Vorwort

Die Geschichte der Sowjetunion ist in allen Lagern als Fehlentwicklung anerkannt. Wer jedoch meinte, der eigene politische Standpunkt würde durch den Zusammenbruch des Sowjetsystems gestärkt, war bald enttäuscht. Weder wurde das „Ende der Geschichte“ erreicht, noch erfüllte sich durch das Verschwinden der Sowjetunion die Hoffnung auf eine „Friedensdividende“ oder der Traum von dauernder Sozialpartnerschaft. Spätestens seit der krisenhaften Verfassung der Weltwirtschaft und dem offen ausgetragenen Konkurrenzstreit zwischen der Noch-Supermacht USA und der Bald-Weltmacht Europa wünschen sich immer mehr Leute die Zeiten des Kalten Krieges zurück, als die Welt übersichtlich in Gut und Böse aufgeteilt war.
Auf der anderen Seite bewiesen der Verlustschmerz und die Marginalisierung der sozialistischen und kommunistischen Traditionsparteien nach dem Ende der UdSSR, dass alle diese Parteien und Parteiansätze trotz gegenteiliger Beteuerungen und trotz aller Kritik an der Sowjetunion doch nur verwaiste Kinder und Enkel des Roten Oktober von 1917 waren.
Die sozialistische und kommunistische Parteilinke im Westen brauchte die Sowjetunion als Muster. Aber selten wurde die aktuelle Sowjetunion und nie die gesamte Geschichte der Sowjetunion von Westlinken als Vorbild akzeptiert. Jede marxistische Strömung, Gruppe oder Partei im Westen wählte sich einen besonderen historischen Abschnitt der Sowjetunion, der von ihr zum sozialistischen Modell verklärt wurde. Oder anders: Jede Geschichtsepoche der Sowjetunion fand im Westen einen politischen Resonanzboden, auf dem eine eigenständige marxistische Richtung erwuchs:
- Die Erinnerung an den nachrevolutionären Kriegskommunismus in Russland nährt den Trotzkismus bis heute;
- die „Neue Ökonomische Politik“ von 1921 bis 1928 mit ihrer Mischung von Staat und Markt blieb die heimliche Utopie von linken Sozialdemokraten;
- der „Stalinismus“ von 1930 bis 1952 wurde zum Vorbild aller Marxisten-Leninisten;
- die Reformversuche unter Chruschtschow wie unter Gorbatschow machten linken Intellektuellen Hoffnungen auf einen „menschlichen Sozialismus“;
- die Erstarrung und Vergreisung der nachstalinistischen Sowjetunion schlug mit ihrer beeindruckenden militärischen Macht noch alle westlichen „Realsozialisten“ in den Bann.
Auf diese Weise wurde das Sowjetsystem im Westen gleichermaßen idealisiert wie kritisiert. Indem jede dieser politischen Strömungen einen einzigen historischen Abschnitt aus der Gesamtentwicklung der Sowjetunion herausgriff und idealisierte, wurde anhand dieses modellhaften Teilstücks die ganze restliche Geschichte der UdSSR kritisiert und verworfen:
- Trotzkisten gehen davon aus, dass die sowjetische Bürokratie nach dem Tod Lenins eine Konterrevolution durchführte.
- Für demokratische Sozialisten und linke Sozialdemokraten ist Stalin der große Konterrevolutionär.
- Die Marxisten-Leninisten glauben, dass mit Chruschtschow eine Konterrevolution gegen die Anhänger Stalins siegte.
- Die heutige russische KP und die chinesische KP meinen, dass erst Gorbatschow eine Konterrevolution gegen den Sozialismus anführte.
Indem jede marxistische Strömung auf einen besonderen historischen Einzelabschnitt schaute, suchte und fand sie in der Sowjetunion politische Unterstützung für ihre politische Doktrin. Die ganze Geschichte der Sowjetunion erscheint jedoch erst recht als ein Wirrwarr von sich gegeneinander ausschließenden politischen Standpunkten, die sich gegenseitig widerlegen.
Die Rätsel, die die Moskauer Sphinx aufgab, haben ihre politische Brisanz verloren. Es macht keinen Sinn mehr, die Debatten zwischen Stalin und Trotzki, Stalin und Tito oder zwischen Chruschtschow und Mao zum x-ten Male zu deklamieren. Vielleicht ist jetzt endlich die Zeit gekommen, die ganze Geschichte der Sowjetunion zu begreifen.
            Ein wirkliches Begreifen muss jedoch handfestere Belege liefern als öffentliche Erklärungen von Staats- und Parteichefs. Karl Marx hatte in seiner Analyse und Kritik des Kapitalismus im „Kapital“[1] Äußerungen politischer Persönlichkeiten allenfalls zur Illustration und nicht zur wissenschaftlichen Beweisführung angeführt.
            Meine Kritik der politischen Ökonomie der Sowjetunion analysiert daher den Gang der sowjetischen Wirtschaftsgeschichte[2], um zu verstehen, warum kommen musste, was gekommen ist.

Wal Buchenberg, 31.03.2003

DISKUSSION



[1] Vergleiche: Wal Buchenberg (Hrsg.), Karl Marx: Das Kapital. Kurzfassung aller drei Bände. Verlag für Wissenschaft und Forschung. Berlin 2002. 444 Seiten.

[2] „sowjetisch“ und „Sowjet-“ wird hier allein in der Wortbedeutung verwendet: „die ehemalige Sowjetunion betreffend“ nach: Duden. Das Große Fremdwörterbuch. Mannheim 1994.