7. Erstickungstod des Sowjetsystems 7.1. Extensives und
intensives Wachstum Es ist immer wieder zu
lesen,[1] dass der anfängliche
ökonomische Erfolg der Sowjetunion allein oder vor allem auf extensives
Wachstum, also auf Ausdehnung des gesamtgesellschaftlichen Arbeitstages
durch einfache Addition von Arbeitern und Maschinerie zurückzuführen sei.
Das schließliche Scheitern der Sowjetwirtschaft hätte dann in dem
Unvermögen gelegen, auf intensives Wirtschaftswachstum, also auf
Steigerung der Arbeitsproduktivität umzuschwenken. Doch diese Meinung
widerspricht den Tatsachen. Steigerung der
Produktivität heißt vor allem gesunkene Arbeitszeit, die ein bestimmtes
Produkt erfordert. Der Wert der Ware ist bestimmt durch die
Gesamtarbeitszeit, vergangene und lebendige, die in sie eingeht. Die
Steigerung der Produktivität der Arbeit besteht eben darin, dass der
Anteil der lebendigen Arbeit vermindert, der der vergangenen Arbeit
vermehrt wird, aber so, dass die Gesamtsumme der in der Ware steckenden
Arbeit abnimmt; dass also die lebendige Arbeit um mehr abnimmt, als die
vergangene zunimmt. ... Der erreichte Grad der
Arbeitsproduktivität ist auch das wichtigste materielle Kennzeichen für
den erreichten Entwicklungsgrad, die Reife einer Gesellschaft. Die
jeweilige Fähigkeit einer Produktionsweise zur Steigerung der
Produktivität ist ihr wichtigstes Erfolgskriterium.[3] Der wirkliche Reichtum der
Gesellschaft und die Möglichkeit beständiger Erweiterung ihres
Reproduktionsprozesses hängt ... nicht ab von der Länge der Mehrarbeit,
sondern von ihrer Produktivität und von den mehr oder minder reichhaltigen
Produktionsbedingungen, worin sie sich vollzieht.[4] Die
in einer Produktionsweise erreichte Produktivität des Arbeitstages
bestimmt die Fruchtbarkeit der vorhandenen Arbeitszeit. Rückgang der
Arbeitsproduktivität heißt daher Schrumpfen der Reichtumsquelle, Rückgang
der Arbeitsproduktivität heißt wirtschaftlicher wie gesellschaftlicher
Rückschritt. Wäre die
Sowjetwirtschaft nie in der Lage gewesen, produktiver, also zeitsparenderm
zu produzieren, sondern hätte nur immer mehr Menschen in ihre Industrien
eingesaugt und dadurch die Produktion gesteigert, hätte es tatsächlich nie
wirtschaftlichen Fortschritt in der UdSSR gegeben. Das Experiment
Sowjetunion wäre von Anfang ein Misserfolg gewesen. In den Anfangsjahren
der sowjetischen Industrialisierung war jedoch die Arbeitsproduktivität
deutlich schneller gewachsen als die Zahl der Arbeiter. Im Zeitraum von
1926-1929 wurde das Industriewachstum im Staatssektor um 70 % gesteigert,
gleichzeitig nahm die Arbeiterzahl nur um 23 % zu[5]. Also stieg in dieser
Zeit die sowjetische Arbeitsproduktivität mit 47 % deutlich schneller als
das extensive Wachstum (plus 23 %) durch Vermehrung der
Arbeiter.[6] Die Herstellung eines
sowjetischen Großpanzers T-34 erforderte zum Beispiel im Jahr 1941 8.000
Manntage, aber nur 3.700 Manntage im Jahr 1943.[7] Nach westlichen
Angaben stieg die Arbeitsproduktivität in der UdSSR bis in die 70er Jahre
schneller als in den USA und erreichte damals 50 % der amerikanischen
Produktivität. Danach konnte der Abstand in der Produktivität nicht weiter
verringert werden, sondern blieb ungefähr gleich groß.[8]
In Arbeitszeit
ausgedrückt heißt das, dass die Arbeiter in der Sowjetunion zur
Herstellung des gleichen Produkts rund doppelt so lange arbeiten mussten
wie die Arbeiter in den USA. Neuere Berechnungen
zeigen, dass erst seit 1970 die Arbeitsproduktivität sank. 1970 begann der
ökonomische Erstickungstod der Sowjetunion, der durch extensives Wachstum
nur hinausgezögert wurde. Tabelle 6: Extensive
Wachstumsraten [9]
Tabelle 7: Intensive
Wachstumsraten [10]
Mindestens seit 1970
ging in der Sowjetunion die wirtschaftliche Produktivität zurück.
Mindestens seit 1970 begann die innere Krise des Sowjetsystems. Der
negative Produktivitätsfortschritt ist ein objektiver Gradmesser für die
erlahmende wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik und Lebenskraft
der Sowjetunion. Das Sowjetsystem hatte seine Wachstumsgrenze erreicht und
war seit 1970 Jahre am Absterben. Im Einzelnen lassen
sich für diese nachlassende Produktivität viele Einzelfaktoren finden.
Fest steht, dass dabei Mangel an menschlichen Ressourcen wie
z.B. Mangel an qualifizierten Kopfarbeitern keine Rolle gespielt
hat, wie die Tabelle 8) zeigt. Tabelle 8:
Wissenschaftler und Ingenieure[11]
Mit relativ wenigen
Wissenschaftlern und Ingenieuren hatte die junge Sowjetwirtschaft in ihrer
Frühzeit mehr technische Verbesserungen und Produktivitätssteigerungen
erreicht als mit einer relativ hohen Zahl in ihren späten Jahren. Nicht
die Anzahl der Wissenschaftler und Ingenieure war für die wirtschaftliche
Dynamik entscheidend. Die sowjetischen Werktätigen verfügten insgesamt
über den nötigen Sachverstand für eine Verwissenschaftlichung und
Modernisierung der Produktion, aber die Planbürokraten konnten und wollten
der Initiative der sowjetischen Werktätigen keinen Raum geben, weil das
ihr wirtschaftliches und politisches Machtmonopol
untergrub. Die Planbürokraten
tätigten Investitionen fast nur noch in Neuanlagen von ganzen Fabriken,
die mit ihren bürokratischen Methoden leichter zu kontrollieren waren als
die Modernisierung schon vorhandener Fabriken. Das war zu Beginn anders.
Im Jahr 1928/29 gingen nur 30 % der industriellen Investitionen in
Neugründungen von Fabriken.[12] Die sowjetischen
Betriebe durften kaum eigene Forschungs- und Entwicklungsabteilungen
unterhalten. Innovationen waren allein Sache der Zentrale, die jede
einzelne Verbesserung der Produktionstechnik oder eines Produkts erst
akzeptieren und in den Plan aufnehmen musste. Nicht die kombinierte
Intelligenz von Millionen sowjetischen Werktätigen zählte, sondern nur die
Intelligenz von einigen zehntausenden verbeamteten Wissenschaftler und
Ingenieure in den zentralen Forschungslabors. Jede akzeptierte
Innovation erforderte aber viele weitere Änderungen in den Plänen der
Zuliefer- und Abnehmerbetrieben wie bei der Preisfestsetzung. Innovationen
erleichterten vielleicht die Arbeit der Werktätigen oder verbesserten ein
Produkt für die Bürokraten vermehrten Innovationen die Arbeit und fielen
ihnen zur Last. Die Existenz der Planbürokratie selber wurde zum Hindernis
für Innovationen und Produktivitätsfortschritt. Die Existenz der
Planbürokratie selber wurde zur Ursache für wirtschaftliche Stagnation und
wirtschaftlichen Rückschritt. Jede Innovation in
bestehende Sowjetbetrieben gefährdete die Erfüllung des laufenden Planes,
der eine volle Auslastung der Kapazitäten voraussetzte, denn
Produktionsumstellungen, d.h. Verbesserungen in der Produktionsweise wie
Verbesserungen beim Produkt, machen zunächst Produktionsunterbrechungen
unvermeidlich. Die Prämienvergabe war aber an die Erfüllung der
Jahrespläne gebunden. Außerdem richteten
sich Gehalt und Prämien von leitenden Managern in den Unternehmen nach der
Lohnsumme, also der Anzahl der Arbeiter. Direktoren, die die Produktion
effektivierten und dadurch Arbeit einsparten, kürzten sich das
Gehalt. Gorbatschow
veranschlagte im Jahr 1986 den Anteil der sowjetischen Fabrikanlagen,
deren Produktivität fortgeschrittenes Weltniveau erreicht hatte, auf nur
13 - 15 Prozent der Industrie.[13] 7.2. Bringt Einsatz
von Computern die Rettung? Es gab im Westen
Stimmen, die meinten, dass die Computertechnik der sowjetischen
Planungsbürokratie eine neue Daseinsberechtigung und Legitimation
verleihen könne, weil sie mit Computern endlich all das leisten könne,
woran sie bisher gescheitert war. So meinte Michael
Kaser[14]: Echte Änderungen
der Koeffizienten erfordern so viele Wiederholungen, dass sie die
Planbüros normalerweise nicht bewältigen können, solange nicht mehr
Computer in der UdSSR allgemein verfügbar sind. Computer verschoben
jedoch nur den Grenzwert, bei dem die Planbürokraten in der Datenflut
erstickten. Computer beseitigen diese Grenze nicht. Tatsächlich sind
Computer vielmehr eine technische Basis für die Demokratisierung aller
Entscheidungen, weil jeder Computer dezentral die Zentralisierung aller
Daten ermöglicht. Mit dem Computer hat grundsätzlich jeder Zugang zu allen
gesellschaftlichen Daten - wenn diese nicht künstlich unter Verschluss
gehalten werden. Kapitalismus und
Sowjetsystem bedürfen und bedurften wie jede Klassengesellschaft vor ihnen
für die Zentralisierung und Auswertung der für Wirtschaft und Gesellschaft
wichtigen Informationen noch einer Personalisierung in Gestalt einer
zentralen Bürokratie- und Politikerklasse. Mindestens seit es
allgemein zugängliche Computer gibt, ist jedoch jede Bürokratie und jede
herrschende Klasse überflüssig geworden: Ökonomen und Manager könnten alle
ihre Erkenntnisse z. B. ins Internet stellen und jeder Einzelne von uns
hätte Zugang zu allen Daten, die für den Gang der Gesellschaft von
Bedeutung sind. PCs sind eine sachliche Grundlage für die Abschaffung
jeder herrschenden Klasse, seien es die Staatsbeamten und Berufspolitiker
im Kapitalismus oder die Planbürokraten im Sowjetsystem. Eine weitere
Grundlage dafür ist ein ständig steigendes Bildungsniveau der
Gesamtbevölkerung. In den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften
besteht kein Unterschied mehr zwischen dem Bildungsstand der Herrschenden
und dem der Beherrschten. Der Informationsvorsprung unserer Politiker- und
Managerklasse wird künstlich durch Monopolisierung von Informationen
durch Geheimhaltung aufrechterhalten. [1]
Zum
Beispiel in: Altvater, Elmar: Die Zukunft des Marktes. Ein Essay über die
Regulation von Geld und Natur nach dem Scheitern des real existierenden
Sozialismus. Münster 1991, S. 47f [2]
Karl
Marx, Das Kapital III. MEW 25, S. 271. [3]
Gemeinschaftliche
Produktion vorausgesetzt, bleibt die Zeitbestimmung natürlich wesentlich.
Je weniger die Zeit der Gesellschaft bedarf, um Weizen, Vieh etc. zu
produzieren, desto mehr Zeit gewinnt sie zu andrer Produktion, materieller
oder geistiger. Wie bei einem einzelnen Individuum hängt die Allseitigkeit
ihrer Entwicklung, ihres Genusses und ihrer Tätigkeit von Zeitersparung
ab. Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf.
Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S.
89. [4]
Karl
Marx, Das Kapital III. MEW 25, S. 828. [5]
Carr,
E.H. and Davies, R.W.: A History of Soviet Russia. Vol. 9 + 10:
Foundations of a Planned Economy (1926-1929) London 1. Ed. 1969, 9/10, S.
401. [6]
Carr,
E.H. and Davies, R.W.: A History of Soviet Russia. Vol. 9 + 10:
Foundations of a Planned Economy (1926-1929) London 1. Ed. 1969, , S.
519. [7]
Nove,
Alec: An Economic History of the U.S.S.R., Harmondsworth 1972,
S.
279. [8]
Bütow,
H. (Hrsg): Länderbericht Sowjetunion, 1988. S. 360. [9]
aus:
Buck, Trevor and Cole, John: Modern Soviet Economic Performance. Oxford
1987. S. 147f. [10]
aus:
Buck, Trevor and Cole, John: Modern Soviet Economic Performance. Oxford
1987. S. 147f. [11]
nach:
Bergson, Abram: Planning and Performance in Socialist Economics. The USSR
and Eastern Europe. Boston 1989, S. 126. [12]
Carr,
E.H. and Davies, R.W.: A History of Soviet Russia. Vol. 9 + 10:
Foundations of a Planned Economy (1926-1929) London 1. Ed. 1969,
Bd.
9/10, S. 434. [13]
Aspen
Strategy Group: The Soviet Challange in the Gorbachev Era. London 1989, S.
42. [14]
Wirtschaftspolitik
der Sowjetunion. Ideologie und Praxis. München 1970, S. 225. | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||