jedoch nicht darauf ausgerichtet, „Geld zu machen“. Geldgewinn war nicht das Ziel der Sowjetwirtschaft, und wir haben gesehen, dass der sowjetische Produktionszyklus auch nicht mit Geld eingeleitet wurde, sondern mit einer Direktive. Geld stand auch nicht am Ende eines jeden sowjetischen Produktionszyklus.

Allerdings wurde auch im Sowjetsystem für Lohnzahlungen Geld ausgezahlt, das erst mit dem Verkauf von Konsumwaren wieder zurückkehrte. Für diesen besonderen Kreislauf der Konsummittel für die sowjetischen Werktätigen galt: Geld wird als Lohnzahlung benutzt um Arbeitskraft zu kaufen (G – A). Die Arbeiter treten mit ihren Lohngeldern als Käufer von Konsummittel auf den Markt (G – W). Die Lohngelder fließen automatisch durch den Warenverkauf wieder an den Staat als Warenbesitzer zurück (W – G). Kurz:

G(Staat) – W(Arb.), G(Arb.) - W – G(Staat)

Bezeichnend für diesen Geldkreislauf, ist jedoch, dass sich dabei das Geld nicht vermehrt. Die Geldmenge, die als Lohnzahlung vom sowjetischen Staat in den Kreislauf geworfen wurde, kehrte durch den Verkauf der Konsumtionsmittel an die Werktätigen wieder an den Staat zurück.

Kein Kapitalist wäre mit diesem Geldkreislauf zufrieden. Wenn seine vorgeschossene Geldsumme gleich der eingenommen Geldsumme ist, dann fühlt er sich um sein Geld betrogen. Natürlich kommt das vor, und es kommt auch vor, dass Kapitalisten Verlust machen. Aber das machen sie nie lange, sondern erklären dann schnell ihren Bankrott und ziehen sich aus dem Geschäft zurück.

Im Sowjetsystem konnte im Konsumtionsbereich die in Lohn vorgestreckte Summe gleich der für Konsumtionsmittel eingenommen Geldsumme sein oder das eingenommene Geld sogar unter dem vorgestreckten Geld liegen, falls der Sowjetstaat bestimmte Waren subventionierte, die in den Konsum der Werktätigen eingingen. Der Staat verzichtete dann auf die Realisierung produzierter Werte. Er verkaufte das hergestellte Produkt W' nicht unbedingt zum tatsächlichen Wert (inklusive Mehrwert), sondern eventuell darunter. So kam es vor, dass in der Sowjetunion das Brot billiger sein konnte als das Mehl, das in dem Brot verbacken wurde.

Allerdings konnten die Direktivplaner die Subventionen für Konsumtionsmittel von vornherein bei der Lohnzahlung einsparen. Sie zahlten in Höhe der Lebensmittelsubventionen entsprechend weniger Lohn.

Insofern die Arbeitskraft im Sowjetsystem mit Entgeld bezahlt wurde, das auf dem Markt in Waren (Konsumtionsmittel) verwandelt wurde, insofern bestand kein Unterschied zur kapitalistischen Ware Arbeitskraft und ihrer Reproduktion durch Warenkonsum.

Wie die sowjetischen Planer der großen, aber doch noch überschaubaren Anzahl von Betrieben befahlen, was sie produzieren sollten, so versuchten sie einer Millionenzahl von einzelnen Konsumenten vorzuschreiben, was sie konsumieren sollen und was nicht. Das nur möglich innerhalb in einer gefängnishaften Umgebung.

Innerhalb der Arbeitswelt ist auch der kapitalistische Lohnarbeiter dem fremden Willen der Unternehmensführung unterworfen. In seiner Reproduktionszeit, der „Freizeit“ ist der Lohnarbeiter zwar durch die Höhe des Lohns beschränkt, hat aber ansonsten freie Entscheidung, was er mit seinem sauer verdienten Geld macht.

Natürlich hatten die sowjetischen Werktätigen das selbstverständliche Interesse, zunehmend mehr Bedürfnisse zu befriedigen und wollten daher, dass ihr Konsum ausgeweitet wurde. Im Sowjetsystem war aber der private Konsum wie im Kapitalismus als Warenproduktion organisiert. So ergab sich das absurde Phänomen, dass die sowjetischen Werktätigen scheinbar den Kapitalismus herbeisehnten, wogegen mit mehr oder minder despotischen Mitteln die Parteibürokratie den „Sozialismus“ durchsetzten. Das ist der reale Hintergrund für die Appelle der Sowjetbürokratie an den „sozialistischen Menschen“, der nicht nur klaglos die Bevormundung und Despotie des Sowjetsystems erträgt, sondern geradezu herbeisehnt. Existiert hat dieser „sozialistische Mensch“ nur auf Papier, wie im Gedicht des Sowjetbarden W. Majakowski, das uns heute nur komisch vorkommt:

Ich sehe

mich

als eine Sowjetfabrik,

um zu

produzieren

das Glück.

...

Ich will,

dass mir

die Planer des Staats

alljährlich

die Arbeitslast

in heißer Debatte

vorschreiben

auf strengem

Kontrollzifferblatte.

...

Ich will,

dass am Abend,

nach Arbeitsschluss,

der Betriebsrat

die Lippen mir

zuschließen muss.[4]

In diesem Konflikt zwischen dem von der Bürokratie geschaffenen verplanbaren Kunst-Menschen und den wirklichen Menschen mit ihrem selbstverständlichen und fortschrittsträchtigen Bedürfnis nach reicherem und reichhaltigerem Genuss[5] blieb die Planungsbürokratie erstaunlich erfolgreich: Zuletzt machte die Warenproduktion für den Konsumgüterbereich wertmäßig nur noch ein Viertel der sowjetischen Industrieproduktion aus. Die Folgen davon werden uns in den folgenden Abschnitten noch beschäftigen.

3.2. Produktionsmittelverteilung ohne Geld

Sowjetische Produkte, die an die Konsumenten im eigenen Land oder auf dem Weltmarkt verkauft wurden, waren Waren und ihre Produktion war Warenproduktion. Wir hatten jedoch festgehalten, dass die sowjetischen Waren zwar wie kapitalistische Waren für Geld verkauft wurden, nicht unbedingt aber für mehr Geld, als ihre Produktion gekostet hat. Das aber ist Sinn und Zweck der kapitalistischen Warenproduktion. Falls auf dem Weltmarkt sowjetische Waren unter ihren Produktionskosten verkauft wurden, um knappe Devisen einzunehmen, wurde ein Teil der aufgewandten sowjetischen Arbeitszeit verschleudert bzw. an das ausländische Kapital verschenkt.

Innerhalb der sowjetischen Produktionsmittelindustrie wurde zwar noch in Rubel gerechnet, aber was als fertiges Produkt aus einem Produktionsmittelbetrieb herauskam, wurde durch Direktiven an einen anderen Betrieb zugewiesen. Innerhalb der sowjetischen Produktionsmittelindustrie verwandelten  sich also die Produkte nicht in Geld, sondern gingen wieder in den nächsten Betrieb als Arbeitsmaterial oder Arbeitsmittel ein, um dort in ein neues Produkt verwandelt zu werden.

Betrachten wir einmal die Produktionskette: Erzförderung – Stahlherstellung – Maschinenherstellung von drei kapitalistischen Unternehmen und lassen dabei die Arbeitskraft außer Acht. Diese Produktionskette sieht dann folgendermaßen aus:

Kapital I: G – Fördermittel ... P ... Eisenerz – G’;

Kapital II: G – Eisenerz (von I) ... P ... Stahl – G’;

Kapital III: G – Stahl (von II) ... P ... Maschinen – G’.

Kapitalistische Unternehmen kaufen mit ihrem Geld die nötigen Produktionsmittel von einem anderen Kapitalisten und produzieren ein neues Produkt, das es in Geld rückverwandelt. Mit diesem Gelderlös – bzw. einem Teil davon – wird dann derselbe Produktionsprozess erneut in Gang gesetzt.

Die sowjetischen Direktivplaner setzten aber ihre Produktionsprozesse nicht mit Geld, sondern mit Direktiven in Gang. Der erste sowjetische Produktionsprozess wäre also:

Direktive/Sollziffer – Fördermittel (an Betrieb 1) .... P ... Eisenerz.

Kann sich hier der nächste Produktionsprozess einfach anschließen? Nein, denn nicht der sowjetische Betrieb 1 entscheidet, welcher Betrieb 2 wie viel Eisenerz für die Stahlherstellung geliefert bekommt, sondern die Planerbürokratie entscheidet das. Also meldet der Betrieb 1 nach erfolgter Produktion eine statistische Ziffer (x Tonnen Eisenerz) an die Zentrale. Die Planer dort entscheiden anhand dieser Planziffer, welcher Betrieb 2 wie viel Eisenerz von dem Betrieb 1 erhalten soll. Als Formeln ausgedrückt:

Direktive an 1 mit Sollziffer – Fördermittel ... P ... Eisenerz – Istziffer 1;

Direktive an 2 mit Sollziffer – Eisenerz (1. an 2.) ... P .... Stahl – Istziffer 2;

Direktive an 3 mit Sollziffer – Stahl (2. an 3.) ... P .... Maschinen – Istziffer 3.

Der kapitalistische Zirkulationsprozess kann nicht ohne Dazwischentreten von Geld, also nicht ohne Verwandlung der Ware in Geld vonstatten gehen. Das Sowjetsystem kam im Bereich Produktionsmittelproduktion – wie hier gesehen – ohne Geld aus, musste aber dafür alle Produkte in statistische Ziffern verwandeln.

Die statistischen Ziffern waren nicht nur Steuerungsinstrument, sondern auch Erfolgskriterium der sowjetischen Wirtschaft. Ein sowjetischer Produktionszyklus war dann erfolgreich, wenn die an die Planer gemeldete Produktionsziffer, mindestens die Auftragsziffer erreichte, die die Planer aus Ausgangszahl für ihre Direktive nahmen. Das hieß dann: Plan erfüllt!

Der Kreislauf der Sowjetwirtschaft kehrte so zu seinem Ausgangspunkt zurück: Er begann jeweils mit einer Direktive plus Soll-Planziffer und endete mit der Ist-Planziffer. Die Direktive mit Sollziffer ist das spezielle Mittel, das die sowjetische Produktion in Gang setzt, die Istziffer ist ihr Resultat.

Der Kapitalist vergleicht sein realisiertes Kapital am Ende eines Kreislaufes mit seinem vorgeschossenen Kapital und errechnet daraus seinen Gewinn. Die Direktivplaner dagegen verglichen ihre Ist-Planziffern mit ihren Soll-Planziffern und ermitteln daraus ihren Planungs- und Produktionserfolg.

3.3. Die Tücken der Planziffern

Über den viel beschworenen Unterschied zwischen sowjetischer Statistik und sowjetischer Wirklichkeit braucht man sich nicht lange aufhalten. Auch der Kapitalist hat am Ende seines Kreislaufs zum Teil nur „statistisches“ Geld in Händen, in Form von Schuldforderungen, die er selbstverständlich auf seiner Habenseite verbucht, obwohl sich oft genug herausstellt, dass seine Schuldner zahlungsunfähig sind, so dass seine Geldforderung nur eine Ziffer auf Papier bleibt und sich nicht in wirkliches Geld verwandelt.

Wesentlich für die Sowjetwirtschaft war nicht, dass die Statistik log, sondern dass die statistische Ziffer die einzige und damit scheinbar objektive Basis der Direktivplanung bildete. Wer die Wahrheitsbasis der sowjetischen Statistik kritisierte, trat nur für eine verbesserte Statistik ein. Jede Verbesserung der Statistik brachte aber notwendig mehr Bevormundung und Kontrolle. Die wesentliche Kritik am Sowjetsystem ist nicht, dass sich die Produzenten und die Planer gegenseitig mittels Statistik betrogen, wesentlich ist, dass die Werktätigen nicht von ihren Bedürfnissen ausgehend selber bestimmen konnten, was, wie und in welcher Menge produziert wird. Die sowjetischen Werktätigen waren weder Herren ihrer selbst noch Herren der Produktion.

Bis Mitte der 60er Jahre wurde die sowjetische Planerfüllung allein nach der Produktionsmenge des Herstellerbetriebes gemessen, ganz gleich, ob diese Produkte ausgeliefert und von einem produktiven oder individuellen Konsumenten zum Verbrauch akzeptiert worden sind oder nicht.[6]  Die Produkte am Ausgang der Produktion erschienen in der Statistik, bevor sie im produktiven oder individuellen Konsum auftauchten. In der sowjetischen Statistik erschienen notwendig mehr Produkte als im Konsum. Der Produktionserfolg bestand auf dem Papier und blieb nur Papier.

Erst seit 1965 zählten nicht verkaufte oder nicht ausgelieferte Produkte nicht mehr in der Statistik. Davon abgesehen, dass das immer noch einen Ansporn darstellte, dem Abnehmerbetrieb mehr zu liefern als er bestellt hatte, oder anderes zu liefern als er bestellt hatte[7], wogegen sich die Abnehmer nicht wehren konnten, wurde durch diese Bestimmung immerhin die Scheinproduktion für die Statistik erschwert. Die Regelung reduzierte den statistischen Selbstbetrug der Planer.

Natürlich bestimmten die planerischen Vorgaben das Ergebnis der Produktion. Darin lag ja die angebliche Überlegenheit des Sowjetsystems über den Kapitalismus. Aber die planerischen Vorgaben bestimmten die Produktionsergebnisse in einer widersprüchlichen Weise, die offenbarte, dass Planer und Produzenten widerstreitende Interessen hatten.

Bis Mitte der 60er Jahre waren die Direktivpläne nur quantitativ bestimmt: Es mussten soviel Tonnen Stahl, soviel Liter Öl, soviel Meter Stoff, soviel Tonnen Getreide und soviel Stück Schuhe, Schiffe, Maschinen usw. hergestellt werden. Der „Gebrauchswert“ aller Produkte wurde rein quantitativ definiert. Das entsprach einer Logik des Mangels: Wer hungert, fragt nicht nach Verschiedenheit und Geschmack des Essens, sondern nur nach der Menge. Wer friert, gibt sich mit jedem wärmenden Stoff zufrieden, egal welche Farbe er hat.

Durch diese quantitativen Vorgaben wurde sowjetischer Stahl, sowjetisches Glas, sowjetisches Papier, sowjetische Maschinen und Fahrzeuge durchschnittlich dicker und schwerer als ihre im Westen produzierte Gegenstücke. Solange sowjetischer Kleiderstoff in Metern geplant wurde, wurden die Stoffbahnen schmaler. Das wurde korrigiert durch Änderung der Planziffern in Quadratmeter, aber damit waren Qualitätsverschlechterungen, dünnere und fehlerhafte Stoffe vorprogrammiert.[8] Der Produktionsplan für Glühbirnen war in Watt festgelegt. Das führte zu chronischer Knappheit bei 40- und 60-Watt-Birnen, weil die Produzenten mit 100-Watt-Birnen ihren Plan viel leichter erfüllen konnten.

Straßentransport-Unternehmen erfüllten ihre Pläne in Tonnenkilometer. Also zogen sie lange Strecken den kurzen und schwere Ladungen den leichten vor. Sogar Fahrten ohne Ladungen gingen in die Planerfüllung ein, weil sie den Kilometer-Koeffizienten vergrößerten.[9]

1974 berichtete die Prawda[10]: „Wasserrohre wurden in einer Fabrik schwer und teuer hergestellt, aber leichtere Rohre hätten die Planerfüllung erschwert... Das Management setzte sich erfolgreich dafür ein, dass die Planziffer von Tonnen in Meter geändert wurde, aber nur um festzustellen, dass die leichteren Rohre schwerer absetzbar waren, weil die Transportunternehmen, die Projektplaner und die Bauunternehmer alle ihre Pläne nach Gewicht erfüllten und daher lieber mit schweren Rohren zu tun hatten.

Was immer die Planungsbürokratie an Plänen ausarbeitete, für die Werktätigen waren es fremde Pläne, nicht ihre eigenen. Es war ein fremder Wille, der ihnen aufgezwungen wurde, nicht ihr eigener Wille, so dass jeder nur das Notwendigste für die auferlegten Pläne tat. Sowjetischen Werktätigen waren Ausführende, nicht selbstbestimmte Produzenten. Die Planbürokratie reagierte auf passiven Widerstand anfangs mit Terror, der Ingenieure in Arbeitslager oder in den Tod schickte, wenn die von ihnen entworfene Technik versagte, andererseits verfeinerten und vermehrten die Planer zunehmend ihre Vorschriften. Auch wenn mit zunehmender Reife des Sowjetsystems die Werktätigen nicht mehr um ihr Leben fürchten mussten, so wurde ihre eigene Ohnmacht und die Macht der Planerbürokratie immer weiter ausgebaut.

Die Einführung des „Bruttoproduktionswertes“ als ergänzende Planziffer, die neben die Mengenpläne trat und sie austarieren sollte, schuf neue Widrigkeiten: Der Bruttoproduktionswert enthielt den Gesamtwert eines Produkts einschließlich seiner Material-, Maschinen- und Lohnkosten. So waren die Pläne leichter zu erfüllen, wenn teure und mehr Vorprodukte verarbeitet wurden. Das wurde zur Quelle der sowjetischen Material- und Energieverschwendung.

Eine Reform von 1982 führte noch einen „normierten Nettoproduktionswert“ (NNP) als weiteren Maßstab der Planerfüllung ein, der dem in dem jeweiligen Betrieb neu zugesetzten Mehrprodukt entsprechen sollte. Erst mit dieser Maßnahme wurde betriebswirtschaftliche Effektivität stärker betont. Dass damit die Absurditäten des sowjetischen Wirtschaftssystems nur verlagert, aber nicht beseitigt wurden, zeigt der Fall des Leningrader Elektrizitätswerkes: die Beschäftigten dieses Betriebes wurden nach 1982 mit Prämienabzug wegen Nichterfüllung ihres Plansolls an ausgelieferter Elektrizität bestraft. Die Ursache für diese Nichterfüllung des Plansolls war ein besonders milder Winter, in dem weniger Heizwärme nachgefragt worden war.[11]

Mit jeder Reform wurden die Kontrollziffern vermehrt, so dass sie sich zunehmend gegenseitig außer Kraft setzten. Die Prawda[12] klagte 1983:  Die Zahl der Kontrollziffern wächst, und allein ihre schiere Anzahl garantiert schon, dass sie nicht erfüllt werden, weil sie sich gegenseitig widersprechen... Ab 1979 gab es für die monatliche Kontrolle der Produktionskosten ... 29 Indikatoren, im letzten Jahr wurde ihre Zahl auf  75 erhöht. Vierteljahresabrechnungen erforderten früher 92 Indikatoren, jetzt sind es 200.

Hier gelangte das sowjetische Wirtschaftssystem an seine selbstgeschaffene, innere Grenzen. Um jede Eigenmächtigkeit und Eigenverantwortung der Unternehmen auszuschließen, verfeinerten und vermehrten die Planerbürokratie ihre Kontrollziffern immer mehr, bis diese so unübersichtlich und in sich widersprüchlich wurden, dass die Planerbürokratie zunehmend den Überblick verlor und die Betriebe wieder an Selbständigkeit gewannen. Da kein Unternehmen mehr alle Kontrollziffern einhalten konnte, konnten sich die sowjetischen Betriebe zunehmend aussuchen, welche Planziffern sie einhalten wollten und welche nicht.

Indem die zentrale planerische Bevormundung immer mehr verfeinert wurde, brachte sie das genaue Gegenteil von dem hervor, was sie erreichen wollte: wachsende Lähmung der Planbürokratie und zunehmende Selbständigkeit der Unternehmen.

3.4. Direktivpreise und ihre Störungen

Wir hatten gesehen, dass für die Kapitalisten der Zweck ihrer Geschäftstätigkeit ist, dass sie für ihr investiertes Geld mehr Geld zurückbekommen. Erst wird Geld in Ware und dann wieder Ware in Geld verwandelt. Damit diese Verwandlung möglich wird, muss die Ware in Geld berechenbar sein, die Ware muss einen Preis haben, sonst ist sie nicht für Geld austauschbar. Der Preis ist die vorweggenommene Menge Geld, in die eine Ware sich tauschen soll. Der Preis drückt also die künftige Form der Ware aus. Karl Marx nannte den Preis „die Geldform der Ware[13].

So wichtig Preise für das Funktionieren des Kapitalismus sind, für die Sowjetplaner spielten Preise eine untergeordnete Rolle, weil ihre Wirtschaft nicht auf Gelderwerb ausgerichtet war. Wenn die individuellen Kosten eines sowjetischen Unternehmens stiegen, in der Landwirtschaft z.B. wegen Missernten oder in der Industrie z.B. durch längere Produktionsstockung, durften die Verkaufspreise solcher Produzenten die individuelle Kostensteigerung nicht widerspiegeln. Sie durften ihre Preise nicht erhöhen.

Für viele Güter, vor allem Brennstoffe und Rohstoffe lagen die festgesetzten Verkaufspreise häufig weit unter den Produktionskosten. Die Erzeugerkosten für eine Tonne Kohle lag im Jahr 1932 bei 19 Rubel, ihr festgelegter Verkaufspreis an andere Betriebe war 9,65 Rubel.

Die Erzeugerkosten für eine Tonne Eisenerz betrug damals gut 10 Rubel. Es musste für 5,70 Rubel abgegeben werden.

Eine Tonne Zement kostete in der Herstellung 46 Rubel und brachte im Verkauf 27 Rubel.

Diese Preise wurden erst im Jahr 1936 angepasst.[14]

Betriebliche Unterschiede in den Kosten wurden überhaupt nicht, regionale Unterschiede nur gering berücksichtigt. Umgekehrt durften Produktivitätssteigerungen, die die Produktionskosten senkten, nicht als Preissenkung an die Verbraucher weitergegeben werden.

Die Preisfestsetzung sollte ganz in der Hand der Planerbürokratie bleiben. Auch wenn es im Kapitalismus längst nicht mehr so ist wie in der einfachen Warenproduktion, dass der Preis einer einzelnen Ware ihrem Wert entspricht, so versuchten sich die Sowjetplaner bei ihrer Preisgestaltung bewusst und absichtlich vom Wert (bzw. den jeweiligen Produktionskosten) zu entfernen. Diese Freiheit der Preissetzung unabhängig vom Wert war jedoch nur scheinbar. Willkürliche Preisfestsetzungen durch die Planer brachten ganz spezifische unangenehme Folgen für die Sowjetwirtschaft.

Je niedriger die staatlichen Preise für Konsumgüter im Vergleich zu ihren Herstellungskosten angesetzt waren, desto schneller verschwanden die Produkte aus den Geschäften. Gleichzeitig entstand dann notwendig ein Schwarzmarkt für diese Produkte. Die Getreidekrise von 1927, der Auslöser der „stalinistischen“ Wirtschaftspolitik, wurde dadurch hervorgerufen, dass die Bauern sich weigerten, ihr Getreide zu den zu niedrig festgesetzten Direktivpreisen zu verkaufen.

Im Jahr 1927 wurden die Verkaufspreise für die knappen Güter Seife und Tee gesenkt, was zur Folge hatte, dass sie fast völlig aus den Geschäftsregalen verschwanden, um auf Privatmärkten zu erhöhten Preisen wieder aufzutauchen.[15]

Vor diesen ungewollten Konflikten zwischen dem Wert der Produkte und ihrem staatlichen festgesetzten Preis musste die sowjetische Planerbürokratie immer wieder kapitulieren, indem sie für eine Zeitlang doppelte Preise zuließen. Dann sollte eine Ware zu zwei Preisen verkauft werden: Zum staatlich festgesetzten Preis im staatlichen Handel und zu einem deutlich erhöhten Marktpreis in Sonderläden oder auf dem Schwarzmarkt. Tatsächlich stellte sich auch hier ein einziger Preis dadurch her, dass diese Produkte mit „doppeltem Preis“ aus den staatlichen Läden verschwanden.

Folgende Waren konnten die Sowjetbürger im Jahr 1990 neben vielen anderen nur auf dem Schwarzmarkt kaufen, nicht in sowjetischen Läden.

Tab. 1: Sowjetische Schwarzmarktwaren 1990[16]

Ware

Schwarzmarktpreis
in Rubel

Direktivpreis
in Rubel

Anoraks

1000

150

Importstiefel

2000

140

Lederschuhe

300

55

Nagellack

25 - 40

1,5

Schafspelzjacken

3000 - 7000

1500

Socken

20 - 30

1 - 3

Sportschuhe

1000

35

Winterjacken

1500 - 3000

180

Sämtliche Preise wurden anfangs in der UdSSR durchschnittlich alle zehn Jahre angepasst. In den letzten Jahren der UdSSR wurden die Preise in immer kürzeren Abständen angepasst, aber das führte zu einer wachsenden Lähmung des Planungsapparates. Die zentrale Planungsbehörde musste in den 80er Jahren jährlich 200.000 Einzelpreise überprüfen und bestätigen, weitere 275.000 Preise[17] wurden in jedem Jahr von den Einzelministerien neu festgesetzt, ohne dass das die strukturellen Mängel des sowjetischen Direktiv-Preissystems behob.

3.5. Sonderläden für Privilegierte

Wie das System der bürokratischen Direktivpreise den Schwarzmarkt schuf, so brachte es auch die Sonderläden für Partei- und Staatsfunktionäre hervor.

Falls im Kapitalismus die Versorgung mit einem Gut knapp ist, können sich die Reichen die Versorgung mit diesem Gut jederzeit durch ihre hohen Einkommen sichern, die sie in die Lage bringen, hohe und überhöhte Preise zu zahlen. Im Kapitalismus herrscht allenfalls Knappheit für Konsumgüter der Lohnabhängigen, zum Beispiel bei billigem Wohnraum. Reiche finden jederzeit und überall Wohnraum. Ihre zahlungskräftige Nachfrage erzwingt sich durch höhere Preisangebote den Zugang zu jeder knappen Ware.

Bei dem starren sowjetischen Preissystem hätten selbst höchste Einkommen der herrschenden Schicht nicht sichergestellt, dass sie ungehinderten Zugang zu allen knappen Waren erhielten. Da die Preise bei Knappheit nicht steigen durften, hatten die nächstbesten Kunden den Laden leergekauft, bevor der Herr Genosse Parteisekretär seinen Kaviar bekam. Legalen Zugang der herrschenden Klasse zu knappen Gütern konnte in der Sowjetwirtschaft nicht über die Preise geschehen, sondern musste durch privilegierte Versorgung, über Sonderläden, Sonderrestaurants, Sonderkrankenhäuser und Sonderwohngebiete geregelt werden.

Die ersten Sonderläden für Partei- und Staatskader, zu denen die normalen Werktätigen keinen Zugang hatten, wurden während der Versorgungskrise von 1927/28 unter Stalin eingerichtet[18] und wurden seither zum notwendigen Systembestandteil.

DISKUSSION



[1] „Die vom Kapitalisten hergestellte Ware unterscheidet sich soweit in nichts von der durch einen selbständigen Arbeiter oder von Arbeitergemeinden oder von Sklaven hergestellten Ware.“ Karl Marx, Kapital II. MEW 24, S. 386.

[2] Karl Marx, Kapital II. MEW 24,  S. 48f.

[3] Karl Marx, Das Kapital II. MEW 24, S. 52.

[4] W. Majakowski: Ausgewählte Gedichte, Nach Hause (1926). Berlin 1946, S. 68f.

[5] „Also Explorieren der ganzen Natur, um neue nützliche Eigenschaften der Dinge zu entdecken; universeller Austausch der Produkte aller fremden Klimate und Länder; neue Zubereitungen (künstliche) der Naturgegenstände, wodurch ihnen neue Gebrauchswerte gegeben werden... die Entwicklung der Naturwissenschaft daher zu ihrem höchsten Punkt...; die Kultur aller Eigenschaften des gesellschaftlichen Menschen und Produktion desselben als möglichst bedürfnisreichen, weil Eigenschafts- und Beziehungsreichen - seine Produktion als möglichst totales und universelles Gesellschaftsprodukt - (denn um nach vielen Seiten hin zu genießen, muss er genussfähig, also zu einem hohen Grad kultiviert sein) - ist ebenso eine Bedingung der auf das Kapital gegründeten Produktion... Entwicklung von einem sich stets erweiternden und umfassenden System von Arbeitsarten, Produktionsarten, denen ein stets erweitertes und reicheres System von Bedürfnissen entspricht.“ Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 312f.
„Je mehr dies selbst geschieht - durch die Produktion selbst erzeugten Bedürfnisse, die gesellschaftlichen Bedürfnisse - Bedürfnisse sind, als notwendig gesetzt sind, um so höher ist der wirkliche Reichtum entwickelt. Der Reichtum besteht stofflich betrachtet nur in der Mannigfaltigkeit der Bedürfnisse.“ Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 426.

[6] Nove, Alec: The Soviet Economic System. Boston, Third Edition, 1986., S. 91.

[7] vgl. Nove, Alec: The Soviet Economic System. Boston, Third Edition, 1986., S. 92.

[8] vgl. Nove, Alec: The Soviet Economic System. Boston, Third Edition, 1986. S. 89.

[9] Nove, Alec: The Soviet Economic System. Boston, Third Edition, 1986. S. 90.

[10] zitiert nach Nove, Alec: The Soviet Economic System. Boston, Third Edition, 1986., S. 88.

[11] Nove, Alec: The Soviet Economic System. Boston, Third Edition, 1986., S. 94.

[12] zit. nach Nove, Alec: The Soviet Economic System. Boston, Third Edition, 1986., S. 83.

[13] Karl Marx, Kapital I. MEW 23, S. 110.

[14] Nove, Alec: An Economic History of the U.S.S.R., Harmondsworth 1972, S. 247.

[15] Carr, E.H. and Davies, R.W.: A History of Soviet Russia. Vol. 9 + 10: Foundations of a Planned Economy (1926-1929) London 1. Ed. 1969, S. 692.

[16] nach: Altrichter, Helmut: Kleine Geschichte der Sowjetunion 1917-1991. München 1993, S. 225.

[17] Nove, Alec: The Soviet Economic System. Boston, Third Edition, 1986, S. 180.

[18] Carr, E.H. and Davies, R.W.: A History of Soviet Russia. Vol. 9 + 10: Foundations of a Planned Economy (1926-1929) London 1. Ed. 1969,. S. 703.