Hand- und Kopfarbeit

 

1. Dass Lohnarbeit nur Handarbeit sei und Kopfarbeiter keine Lohnarbeiter, ist ein tiefverwurzeltes Vorurteil

1.1. Jacob Grimm dachte 1854 bei Arbeiterklasse vorzugsweise an Handarbeiter: unter den arbeitern, der arbeitenden klasse denkt man sich vorzugsweise handarbeiter im haus, im felde, in den fabriken, das gesinde. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 1, Leipzig 1854, 543.

 

1.2. Eduard Bernstein und Karl Kautsky Freunde und Schüler von Friedrich Engels sprachen im 20. Jahrhundert von klassenlosen Intellektuellen: Die Ideologen haben aufgehört, eine herrschende Klasse zu sein. Sie haben aber überhaupt aufgehört, eine zusammenhängende Klasse mit besonderen Klasseninteressen darzustellen. Sie bilden einen Haufen von Individuen und Koterien (Klüngel) mit den verschiedensten Interessen. Wie schon öfter bemerkt, berühren sich diese Interessen zum Teil mit denen der Bourgeoisie, zum Teil mit denen den Proletariats.

Dabei befähigt sie ihre Bildung, am ehesten einen höheren Standpunkt in der Betrachtung der sozialen Entwicklung zu gewinnen. K. Kautsky, Bernstein und die materialistische Geschichtsauffassung. Neue Zeit, 1898/99, Bd. 2, 416. Zit. n. Friedemann, Peter, Materialien zum politischen Richtungsstreit in der deutschen Sozialdemokratie 18901917. Frankfurt 1978, 408.

 

1.3. Lenin rechnete dagegen die Intelligenz zur Kapitalistenklasse: Wir haben gesagt, dass die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewusstsein gar nicht haben konnten. Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden. ... Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden. Auch die Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, gehörten ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Intelligenz an. W. I. Lenin, Was tun? Ausgew. Werke in drei Bänden, Band I, Berlin 1961, 166.

 

2. Vom unabhängigen Gelehrten zum Lohnarbeiter

2.1. Auch Karl Marx hatte zunächst den selbständigen Privat-gelehrten, einen Angehörigen des traditionellen Mittelstandes und nicht der Kapitalistenklasse, vor Augen:

Z. B. in der Wissenschaft kann ein ,Einzelner die allgemeine Ange-legenheit vollbringen, und es sind immer Einzelne, die sie vollbringen. K. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW 1, 267.

Allein auch wenn ich wissenschaftlich etc. tätig bin, eine Tätigkeit, die ich selten in unmittelbarer Gemeinschaft mit anderen ausführen kann, so bin ich gesellschaftlich, weil als Mensch tätig. Nicht nur das Material meiner Tätigkeit ist mir wie selbst die Sprache, in der der Denker tätig ist als gesellschaftliches Produkt gegeben, mein eigenes Dasein ist gesellschaftliche Tätigkeit; darum das, was ich aus mir mache, ich aus mir für die Gesellschaft mache und mit dem Bewusstsein meiner als eines gesellschaftlichen Wesens. K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW 40, 538.

Siehe den Artikel: Selbständige

 

2.2. In seiner Analyse der kapitalistischen Produktionsweise ging Karl Marx über den Einzelnen als Gelehrten hinaus.

Eine kritische Geschichte der Technologie würde überhaupt nachwei-sen, wie wenig irgendeine Erfindung des 18. Jahrhunderts einem einzelnen Individuum gehört. K. Marx, Kapital I, MEW 23, 392 Anm. 89.

 

Die fremde Wissenschaft wird dem Kapital einverleibt wie fremde Arbeit. K. Marx, Kapital I, MEW 23, 407f. Anm. 108.

 

 Die Bourgeosie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt. K. Marx, Kommunistisches Manifest, MEW 4, 465.

Kapitalistische Aneignung und persönliche Aneignung ... von Wissenschaft ... sind aber ganz und gar disparate Dinge.

Der britische Ökonom Dr. Ure selbst bejammerte die grobe Unbekanntschaft seiner lieben, Maschinen ausbeutenden Fabrikanten mit der Mechanik, und Liebig weiß von der haarsträubenden Unwissenheit der englischen chemischen Fabrikanten in der Chemie zu erzählen. K. Marx, Kapital I, MEW 23, S. 407f. Anm. 108.

 

Die geistigen Arbeiten selbst vollziehen sich mehr und mehr ... im Dienst der Bourgeoisie ..., (treten) in den Dienst der kapitalistischen Produktion .... K. Marx, Theorien über produktive und unproduktive Arbeit, MEW 26.1, 274.

 

3. Menschliche Arbeit verbindet Hand und Kopf

Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eigenes Leben brauchbaren Form anzueignen. K. Marx, Kapital I, MEW 23, 192.

Wie im Natursystem Kopf und Hand zusammengehören, vereint der Arbeitsprozess Kopfarbeit und Handarbeit. K. Marx, Kapital I, MEW 23, 531.

Arbeit ist ... produktive Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw. ... K. Marx, Kapital I, MEW 23, 58.

Für die Zugehörigkeit zur Lohnarbeiterklasse spielt es keine Rolle, welchen Körperteil man überwiegend an die Kapitalisten verkauft: die Stimmbänder als Sänger, die Füße als Fußballer, die Hände als Handarbeiter oder den Kopf als Kopfarbeiter. Bei allen menschlichen Arbeiten wird mehr oder minder der ganze Körper eingesetzt und vernutzt.

... Wie verschieden die nützlichen Arbeiten oder produktiven Tätigkeiten sein mögen, es ist eine physiologische Wahrheit, dass sie Funktionen des menschlichen Organismus sind und dass jede solche Funktion, welches immer ihr Inhalt und ihre Form, wesentlich Verausgabung von menschlichem Hirn, Nerv, Muskel, Sinnesorgan usw. ist. K. Marx, Kapital I, MEW 23, 85.

Siehe auch den Artikel: Arbeit

 

3.1. Hoch und niedrig qualifizierte Arbeit

Ökonomisch wichtig ist jedoch die Scheidung der Arbeiter in geschickte und ungeschickte, bzw. in komplizierte Arbeit und einfache Arbeit (K. Marx, Kapital I, MEW 23, 59), das heißt qualifi-ziertere und unqualifizierte Arbeit: Neben die hierarchische Ab-stufung tritt die einfache Scheidung der Arbeiter in geschickte und ungeschickte. (K. Marx, Kapital I, MEW 23, 371.)

 

In der Marxschen Unterscheidung von einfacher und komplizierter Arbeit verschwinden alle Unterschiede von Kopf- und Handarbeit.

In Deutschland haben derzeit von allen Erwerbstätigen rund 25 % keinen Berufsabschluss (niedrig qualifizierte Arbeitskraft = einfache Arbeit), 63 % einen Berufsabschluss (normal qualifizierte Arbeitskraft = mittel-komplizierte Arbeit), 12 % einen Hochschulabschluss (höher qualifizierte Arbeitskraft = höher-komplizierte Arbeit). In den letzten 100 Jahren ist der Bildungsstand der Lohnarbeiter ständig gestiegen.

Entsprechend der Marxschen Werttheorie schafft höher qualifizierte oder komplizierte Arbeit auch höheren Wert und damit größeren Mehrwert für das Kapital.

 

Kompliziertere Arbeit gilt nur als potenzierte oder vielmehr multi-plizierte einfache Arbeit, so dass eine kleinere Menge komplizierter Arbeit gleich einem größeren Quantum einfacher Arbeit. K. Marx, Kapital I, MEW 23, 59.

Karl Marx sagte an anderer Stelle: Ist die Arbeit eines Goldschmieds teurer als die eines Arbeiters, so ist die Mehrarbeitszeit des Goldschmieds im selben Verhältnis teurer als die des Ungelernten. K. Marx, Theorien über den Mehrwert II, MEW 26.2, 386.

 

Andererseits sind die Ausbildungs- und Reproduktionskosten dieser Arbeitskraft höher, sie muss also auch mit höherem Lohn bezahlt werden. Ihr höherer Lohn ist daher keineswegs Ausdruck einer geringeren Ausbeutung als bei ihren weniger qualifizierten Kollegen. ... Ich muss diese Gelegenheit zu der Feststellung benutzen, dass, genauso wie die Produktionskosten für Arbeitskräfte verschiedener Qualität nun einmal verschieden sind, auch die Werte der in verschiedenen Geschäftszweigen beschäftigten Arbeitskräfte verschie-den sein müssen. Der Ruf nach Gleichheit der Löhne beruht daher auf einem Irrtum, ist unerfüllbarer, törichter Wunsch. K. Marx, Lohn, Preis und Profit, MEW 16, 131.

Höher qualifizierte Lohnarbeiter kosten also das Kapital mehr Lohn, liefern aber auch in der Regel größeren Mehrwert: ... Unterschiede ... in der Höhe des Arbeitslohns beruhen großenteils auf dem schon im Eingang zu Buch I, S. 59 erwähnten Unterschied zwischen einfacher und komplizierter Arbeit und berühren, obgleich sie das Los der Arbeiter in verschiedenen Produktionssphären sehr verungleichen, keineswegs den Ausbeutungsgrad der Arbeit in diesen verschiedenen Sphären.

Wird z. B. die Arbeit eines Goldschmieds teurer bezahlt als die eines Taglöhners, so stellt die Mehrarbeit des Goldschmieds in demselben Verhältnis auch größeren Mehrwert her als die des Taglöhners. K. Marx, Kapital III, MEW 25, 151.

Heute müssen wir sagen: Wird die Arbeit einer Lufthansapilotin teurer bezahlt als die einer Stewardess, so stellt die Mehrarbeit der Pilotin für die Lufthansakapitalisten in demselben Verhältnis auch größeren Mehrwert her als die der Stewardess.

Siehe auch die Artikel: Arbeiterklasse, Wert der Arbeitskraft, Lohnarbeit

 

3.2. Besonderheiten der lohnabhängigen Kopfarbeit

Meist ist lohnabhängige Kopfarbeit für das Kapital qualifiziertere oder komplizierte Arbeit. Wie jedoch die Werkzeugmaschinen die Dequalifizierung der Großzahl der geschickten Handwerker brachten, so erzwingen heute Computer die Dequalifizierung der Großzahl der Kopfarbeiter.

 

2.2.1. Ein Kopf-Lohnarbeiter kann einerseits für das Kapital fertige Produkte herstellen wie der Lehrer gedrillte Schülerköpfe an einer Privatschule herstellt: Steht es frei, ein Beispiel außerhalb der Sphäre der materiellen Produktion zu wählen, so ist ein Schulmeister produktiver Arbeiter, wenn er nicht nur Kinderköpfe bearbeitet, sondern sich selbst abarbeitet zur Bereicherung des Unternehmers. Dass letzterer sein Kapital in einer Lehrfabrik angelegt hat, statt in einer Wurstfabrik, ändert nichts an dem Verhältnis. K. Marx, Kapital I, MEW 23, 532.

 

2.2.2. Andererseits kann Kopfarbeit als notwendige Teilarbeit in die kombinierte Arbeit des produktiven Gesamtarbeiters eines Unternehmens oder der ganzen Gesellschaft eingehen: Alle intellektuellen Arbeiten, die direkt in der materiellen Produktion konsumiert werden, schloss Karl Marx ganz wie Adam Smith, natürlich ein in die Arbeit, die sich fixiert und sich realisiert in einer käuflichen und austauschbaren Ware ... Nicht nur der direkte Handarbeiter oder Maschinenarbeiter, sondern Aufseher, Ingenieur, Manager, Commis (= Geschäftsführer) etc., kurz die Arbeit des ganzen Personals, das in einer bestimmten Sphäre der materiellen Produktion nötig ist, um eine bestimmte Ware zu produzieren, dessen Zusammenwirken von Arbeiten (Kooperation) notwendig zur Herstellung der Waren ist. In der Tat fügen sie dem konstanten Kapital ihre Gesamtarbeit hinzu und erhöhen den Wert des Produkts um diesen Betrag. K. Marx, Theorien über produktive und unproduktive Arbeit, MEW 26.1, 134.

 

An anderer Stelle erklärte Marx ebenso unmissverständlich: Mit der Entwicklung der spezifisch kapitalistischen Produktion wo viele Arbeiter an der Produktion derselben Ware zusammenarbeiten, muss natürlich das Verhältnis, worin ihre Arbeit unmittelbar zum Gegenstand der Produktion steht, sehr verschieden sein.

Z. B. die ... Handlanger in einer Fabrik haben nichts direkt mit der Bearbeitung des Rohstoffs zu tun. Die Arbeiter, die die Aufseher der direkt mit dieser Bearbeitung zu tun Habenden bilden, stehen einen Schritt weiter ab; der Ingenieur hat wieder ein anderes Verhältnis und arbeitet hauptsächlich nur mit seinem Kopfe etc.

Aber das Ganze dieser Arbeiter, die Arbeitsvermögen von verschiedenem Werte besitzen, ... produzieren das Resultat, das sich ... in Ware oder einem materiellen Produkt ausspricht; und alle zusammen ... sind die lebendige Produktionsmaschine dieser Produkte, wie sie, den gesamten Produktionsprozess betrachtet, ihre Arbeit gegen Kapital austauschen und das Geld der Kapitalisten als Kapital reproduzieren, d. h. als sich verwertenden Wert, sich vergrößernden Wert.

Es ist ja eben das Eigentümliche der kapitalistischen Produktionsweise, die verschiedenen Arbeiten, also auch die Kopf- und Handarbeiten oder die Arbeiten, in denen die eine oder die andere Seite vorwiegt, zu trennen und an verschiedene Personen zu verteilen, was jedoch nicht hindert, dass das materielle Produkt das gemeinsame Produkt dieser Personen ist oder ihr gemeinsames Produkt in materiellem Reichtum vergegenständlicht; was andererseits ebenso wenig hindert oder gar nichts daran ändert, dass das Verhältnis jeder einzelnen dieser Personen das des Lohnarbeiters zum Kapital und in diesem eminenten Sinn das des produktiven Arbeiters ist. Alle diese Personen sind nicht nur unmittelbar in der Produktion von materiellem Reichtum beschäftigt, sondern sie tauschen ihre Arbeit unmittelbar gegen das Geld als Kapital aus und reproduzieren daher unmittelbar außer ihrem Lohn einen Mehrwert für den Kapitalisten. Ihre Arbeit besteht aus bezahlter Arbeit plus unbezahlter Mehrarbeit. K. Marx, Theorien über produktive und unproduktive Arbeit, MEW 26.1, 386f.

 

Gesamtarbeiter ist der wissenschaftliche Begriff für die produktive Lohnarbeiterklasse, das moderne Proletariat. Marx sprach daher vom Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, d. h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter oder der Arbeiterklasse. K. Marx, Kapital I, MEW 23, 249.

Indem die moderne Lohnarbeit ihren kooperativen, d. h. gesellschaftlichen, Charakter entfaltete und auf immer mehr Gesellschaftsmitglieder verteilt wurde, verschwand notwendig das traditionelle und enge Arbeitermilieu, dem allein unsere Linken hinterhertrauern.

Dass die überwiegende Handarbeit immer mehr an Bedeutung verlieren wird, hatte Marx erkannt: Das entwickelte Prinzip des Kapitals ist gerade, das besondere Geschick überflüssig zu machen und die Handarbeit, die unmittelbar körperliche Arbeit überhaupt als geschickte Arbeit sowohl, wie als Muskelanstrengung überflüssig zu machen; das Geschick vielmehr in die toten Naturkräfte zu legen. K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 482.

 

Siehe auch den Artikel:

Immaterielle Produktion

 

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Zur Zitierweise:

Wo es dem Verständnis dient, wurden veraltete Fremdwörter, alte Maßeinheiten und teilweise auch Zahlenbeispiele zum Beispiel in Arbeitszeitberechnungen modernisiert und der Euro als Währungseinheit verwendet. Dass es Karl Marx in Beispielrechnungen weder auf absolute Größen noch auf Währungseinheiten ankam, darauf hatte er selbst hingewiesen: Die Zahlen mögen Millionen Mark, Franken oder Pfund Sterling bedeuten. Kapital II, MEW 24, 396.

Alle modernisierten Begriffe und Zahlen sowie erklärende Textteile, die nicht wörtlich von Karl Marx stammen, stehen in kursiver Schrift. Auslassungen im laufenden Text sind durch drei Auslassungspunkte kenntlich gemacht. Hervorhebungen von Karl Marx sind normal fett gedruckt. Die Rechtschreibung folgt der Dudenausgabe 2000. Quellenangaben verweisen auf die Marx-Engels-Werke, (MEW), Berlin 1956ff.