8. Das Sowjetsystem in
der historischen Kritik Die
Zahl der Kritiker des Sowjetsystems ist lang und es ist nicht möglich, sie
hier aufzuzählen. Daher soll nur auf ein paar Stereotypen dieser Kritik im
Folgenden noch kursorisch eingegangen werden. 8.1."Restauration
des Kapitalismus"
Seit der Polemik über
die Generallinie der kommunistischen Weltbewegung der Kommunistischen
Partei Chinas von 1963 wurde von Marxisten immer wieder behauptet, es sei
in der Sowjetunion der Kapitalismus restauriert worden. Niemand, der diese
These vertrat, konnte wesentliche ökonomische Unterschiede zwischen dem
Sozialismus (?) vor dieser Restauration und dem Kapitalismus (?) nach
dieser Restauration aufzeigen. Keiner, der diese These vertrat, konnte sie
wissenschaftlich mit Hilfe einer systematischen Kritik der politischen
Ökonomie begründen, wie sie Marx in seinen drei Bänden des Kapitals
ausgeführt hatte. Die Behauptung, die
Sowjetunion sei kapitalistisch gewesen, war keine sachliche
Feststellung, sondern eine polemische Verurteilung. Die Leute, die die das
behaupteten, stützten sich nicht auf eine zusammenhängende Analyse der
ökonomischen Verhältnisse, sondern auf die Aufzählung von Fällen illegaler
privater Bereicherung und auf die Textkritik von Stellungnahmen
sowjetischer Parteiführer, denen dann nur nachgewiesen wird, dass sie den
Sprachgebrauch von Marx und Engels verlassen haben. Wenn man nur die
Zeitungen und Zeitschriften der Sowjetunion aus den letzten Jahren
durchblättert, kann man eine Unmenge Beispiele dafür finden, dass in der
Gesellschaft der Sowjetunion nicht nur viele Elemente der alten
Ausbeuterklassen bestehen, sondern auch neue bürgerliche Elemente in
großer Zahl entstehen und sich die Klassendifferenzierung beschleunigt.
Werfen wir zuerst einen Blick auf die verschiedenartige Tätigkeit der
bürgerlichen Elemente aller Schattierungen in den volkseigenen Betrieben
der Sowjetunion. Die leitenden Funktionäre mancher Fabriken und ihr
Komplizen missbrauchen ihre Befugnisse, um mit den staatlichen
Betriebsanlage und Materialien Untergrund-Werkstätten zu erreichten und
eine private Produktion in Gang zu bringen... (Es folgen einige Fälle von
offenbar abgeurteilten Wirtschaftskriminellen) Diese Beispiele zeigen,
dass Fabriken, wo solche entartete Elemente hausen, zwar sozialistische
Betriebe heißen, in Wirklichkeit aber bereits zu kapitalistischen
Betrieben geworden sind, mit deren Hilfe diese Elemente sich
bereichern.[1] Wäre Karl Marx nach
dieser Methode in seinem Kapital vorgegangen, dann hätte er zu dem
Schluss kommen müssen, dass der Kapitalismus ein System der Betrüger und
Diebe sei schließlich sind das die häufigsten Delikte in diesem System.
Und was ist denn schon damit bewiesen, wenn einzelne Sowjetführer von
Profitinteresse oder Gewinnen daherredeten? Die Sowjetführer haben ihr
Wirtschaftssystem so wenig verstanden, wie die Kapitalisten den
Kapitalismus verstanden haben. Die Analyse eines Wirtschaftssystems lässt
sich nicht mit Textkritik erledigen. Die Sowjetwirtschaft
unter den Kapitalismus zu subsumieren ist nur eine Form der polemischen
Verurteilung und versteht nicht die besonderen ökonomischen Verhältnisse
in der Sowjetunion, sondern klagt sie nur an. Immerhin erfasst diese
Theorie den richtigen Aspekt, dass das Sowjetsystem auch eine
warenproduzierende Klassengesellschaft war, in der die Werktätigen
ausgebeutet wurden. Aber anders als im Kapitalismus diente die sowjetische
Warenproduktion nicht der privaten Bereicherung. 8.2.
"Staatsmonopolistische Wirtschaft" oder
"Staatskapitalismus"
Diese Theorie setzt
eine Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion logisch voraus.
Aber auch in dieser Begrifflichkeit werden die wesentlichen Unterschiede
der Sowjetwirtschaft im Vergleich zu westlichen staatsmonopolistischen und
staatskapitalistischen Erscheinungen verwischt. Zwar hatte z. B. der
deutsche Staatsapparat durch die Kriegswirtschaft im Ersten und im
Zweiten Weltkrieg große Teile der Produktion staatlich verwaltet, zwar
gibt es heute noch viele Staatsbetriebe wie die Bahn, die Post usw., aber
dieser Staatskapitalismus kann und will nicht auf die Kapitalisten
verzichten und ihn beherrscht als wirtschaftliche Haupttriebkraft das
kapitalistische Profitstreben. Das Sowjetsystem
wirtschaftete dagegen ganz ohne Kapitalisten und die Sowjetplaner hatten
nicht die Wertseite der Produktion, also die Profitsteigerung im Auge,
sondern mit der einseitigen Vermehrung der Produktionsmittel die
Gebrauchswertseite der gesellschaftlichen
Produktion. Tony Cliff, einer der
Vertreter dieser Theorie, findet in seiner Schrift (Staatskapitalismus in
Russland) nur oberflächliche Gemeinsamkeiten zwischen Sowjetsystem und
Kapitalismus wie Machtlosigkeit der Arbeiter, Akkordarbeit, Lohnspreizung
etc. Cliff geht nirgendwo auf die wesentlichen ökonomischen Unterschiede
zwischen sowjetischer und kapitalistischer Wirtschaft ein. Er kann darauf
nicht eingehen, weil er die Funktionsweise der Sowjetwirtschaft nicht im
Zusammenhang untersuchte. Bei dieser Theorie des
Staatskapitalismus in der UdSSR handelt sich ebenfalls nur um eine
polemische Verurteilung nicht um eine wissenschaftliche
Analyse. 8.3.
"Stalinismus"
Die Bezeichnung
Stalinismus sagt so viel und so wenig über die Sowjetwirtschaft wie
Fordismus über den Kapitalismus. Mit dem Begriff
Stalinismus weist man einem einzelnen Menschen die Schuld an
grundlegenden historischen Veränderungen zu - wie andere Chruschtschow die
Schuld für eine angebliche kapitalistische Restauration und wieder andere
Gorbatschow die Schuld für den Zusammenbruch des Sowjetsystems zuweisen
wollen. Mir ist ein Rätsel,
wie Leute, die sich auf Karl Marx berufen, eine solch oberflächliche
Erklärung für so grundlegende gesellschaftliche Veränderungen geben
können. Das gesamte Werk von Karl Marx ist eine permanente Widerlegung der
Theorie, dass große Männer die Geschichte machen: Meine Untersuchung
mündete in dem Ergebnis, dass Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder
aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen
Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen
Lebensverhältnissen wurzeln... Stalin ist nur ein
anderes Wort für den historischen Zufall, hinter dem die historischen
Notwendigkeiten verdeckt bleiben. Gab es zu Stalins Zeiten nicht auch
Menschen, die wie ein Gorbatschow dachten? Warum kamen damals diese frühen
Gorbatschows nicht an die Parteispitze? Gab es nicht zu Gorbatschows
Zeiten noch Stalinanhänger? Warum hatte die keine Chance mehr, an die
Macht zu kommen? Wer sich diese Fragen
nicht stellt, und wer nicht erklären kann, warum z.B. der Terror Stalins
nötig war für die Vernichtung des freien Bauerntums und den Aufbau der
sowjetischen Produktionsmittelindustrie in einer Zeit des Hungers und der
Entbehrungen in der Sowjetunion, der hat weder von Stalin noch von dem
Sowjetsystem etwas verstanden. 8.4.
"Kasernenkommunismus"
Die Bezeichnung
Kasernenkommunismus oder Kommandowirtschaft ist Journalistenjargon, der
zwar den allgegenwärtigen Despotismus der Sowjetwirtschaft richtig
herausgreift, aber gleichzeitig die Entscheidungen der Planungsbürokratie
als bloße Willkür hinstellt. In dieser
Ausdrucksweise hatten die Sowjetplaner scheinbar alle Freiheit in ihren
Planungen und Direktiven. So sitzt diese Begrifflichkeit noch dem
sowjetischen Mythos auf, der behauptet hat, dass sich in der Sowjetunion
die Politik in Gestalt der Kommunistischen Partei die Wirtschaft untertan
gemacht habe. Diese Kritik des
Sowjetsystems versuchte zu beweisen, dass ganz im Gegensatz zu diesem
Mythos jede grundlegende Entscheidung der Sowjetplaner von den Umständen
erzwungen war. Entgegen der Illusion, die die Sowjetplaner über sich und
ihr Handeln im Kopf hatten und die sie als Modell für die ganze Welt
hinstellten, war ihr Tun mehr oder minder von der jeweiligen
wirtschaftlichen Lage erzwungen. Wer das Sowjetsystem
als Kasernenkommunismus oder Kommandowirtschaft bezeichnet, begreift
weder diese wirtschaftlichen und historischen Zwänge, unter denen die
Sowjetplaner handelten, noch die innere Logik dieses Systems. Er begreift
weder die anfänglichen Erfolge der Sowjetwirtschaft noch die Notwendigkeit
seines Scheiterns. 8.5. "Zentrale
Planwirtschaft"
Auch dieser Begriff
macht sich an einem äußeren Schein fest. Der normale Sprachgebrauch eines
Satzes wie: Ich/wir plane/n, etwas zu tun weist schon durch die
Logik der Sprache darauf hin, dass Planung notwendig die Identität des
denkenden und handelnden Subjektes voraussetzt. Diese notwendige Einheit
von denkendem und handelndem Subjekt wurde im Sowjetsystem (wie in jeder
Klassengesellschaft) zerrissen:
In der UdSSR planten die produzierenden (handelnden) Subjekte
nicht, sie wurden verplant. Die planenden (denkenden) Subjekte dagegen
handelten nicht, das heißt im Sinne der Ökonomie, sie produzierten nicht,
sondern konsumierten nur. Das Sowjetsystem
stellte eine denkende/planende Minderheit der handelnden/produzierenden
und damit verplanten Mehrheit gegenüber. Die sowjetische Logik hieß:
Die da oben planen, was wir zu tun haben. Das war die Logik einer
Klassengesellschaft. Diese Logik bedeutet notwendig Herrschaft und
Unterdrückung, antagonistische Klassen und Anarchie. Überall, wo die
handelnden Produzenten im Sowjetsystem nach eigenen Vorstellungen
handelten, kamen sie den Vorschriften des Plans in die Quere. Die
Zentrale Planung verlangte von den Werktätigen den Verzicht auf eigenes
Denken und degradierte sie zu hirnlosen Produktionsmitteln, zu
Produktionsvieh. Insofern der Begriff
zentrale Planung der offene Ausdruck einer Klassengesellschaft ist, die
die herrschenden Planer den unterworfenen Produzenten gegenüberstellt, ist
auch in diesem Begriff ein Körnchen Wahrheit. Zentrale Planung
heißt immer und überall despotische Planung. Auch die alten
Babylonier mit ihrer Tempelwirtschaft hatten wie die Pharaonen und die
chinesischen Kaiser mit ihrer zentralverwalteten Wirtschaft eine zentrale
Planwirtschaft. Den despotischen
Charakter hatte das Sowjetsystem mit den ägyptischen Pharaonen und
chinesischen Kaisern gemeinsam. Allerdings wollten diese Zentralplaner der
Antike die patriarchalisch-bäuerliche Produktionsweise erhalten, während
die modernen Sowjetplaner die kleinbäuerliche und kleinbürgerliche
Produktionsweise zerstören wollten, um ihr Land zu industrialisieren und
zu modernisieren. 8.6. "Sowjetsystem" oder
sowjetische Produktionsweise
Alle linken Kritiker
des Sowjetsystems wollen die Sowjetunion in die marxistische Zwangsjacke
der historisch erlaubten Produktionsweisen (asiatische Produktionsweise
- Sklavenhaltersystem Feudalismus Kapitalismus Sozialismus) zwängen.
Diese Kritik der politischen Ökonomie des Sowjetsystems schlüpfte nicht in diese
Zwangsjacke und kam zu dem Ergebnis: Das Sowjetsystem war eine eigene
Produktionsweise mit eigenständigen Zielen und Methoden der Produktion und
Verteilung, auch wenn es gemeinsame Merkmale mit anderen Produktionsweisen
aufwies: - den Zentralismus der
asiatischen Produktionsweise; - die persönliche
Unfreiheit der Produzenten des Sklavensystem (sowjetische Arbeitslager)
und des Feudalismus (sowjetische Werktätige); - die Warenproduktion
des Kapitalismus; - der für die gesamte
Volkswirtschaft im Voraus geplante Einsatz der Ressourcen des
Sozialismus. Aber gleichzeitig wies
das Sowjetsystem typische und wesentliche Besonderheiten auf, die es von
jeder dieser historischen Produktionsweisen
unterschied. - die asiatische
Produktionsweise waren stabile Bauerngesellschaften, die kaum akkumulieren
konnten und wollten. Das Sowjetsystem war eine kurzlebige
Industriegesellschaft mit enormen
Akkumulationsraten. - Sklaven und
Leibeigene waren an
persönliche Besitzer gebunden, die sowjetischen Werktätigen hatten
keine persönlichen Besitzer. Ihr Besitzer war die Klasse der
Planbürokraten insgesamt. - Die Warenproduktion
des Kapitalismus umfasst die ganze Wirtschaft und ist nach dem
Profitprinzip organisiert. Die sowjetische Warenproduktion erfasste nur
die Konsumtionsmittelindustrie und war nicht vom Profitprinzip
beherrscht. - Anders als in einer
emanzipierten Gesellschaft ging die sowjetische Planung von einer kleinen
Minderheit aus, nicht von der gesamten Gesellschaft, nicht von den
wirklichen Produzenten. Die sowjetische Wirtschaft war nicht
selbstverwaltet und die sowjetischen Produzenten waren nicht
selbstbestimmt. Das Sowjetsystem war
eine eigene Produktionsweise, die eine nichtkapitalistische
Industrialisierung in einer agrarisch geprägten Gesellschaft
bewerkstelligte, indem die mit dem Staatsapparat verwachsene
Planer-Bürokratie durch ständige despotische Eingriffe die Wirtschaft auf
gesamtgesellschaftlicher wie auf betrieblicher Ebene
steuerte. Die ökonomischen
Vorteile, die das Sowjetsystem gegenüber dem Kapitalismus bot, nämlich die
volkswirtschaftliche Bündelung und Lenkung aller wirtschaftlichen
Ressourcen, fielen ins Gewicht, als diese Ressourcen in der Sowjetunion
relativ knapp waren und solange diese Ressourcen knapp waren. Aber diese
ökonomischen Vorteile des Sowjetsystems mussten erkauft werden mit der
Entmündigung und Bevormundung der wirklichen Produzenten, eine Despotie,
die bis zur Zwangsarbeit getrieben wurde. Der staatliche Terror als
Machterhalt wie als Produktivkraft ließ seit dem Tode Stalins nach, aber
die wohlmeinenden Despotie des Sowjetsystems musste dennoch in dem Maße
drückender werden, je mehr das Sowjetsystem die Wirtschaft entwickelte,
die Gesellschaft modernisierte und das Bildungsniveau der Werktätigen
hob. Verschärfte
Akkumulation für die beschleunigte Industrialisierung war das einzige und
das einzig sinnvolle Ziel des Sowjetsystems. Als die Industrialisierung
erreicht war, stürzte sich die Sowjetunion ohne inneres Ziel in
weltpolitische Abenteuer. Das Sowjetsystem hatte keine anderen Ziele und
löste keine anderen Aufgaben als der Kapitalismus in den entwickelten
Gesellschaften des Westens: - Vereinfachung der
Klassenverhältnisse durch Enteignung der traditionell selbständigen
Produzenten (Bauern, Handwerker, Freiberufler) und ihre Verwandlung in
gesellschaftliche Teilarbeiter, deren Arbeit nur kombiniert wirken
kann; - Hebung des
Bildungsniveaus aller Werktätigen, Annäherung und Verbindung von Kopf- und
Handarbeit im kooperativen Arbeitsprozess. -
Verwissenschaftlichung der gesellschaftlichen
Produktion; - Vereinfachung aller
Leitungstätigkeiten in Wirtschaft und Gesellschaft; - kurz: Entwicklung
der gesellschaftlichen Produktionskräfte. Das Versprechen der
Emanzipation der Arbeiter, konnte das Sowjetsystem und die russische
Revolution ebenso wenig einlösen wie die Französische Revolution und der
Kapitalismus ihr Versprechen von Gleichheit, Freiheit,
Brüderlichkeit. Das Sowjetsystem ist
mit der Sowjetunion zusammengebrochen als es seine inneren
Entwicklungsgrenzen erreicht und überschritten hatte. Das kapitalistische
System hat bewiesen, dass es krisenfester ist. Der Kapitalismus wird nicht
wie das Sowjetsystem kollabieren. Er kann nur von der lohnabhängigen
Mehrheit der Gesellschaft abgeschafft werden als Schritt zu einer freien
Gesellschaft von selbstbestimmt Arbeitenden. Wal Buchenberg, im
April 2003
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