Die Sozialstaatlüge
Zur politischen Ökonomie des kapitalistischen Staates
Vorbemerkung
Aus der
Grafik wird ersichtlich, wie sehr der Umfang der Rentenversicherung an den
sogenannten Sozialausgaben wie am gesamten Staatshaushalt zugenommen hat.
Die Rentenversicherung stellt mit rund 40 % der Sozialausgaben den größten
Posten, dann folgen die Krankenkassen mit 36%. Von 100 Euro Sozialausgaben
werden 76 Euro von den Renten- und Krankenkassen bestritten. Es folgen mit
deutlichem Abstand 12 Euro für "Ehe und Familie" und 8 Euro für
"Arbeitsmarkt" und Arbeitslosigkeit. Der materielle Kern des
Sozialstaats sind die Renten- und Krankenversicherungen. Die ökonomischen
Mechanismen, die diese Ausgabenposten bestimmen, bestimmen auch den
"Sozialstaat".
Es ist unübersehbar, dass der "Sozial-" oder
"Wohlfahrtsstaat" sich bei allen unseren staatstragenden bis
staatsgläubigen Parteien und Politikern größter Beliebtheit erfreut.
CDU-Kanzler Ludwig Erhard gab zum Besten: "Die soziale
Sicherheit ist das Werk der Union." Die SPD behauptete ebenso, der
Wohlfahrtsstaat sei "die große
historische Leistung der Sozialdemokratie..."
Wer nicht von sich
behauptet, Erfinder des Sozialstaats zu sein, der tritt als sein Retter
auf. Das PDS-Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2002 verkündete: "Soziale
Sicherheit bleibt für die PDS eine unverzichtbare eigenständige Aufgabe in
einem demokratischen Staat." Und linke Miniparteien wie die
1997 gegründete "Partei für soziale Gleichheit" beklagen in ihrem
Programm: "Der
Sozialstaat wird seit Jahren pausenlos abgebaut."
Kein Partei- oder Aktionsprogramm,
in dem nicht erklärte Vertreter
des Kapitals ebenso wie selbsternannte Vertreter der "sozial Schwachen"
"unseren" Sozialstaat "sichern", "retten" oder "ausbauen" wollen.
Wem
gehört nun "unser" Sozialstaat und welche Interessen bedient
er?
In der folgenden Kritik der politischen Ökonomie des
kapitalistischen Staates werden erst die historischen Voraussetzungen der
modernen Sozialgesetzgebung in vor- und frühkapitalistischen
Gesellschaften dargestellt.
Es folgt ein Überblick über die Entwicklung
der staatlichen Zwangsversicherungen von Bismarck über Hitler bis Adenauer
& Co.
Im systematischen zweiten Teil werden die ökonomischen
Mechanismen der unserer Rentenversicherung analysiert und es wird darauf
eingegangen, warum eine steuerfinanzierte Grundrente keine Verbesserung
bringt.
Zum Schluss beleuchtet ein Exkurs noch Kosten und Nutzen der
Arbeitslosenversicherung anhand der Haushaltszahlen von
2003.
Selbst Sozialbürokraten vom Fach durchblicken nur noch mit
Mühe das bestehende Gestrüpp der Sozialgesetzgebung. Ein bisschen Geduld
müssen die Leser für diese Untersuchung schon aufbringen.
1. Armenfürsorge in vor- und
frühkapitalistischen Gesellschaften
1.1. Armenfürsorge in
vorkapitalistischer Zeit war Aufgabe der Besitzenden, nicht des
Staats
a) In vorkapitalistischen Gesellschaften waren die
Mehrzahl der Gesellschaftsmitglieder kleine Eigentümer (Bauern und
Handwerker) oder als leibeigene Bauern die Bearbeiter kleiner Landstücke,
deren Nutznießung vererbt wurde.
Zur Eigenvorsorge für Notzeiten
mussten diese kleinen Besitzer ihren Besitzstand so verwalten, dass sie in
guten Zeiten für schlechte Zeiten ansparen konnten. Wer das nicht
schaffte, hatte immer noch seinen Besitz als Pfand zur Veräußerung oder
Vererbung. Die Altersversorgung wurde familienintern zwischen den
Alten und ihren Erben zu dem Zeitpunkt detailliert geregelt, wo den Erben
der Familienbesitz übertragen wurde. Die nachfolgende Generation wurde mit
der Übertragung des Familienbesitzes für den Aufwand der anschließenden
Altersversorgung entschädigt. Ein solcher privater Erbvertrag spukt durch
die Hinterköpfe der Leute, die beim heutigen, völlig anders gearteten
Rentensystem von einem "Generationenvertrag" sprechen.
b)
Die Fürsorge
für
familienexterne Arme war in vorkapitalistischer Zeit nicht eine öffentliche
Aufgabe von staatlichen Strukturen, sondern die private Aufgabe der
Besitzenden. "Die einfachste
Form der Armenfürsorge bestand darin, dass jeder Hof eine ihm angemessene
Anzahl von Bedürftigen am Tisch essen und in der Scheune übernachten
lassen musste. ... Man bestimmte Almosen und Spenden für besondere
Anlässe, bei speziellen Feiern waren genau festgelegte Gerichte
auszugeben, und die Almosen blieben mehr und mehr einem zeremoniell
ausgewählten Personenkreis vorbehalten...".
Ökonomisch handelte es sich in
vorkapitalistischer Zeit darum, dass die Besitzenden freiwillig oder
nicht einen bestimmten Teil ihres Reichtums an die Armen abgaben.
Um gleich möglichen
Missverständnissen vorzubeugen: Das heutige Sozialsystem beruht auf völlig
anderen Prinzipien: Heute zahlen keineswegs die Kapitalisten aus ihrem
Überfluss für die "sozial Schwachen", sondern die Kosten der normalen
Lohnarbeits-Risiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Altersarmut werden
durch staatliche Zwangsversicherungen auf die Gesamtheit der Lohnarbeiter
verteilt. In vorkapitalistischer Zeit gaben die Reichen den Armen, in
unserer kapitalistischen Zeit geben die potentiell Bedürftigen den aktuell
Bedürftigen.
1.2. Im
Frühkapitalismus übernahmen lokale Staatsorgane das Management der
Armenfürsorge
Mit dem Anwachsen der kapitalistischen
Warengesellschaft und des Geldverkehrs seit dem 16. Jahrhundert stieg die
Zahl der Besitzlosen und Armen sprunghaft. "Die ökonomische Struktur der
kapitalistischen Gesellschaft ist hervorgegangen aus der ökonomischen
Struktur der feudalen Gesellschaft. Die Auflösung dieser hat die Elemente
jener freigesetzt.
Der unmittelbare Produzent, der Arbeiter, konnte
erst dann über seine Person verfügen, nachdem er aufgehört hatte, an die
Scholle gefesselt und einer anderen Person leibeigen oder hörig zu
sein.
Um freier Verkäufer von Arbeitskraft zu werden, der seine Ware
überall hinträgt, wo sie einen Markt findet, musste er ferner der
Herrschaft der Zünfte, ihren Lehrlings- und Gesellenordnungen und
hemmenden Arbeitsvorschriften entronnen sein.
Somit erscheint die
geschichtliche Bewegung, die die Produzenten in Lohnarbeiter verwandelt,
einerseits als ihre Befreiung von Dienstbarkeit und Zunftzwang; und diese
Seite allein existiert für unsere bürgerlichen
Geschichtsschreiber.
Andererseits
werden diese Neubefreiten erst Verkäufer ihrer selbst, nachdem ihnen alle
ihre Produktionsmittel und alle durch die alten feudalen Einrichtungen
gebotenen Garantien ihrer Existenz geraubt sind. Und die Geschichte dieser
ihrer Enteignung ist in die Annalen der Menschheit eingeschrieben mit
Zügen von Blut und Feuer."
Angesichts dieser "Armenflut" übernahmen
Städte und Gemeinden, also öffentlich-staatliche Strukturen, eine leitende
Rolle in der Armenfürsorge.
"Die durch Auflösung der feudalen
Gefolgschaften und durch stoßweise, gewaltsame Enteignung von Grund und
Boden Verjagten, dies vogelfreie Proletariat konnte unmöglich ebenso rasch
von der aufkommenden Manufaktur absorbiert werden, als es auf die Welt
gesetzt ward.
Andererseits konnten die plötzlich aus ihrer
gewohnten Lebensbahn Herausgeschleuderten sich nicht ebenso plötzlich in
die Disziplin des neuen Zustandes finden. Sie verwandelten sich massenhaft
in Bettler, Räuber, Vagabunden, zum Teil aus Neigung, in den meisten
Fällen durch den Zwang der Umstände. Ende des 15. und während des ganzen
16. Jahrhunderts gab es daher in ganz Westeuropa eine Blutgesetzgebung
wider Vagabundenwesen. Die Väter der jetzigen Arbeiterklasse wurden
zunächst gezüchtigt für die ihnen angetane Verwandlung in Vagabunden und
Arme. Die Gesetzgebung behandelte sie als 'freiwillige Verbrecher und
unterstellte, dass es von ihrem guten Willen abhinge, in den nicht mehr
existierenden alten Verhältnissen fortzuarbeiten."
Die staatlichen "Reformen ...
setzten immer die gleichen Methoden ein man erstellte Listen der
Bedürftigen, vertrieb die meisten davon als Vagabunden, bestimmte die zu
unterstützenden Bettler und markierte sie, brachte Asyle und Heime unter
die zentrale Aufsicht der städtischen Behörden und sicherte die
Finanzierung der Maßnahmen, meist durch Sonderabgaben. Anzufügen ist, dass
es Bürgern ungefähr gleichzeitig verboten wurde, den Armen direkt Almosen
zu geben oder Obdachlose aus eigenem Antrieb anzunehmen."
Das elisabethanische
Armengesetz von 1601 "regelte die Höhe
der Unterstützung für Bedürftige und die Beihilfe für körperlich kräftige
Arme, und jede Gemeinde musste von ihren Grundbesitzern eine angemessene
Armenabgabe erheben. ... Mittellose Personen wurden der Obhut ihrer Wohn-
und Geburtsorte unterstellt; Gemeinden durften jeden, der ihnen 'zur Last
fallen' konnte, ausweisen oder an seinen Herkunftsort abschieben."
Wer sich nicht
ausweisen ließ, wurde mit dem Henker bedroht und mit dem Arbeitshaus
"belohnt". "Die neue
Erfindung war das Arbeitshaus. Alle körperlich tüchtigen Landstreicher
sollten darin interniert werden. Wer darauf einging, galt gleichzeitig als
anständiger Armer und wurde mit Broterwerb und Unterkunft belohnt; wer
sich jedoch verweigerte, bewies seine Faulheit, hatte es also verdient,
mit Zwangsarbeit oder mit Entzug jeglicher Unterstützung bestraft zu
werden."
"So wurde das von Grund und Boden gewaltsam
enteignete, verjagte und zum Vagabunden gemachte Landvolk durch
grotesk-terroristische Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit
notwendige Disziplin hineingepeitscht, hineingebrandmarkt,
hineingefoltert."
Zwar übernahmen in diesen
frühkapitalistischen Verhältnissen kommunale und landesweite Staatsorgane
das Management der massenhaft gewordenen "Armenplage", aber die
Besitzenden mussten noch immer materiell für die Armen aufkommen.
Allerdings lieferte die Staatsbürokratie dafür den Besitzenden einen
wichtigen Vorteil: "Es ging ... um
den Schutz der Bürgerschaft vor den Bettlern". Neben die behördliche
Fürsorge für Armen trat die polizeiliche Vorsorge vor den Armen. Der Staat
produzierte durch seine Armenpolitik für den Besitz und die Besitzenden
"soziale Sicherheit".
Im Maße, wie sich Warenproduktion und
kapitalistische Lohnverhältnisse herausbildeten, kam ein
arbeitsmarktpolitisches Element zur staatlich organisierten Armenfürsorge
hinzu: "Wenn die Lyoner Seidenbranche kriselte, öffnete die
Charitι in der Tat ihre Tore für die Arbeiter und ernährte sie, bis das
Geschäft wieder besser ging. So sollte verhindert werden, dass sie in
andere Länder abwanderten und Branchengeheimnisse preisgaben. Das Asyl
musste also reizvoller sein als die Emigration, bei Bedarf aber auch
härter als die Arbeit erscheinen."
Die öffentlich-staatliche
Übernahme der Lebenshaltungskosten für konjunkturell Arbeitslose brachte
für das Kapital einen merklich lohnsenkenden Effekt: Der Lohn, den die
Kapitalisten zahlen, muss das Ansparen für konjunkturelle Krisen nicht
mehr einschließen. Für solche kurzzeitigen Notzeiten gab es nun ein
öffentliches "soziales Netz", in das die Kapitalisten ihre konjunkturell
überschüssigen Lohnarbeiter fallen lassen. Das "soziale Netz" vermindert
Geschäftsrisiken und -Kosten für das Kapital.
In dieser
frühkapitalistischen, staatlich organisierten, aber von den Besitzenden
finanzierten Armenfürsorge sind schon fast alle wesentlichen Elemente des
modernen Sozialstaats entwickelt:
- bürokratische Erfassung und
Überwachung der Armen,
- staatliche Stellen sammeln und verwalten den
Fonds für Armenfürsorge, also
- Reduzierung der Sozialausgaben auf das
Mindestmaß,
- bürokratische Schikanen vor der Bestimmung der
"Bedürftigkeit",
- bürokratische Schikanen vor der Leistungsvergabe an
die behördlich zugelassenen Bedürftigen,
- offener und versteckter
Arbeitszwang für Arbeitsfähige,
- polizeiliche Verfolgung und
Vertreibung all derjenigen, die sich nicht anpassen und unterordnen lassen
(Asoziale, Asylanten, Immigranten).
Mit der behördlichen
Erfassung der Armen, begann auch schon der staatlich organisierte
statistische Betrug, mit dem das wahre Ausmaß der Armut in der
Gesellschaft vertuscht werden muss - sowohl um die öffentlichen Kosten für
Armenfürsorge möglichst zu senken, als auch aus Sorge um die "soziale
Sicherheit" der kapitalistischen Profitproduktion.
"Bei Analyse der Armenstatistik sind zwei Punkte
hervorzuheben. Einerseits spiegelt die Bewegung im Ab und Zu der
Armenmasse die periodischen Wechselfälle des industriellen Zyklus wider.
Andererseits lügt die offizielle Statistik mehr und mehr über den
wirklichen Umfang der Armut ..." Von der modernen Armut
in den kapitalistischen Kernländern erfährt man in unseren Zeitungen,
Zeitschriften, Büchern und Fernsehprogrammen wenig. Über die Armut in der
Dritten Welt wird gerne berichtet, weil man so tun kann, als werde diese
Armut mit der Ausweitung kapitalistischer Warenproduktion und Lohnarbeit
beseitigt.
2.
Armenfürsorge in kapitalistischen Gesellschaften
In
kapitalistischen Gesellschaften, in denen die Masse der Bevölkerung
besitzlos, also lohnabhängig ist, gab und gibt es folgende Optionen der
Armenfürsorge:
- Massenelend ohne organisierte Armenfürsorge,
-
freiwillig-kollektive Eigenvorsorge durch private Hilfskassen und
Versicherungen
- zwangsweise-staatliche Vorsorge durch eine staatliche
Zwangsversicherung.
Diese drei Optionen wurden auch historisch in
dieser Reihenfolge "erprobt" und der dritte Weg stellte sich dabei als die
in kapitalistischen Verhältnissen nützlichste Option
heraus.
2.1.
Massenelend und Revolutionsangst
Kapitalistische
Warenproduktion und Geldwirtschaft ruinierte die selbständigen
Kleinproduzenten in Stadt und Land in Massen und führte zu einem
Anschwellen der eigentumslosen Schichten. "Ab etwa 1770 sprechen die Zeitgenossen
von 'Pauperismus' (Massenarmut). Ein großer Teil der Bevölkerung (nach
Schätzungen bis zu zwei Dritteln) ist in der materiellen Existenz
gefährdet."
Im sozialen Chaos des
Frühkapitalismus paarten sich staatliche
Polizeigewalt und staatliche Fürsorge zu dem Zweck der sozialen Sicherheit
der kapitalistischen Reichtumsproduktion.
"Führt
Massenarbeitslosigkeit zu Unruhen, verabschiedet man gewöhnlich
Hilfsprogramme, um genügend Erwerbslose einzubinden und zu überwachen,
damit wieder Ordnung einkehrt; lassen die Krawalle nach, schrumpft das
Fürsorgesystem, stößt jene aus, die auf dem Arbeitsmarkt gebraucht werden.
Doch sogar in diesem geschrumpften Zustand dient es der Maßregelung. Ein
Teil der Alten, Invaliden und Geisteskranken und andere, die nicht zur
Arbeit taugen, bleiben von der Fürsorge abhängig. Man entwürdigt und
drangsaliert sie hinreichend, um die arbeitenden Massen in ständiger
Furcht vor dem Schicksal zu halten, das sie erwartete, sollten sie in
Bettelei und Pauperismus abgleiten."
Die Angst der Reichen und
Mächtigen vor gewaltsamen Krawallen und Unruhen von notleidenden
Besitzlosen blieb bis heute bestimmendes Element des modernen
Staatsapparats. Aber diese Angst der Herrschenden verschwand in ruhigeren
Zeiten hinter dem fiskalischen Gesichtspunkt einer möglichst sparsamen
Armenverwaltung. Je nach wirtschaftlicher und politischer Lage werden
heute wie damals Polizeiknüppel hervorgeholt oder öffentliche
Almosen.
2.2. Freiwillig-kollektive Vorsorge
durch selbstverwaltete und betriebliche
Hilfskassen
Gegenüber vor- und frühkapitalistischen
Zuständen erhielt die Armut im entwickelten Kapitalismus jedoch ein völlig
verändertes Gesicht.
In der kapitalistischen Gesellschaft ist Armut
nicht mehr personell festzumachen an einem begrenzten Personenkreis mit
identifizierbaren individuellen Eigenschaften: Bauern ohne Land,
Handwerker ohne Markt, Alte ohne Besitz, Kranke und Kinder ohne Angehörige
etc.
Im Kapitalismus liegt das Armutsrisiko im Zentrum der Ökonomie und
der Gesellschaft: Die Lohnarbeiter stellen Hunderttausende und Millionen
von Menschen bei uns in Deutschland rund 80% der Erwerbstätigen - und
jeder von ihnen ist ein potentiell Armer, wenn er seinen Arbeitsplatz
verliert, wenn er durch Krankheit seine Arbeitskraft einbüßt, wenn er im
Alter aus dem Arbeitsleben ausscheidet.
"In dem Begriff des freien Arbeiters
liegt schon, dass er ein Armer ist, ein potentieller Armer. Er ist
seinen ökonomischen Bedingungen nach bloßes lebendiges Arbeitsvermögen,
also auch mit den Bedürfnissen des Lebens ausgestattet. Bedürftigkeit nach
allen Seiten hin, ohne objektives Dasein als Arbeitsvermögen (=
Produktionsmittel) zur
Realisierung desselben. Kann der Kapitalist seine profitbringende Mehrarbeit
nicht brauchen, so kann der
Lohnarbeiter seine notwendige Arbeit als
Gegenwert für seinen Lohn nicht verrichten; seine Lebensmittel nicht produzieren. Kann
sie dann nicht durch den Austausch erhalten, sondern, wenn er sie erhält,
nur dadurch, dass Almosen ... für ihn abfallen. ... Er ist also potentieller Armer.
Krankheit,
Arbeitslosigkeit und Alter sind allgemeine und normale Risiken der
Lohnarbeit, weil der Lebensunterhalt eines Lohnarbeiters davon abhängt,
dass er einen Kapitalisten findet, der ihm einen Arbeitsplatz zur
Verfügung stellt und dafür Lohn zahlt. Der Kapitalist tut das nur so weit
und so lange, als er davon Profit erwarten kann.
Zwar schaffen
Kapitalisten zunächst Arbeitsplätze, aber sowohl der erfolgreiche
Kapitalist wie der erfolglose Kapitalist beginnen bald damit,
Arbeitsplätze zu beseitigen: der Erfolglose, weil er in der Konkurrenz
untergeht und seinen Betrieb schließen muss, der Erfolgreiche, damit er
produktiver und arbeitssparender produziert als die Konkurrenz. Je
erfolgreicher ein Kapitalist oder eine Kapitalistennation ist, desto
schneller werden sie die Zahl der Arbeitsplätze vermindern. Die heutige
Massenarbeitslosigkeit zeugt von erfolgreicher Profitproduktion.
Auf
solche langfristig strukturelle wie auf kurzfristig konjunkturelle
Änderungen des Arbeitsplatzangebots haben die Lohnarbeiter keinerlei
Einfluss. Hinzu kommt, dass sie Arbeitsplatz und Existenzsicherheit auch
aus "individuellem Pech" verlieren: durch Krankheit, Unfall, durch
mangelnde Aus- und Weiterbildung, aber spätestens dann, wenn ihre
Arbeitskraft alt und verbraucht ist.
Die modernen Armutsrisiken
bedrohen alle Lohnarbeiter, nicht nur eine begrenzte Schicht von
Besitzlosen wie in vorindustrieller Zeit. Gegen die moderne Armut der
kapitalistischen Lohnarbeit ist mit Arbeitshäusern und Polizeirazzien
gegen Vagabunden, Herumtreiber und Asoziale wenig
auszurichten.
Zunächst fanden die Lohnarbeiter selber eine Antwort
für die besonderen Risiken ihrer sozialen Existenz: "Als städtische Fabrikarbeiter nicht
mehr auf die bewährten Bräuche der Verwandtschaft oder Nächstenliebe,
Gilden oder Bruderschaften vertrauen konnten, mussten sie den urbanen
Lebensbedingungen gemäß Ersatzformen freiwilliger Kooperation finden. ...
So gründeten Arbeiter ... in den neuen Industriezentren
'Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit'. ...
Viele Arbeiterhilfsvereine bezogen Arbeitslosenhilfe,
Krankengeld, Medikamente und ärztliche Behandlung in die Vorsorge ein.
Manchmal konnten sie sogar Invaliden- und Altersrenten auszahlen oder den
Hinterbliebenen verstorbener Mitglieder mit Witwenrenten helfen."
"'Nach Schätzungen gehörten um die Jahrhundertmitte
(des 19. Jahrhunderts, wb) fast die Hälfte aller erwachsenen Einwohner von
England und Wales derartigen Vereinen an.' ... Tennstedt dokumentiert,
dass 45 Prozent aller Einwohner Preußens in Krankenkassen mit
durchschnittlich je bloß etwa hundert Mitgliedern versichert waren. Starr
erwähnt Schätzungen, wonach 25 bis 30 Prozent der amerikanischen Familien
'bruderschaftlichen Orden und Wohltätigkeitsvereinen' angehörten, die oft
auch Versicherungen anboten. In Amsterdam waren Ende des 19. Jahrhunderts
rund vierzig Prozent der Bevölkerung auf Gegenseitigkeit
versichert."
Ökonomisch brachten
diese freiwilligen Hilfskassen gegenüber der traditionellen Armenfürsorge
eine fundamentale ökonomische Änderung: Nicht mehr die Reichen gaben aus
ihrem Überfluss den Armen, wie es über Jahrhunderte und Jahrtausende
üblich war, sondern die "potentiell Armen" sammelten untereinander aus
ihren dürftigen Lohneinkommen und kamen selber für ihre Armutsrisiken auf.
"In der Individualversicherung
werden die versicherten Risiken, die den einzelnen treffen können und von
ihm allein nicht zu bewältigen wären, zusammengelegt. Der Beitrag bemisst
sich im Verhältnis zur individuellen rechnerischen Wahrscheinlichkeit, dass der
Schadensfall für den Versicherten eintritt." Die privaten Hilfskassen
brachten also für die Kapitalisten die nützliche Nebenwirkung, dass sie
nicht für die Kosten der Lohnarbeiterrisiken aufkommen mussten, die sie
selber verursachten.
Man fragt sich also zu Recht: "Wie lässt sich
erklären, dass diese Form der gegenseitigen Hilfe mittels unabhängiger,
gemeinsamer Organisationen von der Bildfläche verschwand?"
Es gibt dafür wichtige
wirtschaftliche Gründe: die privaten Versicherungen waren vergleichsweise
teuer, unsicher und in ihren Leistungen begrenzt.
2.2.1. Hilfskassen schlossen hohe
Risiken aus
"Im Rückblick wissen wir, dass die im 19. Jahrhundert
entstandenen kleinen selbstverwalteten Hilfskassen auf Gegenseitigkeit zum
Scheitern verurteilt waren, da autonome, freiwillige Vereine stets die
Bedürftigsten als 'zu hohe Risiken' ausschließen." "Mit Gelegenheits-
oder Saisonarbeitern fühlten sie sich ebenso wenig verbunden wie mit all
jenen anderen, die ihnen als 'Abschaum der Gesellschaft' vorkamen: Sie
würden bloß die gemeinsame Solidarität unterhöhlen und die kollektiv zu
tragenden Risiken steigern."
2.2.2. Hilfskassen waren relativ
teuer
Private Versicherungen und Hilfskassen waren relativ
teuer, weil sie nach dem sogenannten Kapitaldeckungsverfahren arbeiten:
"Unter anderem, um zu vermeiden,
dass die alleinige Schadensdeckung aus den laufenden Prämien erfolgt, sind
die Privatversicherungen (auch aus Gründen der sogenannten
Mündelsicherheit) verpflichtet, ein Deckungskapital aufzubauen, auf das im
Bedarfsfall zusätzlich zurückgegriffen werden kann.".
Sie sind zweitens
vergleichsweise teuer, weil die Prämien Verwaltungsaufwand und bei
profitorientierten Versicherungen auch Gewinn enthalten. "Die Versicherungsprämie setzt sich ... nicht nur aus
den reinen Risikokosten ...zusammen ..., sondern deckt zusätzlich die
Verwaltungs- und Betriebskosten sowie den Gewinn der Versicherung." Je kleiner die Hilfskasse und
der Personenkreis der Versicherten ist, desto höher ist der relative
Verwaltungsaufwand:
2.2.3. Die Hilfskassen kumulierten
Risiken
Die Mitglieder der Hilfskassen hatten meist den
gleichen Beruf oder die gleiche Herkunft, und waren oft etwa gleichaltrig.
"homogene
Mitgliedschaft bedeutete ähnliche Risiken. Beschäftigte der gleichen
Branche waren gleichermaßen von typischen Berufskrankheiten bedroht und
verloren ihre Arbeitsplätze oft gleichzeitig." Solche Fälle reduzierten die
ausbezahlten Leistungen der Hilfskassen so weit, dass das Risiko kaum noch
abgedeckt werden konnte.
Weder hielten die selbstverwalteten
Arbeiter-Hilfskassen Schritt mit der Ausdehnung der Lohnarbeit, noch mit
der Zunahme der Lohnarbeiter-Risiken. "Gegen Ende des
19. Jahrhunderts stieg die durchschnittliche Lebenserwartung für Arbeiter
schneller als bei der Beitragsfestsetzung vorausgesehen, so dass
arbeitsunfähige oder pensionierte Anspruchsteller länger Bezüge erhielten
als erwartet. Aufgrund dieser demografischen Entwicklung kamen besonders
in Großbritannien auch viele Arbeiterhilfsvereine in erhebliche
Schwierigkeiten."
Staatliche
Zwangsversicherungen, die einen viel größeren Personenkreis erfassten,
konnten die Risiken breiter verteilen und hatten gleichzeitig ein höheres
Beitragsaufkommen. So konnten sie im Vergleich zu selbstverwalteten und
betrieblichen Hilfskassen bessere Leistungen mit niedrigeren Beiträgen
bieten.
3. Der Staat
übernimmt die Aufgaben der Arbeiter- Hilfskassen.
Der "Wohlfahrtstaat" wird
geboren
Überall, wo sich kapitalistische Warengesellschaft
und Lohnarbeit ausbreiteten, waren auch selbstverwaltete oder betriebliche
Hilfskassen für die Risiken der Lohnarbeit entstanden. Zwar hatten diese
Kassen kaum mehr als hundert Mitglieder, aber erfassten doch große Teile
der Erwerbsbevölkerung. Wozu dann staatliche
Versicherungen? "Vor allem gilt es
zu verstehen und zu erklären, warum kollektive, gesetzliche
Sozialversicherungssysteme entstehen konnten, um die Hauptrisiken der
Lohnabhängigen abzudecken. Alle hier erörterten Länder (USA, England, Frankreich, Deutschland, Holland
wb) riefen sie irgendwann zwischen 1883 und 1932 einer Zeitspanne
von knapp fünfzig Jahren ins Leben."
Das Rätsel löst sich
für den, der den ökonomische Nutzen, d.h. die kapitalistische Rationalität
der staatlichen Zwangsversicherung gegenüber privaten Hilfskassen
verstanden hat: "Die
staatlichen Eingriffe in das Versicherungswesen brachten drei einzigartige
Neuerungen: Beständigkeit, landesweite Ausdehnung und gesetzlichen
Zwang."
Solche staatlichen
Zwangsversicherungen sind jeder kleinen Hilfskasse oder privaten
Versicherung überlegen, weil sie die Risiken über eine größere Zahl von
Versicherten streuen. Sie können daher für einen geringeren individuellen
Beitrag eine höhere Absicherung bieten. Halbstaatliche oder staatliche "Versicherungsinstitutionen haben jedenfalls eine
langfristige Bestandssicherheit, da Zwangsmitgliedschaft herrscht,
Austritte also nicht möglich sind." Für das
gesamtgesellschaftliche Kapital bewirken staatliche Zwangsversicherung
geringere Lohnkosten. Die Gesamtlohnkosten der Volkswirtschaft sinken in
dem Maße, wie der individuelle Lohn nicht mehr den vollen Betrag einer
privaten Vorsorge für Notzeiten enthalten muss, sondern nur einen
Umlagebeitrag, der umso geringer ist, je mehr Versicherte erfasst
werden.
Über diese kapitalistische Rationalität und Effektivität hinaus
wurde der Klassenkonflikt zwischen Lohnarbeit und Kapital zunehmend
vergesetzlicht, versachlicht und befriedet: "Da Arbeitszeiten,
Frauen- und Kinderarbeit, Produktqualität, Lärm, Schadstoffe etc.
zunehmend gesetzlich geregelt wurden, griffen nun staatliche Inspekteure
und Beamte unaufhörlich in die Beziehungen zwischen Arbeitern und
Management ein." Der Kampf zwischen Kapital und
Arbeit wurde zwar politisiert, aber dadurch auch entschärft. Die Stacheln
und scharfen Kanten "kapitalistischer Willkür" wurden abgeschliffen, an
denen sich immer wieder Protest- und Kampfaktionen der Arbeiterbewegung
entzündeten. "... Der moderne
Staat ist ... nur die Organisation, welche sich die bürgerliche
Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußeren Bedingungen der
kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe
sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten."
Arbeitsgesetzgebung und
Verstaatlichung der Sozialversicherungen veränderten das Gesicht der
Staatsgewalt. "Die neue Regelung veränderte das Verhältnis zwischen
Bürgern und Staat: Eine Transferbindung fesselte jene als
Beitragspflichtige, potentielle und faktische Anspruchssteller an die
öffentliche Hand, während diese ihre Ansprüche unter festgelegten
Voraussetzungen erfüllen musste."
Der Staat bisher
hauptsächlich Gewaltapparat und Staat der Besitzenden verwandelte sich
durch die Arbeitsgesetzgebung scheinbar zum Schlichter im Konflikt
zwischen Lohnarbeit und Kapital und durch die Sozialgesetzgebung scheinbar
zum Wohltäter der Besitzlosen. Doch beides ist und blieb Schein, der sich
in jeder Konflikt- und Krisensituation schnell verflüchtigt.
Der
moderne Staat ist nur Sachwalter der kapitalistischen Rationalität, kein
Sachwalter der Lohnabhängigen. Durch staatliche Normierung der
Lohnarbeitsverhältnisse und durch staatliche Sozialversicherung werden die
Notlagen der Lohnarbeit gedämpft, nicht die prinzipiell prekäre Lage der
Lohnarbeiter und ihre Unterwerfung unter die Interessen des Kapitals
beseitigt.
Wer meint, die Sozialversicherungen seien Ideal und Modell
von "sozialer Gerechtigkeit" und Klassenharmonie, der glaubt dem schönen
Schein schlimmer Verhältnisse.
Zwangsbeitrag und
Zwangsmitgliedschaft in der Sozialversicherung verschaffen den
Lohnabhängigen weder Einflussrecht noch Eigentumsanspruch. "Über seine
privaten Ersparnisse kann der Berechtigte frei verfügen, während die
staatlich einbehaltenen Abgaben bloß spezielle nicht übertragbare
Ansprüche begründen. Lohnabhängige haben also keinen Zugriff auf jene
Gelder, die sich durch ihre Beiträge akkumulieren." Aber das Kapital hat über
den Kapitalmarkt durchaus Zugriff auf die einbehaltenen
Versicherungsbeiträge: "Darüber hinaus bildete das in den Versicherungskassen
akkumulierte Transferkapital eine Quelle enormer finanzieller und
ökonomischer Macht. ... Heute dürfte es die größte Investmentquelle der
Gesamtwirtschaft sein."
3.1. Bismarck als "Erfinder" des
Sozialstaat
"In Deutschland verwirklichte Bismarcks alldeutsche
Regierung ein autoritäres, aktivistisches Regime par excellence
erstmals eine landesweite gesetzliche Versicherung gegen
Einkommensverluste. Das geschah gegen den Widerstand der Arbeiterbewegung,
gegen starke parlamentarische Opposition, doch meist unterstützt von der
Führung des Zentralverbandes der Industrie."
"Bismarck plante eine Klasse von Staatspensionären:
der Regierung loyal ergeben und streitbar gegen jede Veränderung, die ihre
kleinen Vorteile hätte gefährden können zwar ohne Vermögen, aber mit
einem eigenen materiellen Interesse am Bestand der politischen Ordnung.
... Keines der Ziele wurde jedoch erreicht. Die Sozialistische Partei
wuchs nach Verabschiedung der Versicherungsgesetze sogar noch schneller,
der Reichstag gewann an Einfluss, ... und die Posten in der
Versicherungsanstalt wurden überwiegend mit Arbeiterführern besetzt: Sie
fanden dort sichere Zuflucht in einer Gesellschaft, die Streikführer und
linksradikale Agitatoren sonst regelmäßig verstieß oder gar
einsperrte."
Mit der Vernichtung des
kleinen Eigentums durch Warenproduktion und Lohnarbeit lösten sich auch
die traditionellen Familienstrukturen auf, worin dieses kleine Eigentum
geschaffen, bewahrt und weitervererbt worden war. Die staatliche
Gesetzgebung folgte auch hier nur den eingetretenen wirtschaftlichen und
sozialen Veränderungen. "Eine besondere Rolle in diesem Prozess spielte
schließlich die Kodifizierung des Verwandten-Unterhaltsrechts im BGB,
welches elf Jahre nach der Rentenversicherung, im Jahre 1900, in Kraft
trat. Dessen rechtliche Struktur ... beinhaltet normativ die Abkehr von
dem ursprünglichen kollektiven Unterhaltsverband der
'Großfamilien'."
Zwischen 1911 und 1916
wurde die Hinterbliebenenversorgung in die Rentenversicherungen
eingegliedert und Angestellte in die Rentenkassen einbezogen. Die
Altersgrenze wurde von zunächst 70 Jahre auf 65 Jahre
gesenkt.
Wie reagierten die sozialen Hauptgruppen auf
Bürokratisierung und Verstaatlichung der privaten und betrieblichen
Hilfskassen?
3.1.1. Sozialstaat und
Kapitalisten
Die Kapitalisten "misstrauten jeder Form von
Arbeiterorganisation, weil sich dahinter stets gewerkschaftliche
Aktivitäten oder schlimmeres politische Verschwörung gar verbergen
konnten. Ihren besonderen Verdacht erregte die Arbeitslosenversicherung,
die sich argwöhnten sie leicht in eine Streikkasse umwandeln ließ.
Verlässlicher erschienen dagegen Betriebskassen: Sie wurden zwar durch
Beiträge der Arbeiter finanziert, aber von der Unternehmensleitung selbst
verwaltet, manchmal auch bezuschusst. Als erste richteten die damals
größten Unternehmungen kollektive Versicherungsprojekte für ihre
Beschäftigten ein: Minen und Eisenbahnen ...
Finanzstarken Unternehmen boten
betriebliche Kassen beträchtliche Vorteile: Sie halfen bei der Anwerbung
neuer Arbeitskräfte, waren nicht direkt zu finanzieren, und man konnte die
Rücklagen in eigene Projekte investieren. Das Management regelte die
Voraussetzungen der Fälligkeit und ... band dadurch die Belegschaft an den
Betrieb, denn meist verfielen die Ansprüche bei Entlassung oder Kündigung
..."
"Die Arbeitgeber
hatten wenig Anlass, sich gegen Rentenanstalten zu wehren: Sie
erleichterten es ihnen, älteren Arbeitern zu kündigen, und entlasteten die
Unternehmen von den drückenden Verpflichtungen gegenüber ihren
Pensionären."
Hinzu kommt: "Für Großunternehmer und ehrgeizige, aktivistische
Regimes schien der Hauptanreiz nationaler Rentenmodelle darin zu liegen,
dass sie bestens dazu geeignet waren, die Arbeiter durch Anteile am
akkumulierten Transferkapital lebenslang an ihr Unternehmen und an den
Staat zu fesseln." Die Vertreter des Kapitals
fanden schnell heraus, dass der Sozialstaat eine für das Kapital
notwendige und nützliche Veranstaltung ist. Sie gaben jedoch ihre
Einflussrechte nicht sofort an Staatsbürokraten ab. "Überall, wo
organisierte Unternehmer mit nationalen Versicherungsprojekten
konfrontiert wurden, bemühten sie sich um alleinige Kontrolle, notfalls
sogar um den Preis, einen Teil der Kosten zu tragen."
3.1.2. Sozialstaat und
Kleinbürger
"Für das Kleinbürgertum war private Akkumulation der
Angelpunkt des Wirtschaftslebens, so dass es sich hartnäckig und erbittert
dagegen wehrte, kollektive Versicherungsmodelle einzuführen." "Zwangsakkumulation von Transferkapital bedeutete
direkten Eingriff in den Geldfluss zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern
und in das Konsumverhalten der Lohnabhängigen damit zugleich Vordringen
der Staatsbürokratie in jeden Betrieb, jeden Haushalt. Dagegen setzten
sich kleine selbständige Unternehmer überall hartnäckig zur Wehr. Je
stärker ihre politische Position war, desto länger zögerten sich die
Sozialgesetze hinaus."
"Die Geschichte
des Sozialversicherungswesens zeugt ... vom Machtverlust des selbständigen
Kleinbürgertums ..."
" ... Gesetzliche Versicherungsanstalten
(wurden) vor 1900 meist von autoritären Regimes in wenig
industrialisierten Ländern eingeführt ...: Deutschland, Österreich,
Finnland, Schweden und bedingt auch Italien. Zweifellos wollten die
autoritären politischen Eliten dadurch die Parteien umgehen und direkt auf
die arbeitenden Massen zugreifen, um sich deren Loyalität zu sichern. ...
Unter diesen autoritären Regimes, allen voran das kaiserliche Deutschland,
waren nicht bloß die Industriearbeiter faktisch von der Staatsmacht
ausgeschlossen wie in vielen parlamentarischen Demokratien jener Zeit
ebenfalls -, auch das Kleinbürgertum besaß kaum Einfluss, jedenfalls
erheblich weniger als in demokratischen Staaten. ...
Im Wilhelminischen
Deutschland fielen die Kleineigentümer politisch kaum ins Gewicht, dagegen
die Junker (Landadel), Industriellen und Bürokraten um so mehr. Solange
die Gesetzesvorhaben ländliche Interessen nicht bedrohten, konnte das
Regime den Widerstand der Kleinbürger die innerhalb der katholischen
Zentrumspartei und den liberalen Gruppen gespalten waren per Koalition
mit den Großunternehmern überwinden. ...
Beim Auf und Ab der deutschen
Politik brachte eine ... dafür typische Koalition die Sozialversicherung
zustande: das Bündnis zwischen der administrativen und politischen Eliten
auf der einen und den Großindustriellen auf der anderen Seite. So
zeichneten die Spitzen des Industrievereins für wichtige Teile der
Gesetzentwürfe verantwortlich und traten auch in engem Einvernehmen mit
Bismarcks Beamten persönlich für die Annahme des Modells ein. Wie bekannt,
wurde die deutsche Sozialversicherung ohne Unterstützung, ja sogar ohne
formelle Konsultation der Arbeiterorganisationen in Kraft gesetzt."
3.1.3. Sozialstaat und
Arbeiterbewegung
"Die relativ privilegierten Schichten der
Arbeiterklasse sicher beschäftigte Facharbeiter in fortgeschrittenen
Industrien traten im großen und ganzen für freiwillige und sogar
betriebliche Kassen ein. Zugleich wehrten sie sich meist gegen
umfassendere, besonders aber gegen Zwangsversicherungen."
"Ein radikaler Flügel der
Arbeiterbewegung lehnte alle Sozialreformen rundweg ab, weil sie rein
kosmetische Operationen am repressiven Kapitalismus seien und die
bevorstehende Revolution bestenfalls hinauszögern könnten.
Die Maximalisten
(mit
utopischen Reformvorschlägen, wb) in
der Arbeiterbewegung forderten, ... der Staat müsse sämtliche Risiken des
Einkommensverlustes gesetzlich absichern und die Reichen durch höhere
Steuern dafür bezahlen lassen ...
Andere Gruppen
verbanden ihre Minimalforderungen mit Widerstand gegen staatliche
Eingriffe: Die Anarcho-Syndikalisten beharrten auf selbständiger
Verwaltung der Hilfsvereine, da sie in autonomen Arbeiterzusammenschlüssen
die Saat proletarischer Selbstverwaltung sahen."
Entweder geschichtliche
Unkenntnis oder bewusste Geschichtsfälschung ist es, wenn staatsgläubige
Linke heute behaupten, die staatlichen Sozialversicherungen seien eine
direkte oder indirekte Folge der Kämpfe der Arbeiterbewegung gewesen. So
meint J. Strasser: "Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erlebten die
meisten Industriestaaten Europas unter dem Druck einer erstarkenden
Arbeiterbewegung eine fortschreitende Ausdehnung staatlich organisierter
Hilfe und Daseinsvorsorge."Noch weiter von der Wahrheit
entfernt ist, wer die staatlichen Zwangsanstalten der Sozialversicherung
sogar als erkämpftes Ziel der Arbeiterbewegung feiert.
Tatsache ist, dass die
staatlichen Zwangsversicherungen gegen den aktiven oder passiven
Widerstand der Arbeiterbewegung eingeführt wurden. "Gewerkschaften
konnten erst dann zur Sozialversicherung bekehrt werden, wenn sie nicht
mehr auf Selbsthilfe oder eine direkt bevorstehende Revolution hofften und
den begrenzten Horizont der örtlichen und branchenbezogenen Mitgliedschaft
überschritten." "Die Anwerbung der
Arbeiterführer für das Sozialversicherungswesen trug ... auch dazu bei,
die Arbeiterbewegung zu bezähmen, am weitesten die Sozialdemokraten im
deutschen Kaiserreich."
3.2. Hitlers Sozialstaat im Dritten
Reich
Heutige Rückblicke auf die Geschichte der
Sozialversicherungen blicken gerne auf Bismarck zurück und springen dann
unvermittelt in die Gegenwart. Was war mit den
Sozialversicherungen im ersten Weltkrieg? Wie überstanden sie
Staatsbankrott und Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg? Was war unter
Hitler? Wie überstanden sie den Staatsbankrott nach dem Zweiten Weltkrieg,
der in den Schulbüchern beschönigend "Währungsreform" genannt wird?
Darüber schweigen sich die meisten Autoren aus.
"Für die
Sozialversicherung enthielt das nationalsozialistische Parteiprogramm das
Ziel eines 'großzügigen' Ausbaues der Altersversorgung. Zunächst war es
jedoch erforderlich, die durch die Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg
in große finanzielle Schwierigkeiten geratene Rentenversicherung zu
sanieren. Ein erster Schritt zur Sanierung der Rentenversicherungen
erfolgte durch das 'Gesetz zur Erhaltung der Leistungsfähigkeit der
Invaliden-, der Angestellten- und der knappschaftlichen Versicherung' vom
7. Dezember 1933, durch das das Anwartschaftsdeckungsverfahren wieder
eingeführt, die Berechnung der Renten neu geregelt und ein laufender
Reichszuschuss in erheblicher Höhe für die Invalidenversicherung
eingeführt wurde. Die endgültige Sanierung der Rentenversicherung erfolgte
durch das 'Gesetz über den Ausbau der Rentenversicherung' vom 21. Dezember
1937. Es verpflichtete die Arbeitslosenversicherung, deren in der
Weltwirtschaftskrise stark erhöhte Beitragssätze bei Erreichung eines
höheren Beschäftigungsgrades nicht verringert wurden, aus ihren
Beitragseinnahmen an die Invalidenversicherung 18 Prozent der
Beitragseinnahmen der Invalidenversicherung und an die
Angestelltenversicherung 25 Prozent der Beitragseinnahmen dieser
Versicherung abzuführen. Außerdem übernahm das Reich über die
Reichszuschüsse hinaus eine gesetzliche Garantie für den Bestand der
Rentenversicherung."
"Eine Erweiterung
des Kreises der Versicherten trat auch durch das 'Gesetz über die
Altersversorgung für das deutsche Handwerk' vom 21. Dezember 1938 ein, das
erstmals eine große Gruppe selbständiger Erwerbstätiger in die
Pflichtversicherung einbezog."
"Zusammenfassend
zur Sozialversicherungspolitik des Dritten Reiches lässt sich festhalten,
dass diese Politik zu einer Sanierung der Rentenversicherung, zur
Ausdehnung des sozialpolitischen Schutzes auf weitere Bevölkerungskreise,
zu Verbesserungen im Leistungsrecht und zu Änderungen im organisatorischen
Aufbau führte. Das Selbstverwaltungsprinzip wurde aufgehoben, der
Versicherungsträger wurden Teil der Staatsverwaltung." "Systematische und
konsequente Weiterentwicklungen staatlicher Sozialpolitik sind
konstatierbar ... in der Sozialversicherung. Sie wurde finanziell
stabilisiert, und organisatorisch gestrafft. Die selbständigen Handwerker
wurden in die Invaliden- und Alterssicherung einbezogen. Die Leistungen
wurden verbessert."
Der viel gepriesene
Sozialstaat ist ebenso sehr ein Werk der "Großindustrie" unter Hitler wie
unter Bismarck. Wer den kapitalistischen Staatsapparat in einen "bösen"
Gewalt- und Überwachungsstaat und einen "guten" Sozialstaat unterteilen
will, der hat die allgemeinen Grundlagen von Herrschaft und Macht nicht
begriffen. Macht beruht nie allein nur auf Gewalt, sondern immer auch auf
Versorgung mit dem Nötigsten. In demokratischen wie in despotischen Staaten umgreift die Arbeit der
Oberaufsicht und allseitigen Einmischung der Regierung beides ...: sowohl
die Verrichtung der gemeinsamen Geschäfte, die aus der Natur aller
Gemeinwesen hervorgehen, wie die spezifischen Funktionen, die aus dem
Gegensatz der Regierung zu der Volksmasse entspringen..
3.3. Sozialstaat Bundesrepublik
Deutschland
Adenauer und Erhard, die CDU- und SPD-Kanzler,
setzten das "soziale" Werk von Bismarck und Hitler fort, wie sie auch
mit moderneren, aber auch wirksameren Mitteln - die Unterdrückung des
Volkes von Bismarck und Hitler fortsetzen. "Im wesentlichen
aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik übernommen (die Sozialreformen der Nazis
werden verschwiegen), sind diese
sozialen Sicherungssysteme in der Ära der Bundesrepublik teils strukturell
modifiziert (Dynamisierung der Renten 1957, Lohnfortzahl im Krankheitsfall
1969), teils auf weitere Gruppen ausgedehnt (z.B. Altershilfe für
Landwirte 1957) und allgemein in ihren Leistungen verbessert
worden." "
1990 (waren) rund
84 Prozent der männlichen und rund 82 Prozent der weiblichen
Wohnbevölkerung im Alter von 20 bis unter 60 Jahren in der
Rentenversicherung...." Rund 90 Prozent
der Bevölkerung sind heute als Beitragszahler oder Rentenbezieher erfasst.
Nur noch rund 5 Prozent aller Alten finanzieren ihre Lebensunterhalt aus
innerfamiliären Leistungen ihrer Nachkommen.
4. Der "Generationenvertrag" Umlage-
oder Versicherungsprinzip
Das von den Rentenkassen
angesparte Kapital wurde von den Nazis zur Finanzierung ihrer Raubkriege
benutzt, nach 1945 bestanden die Guthaben der Rentenkassen nur noch aus
wertlosen Forderungen an die Staatskasse. Durch den
Staatsbankrott von 1948 wurden 50% dieser Forderungen annulliert. In den
Geschichtsbüchern der Bundesrepublik wird dieser Raub an den
Rentenbeiträgen der Lohnarbeitern als "Währungsreform" gefeiert.
Die
Rentenansprüche wurden zwar 1:1 von Reichsmark auf DM umgestellt, aber die
Guthaben der Rentenkasse waren verschwunden und Rentenzahlungen waren auf
staatliche Zuschüsse angewiesen. Gleichzeitig wurde den demobilisierten
und invaliden Soldaten Hitlers großzügige Eintrittsmöglichkeiten in die
Rentenkassen ermöglicht.
Während allmähliche Lohnsteigerungen Anfang
der 50er Jahre die erneut einsetzende Geldentwertung ausglichen und
übertrafen, blieb das Rentenniveau niedrig. "So erreichten bis
zur Reform des Jahres 1957 die Renten in der Arbeiterrentenversicherung
nur ein Niveau von ca. 28 Prozent und in der Angestelltenversicherung nur
ein Niveau von 22 Prozent des durchschnittlichen Arbeitsentgelts
vergleichbarer Versicherter." Die Rente reichte nicht für
den nötigsten Lebensunterhalt und war nichts mehr als ein
Unterhaltszuschuss für die Familien, die ihre Alten versorgten.
Das
sogenannte Umlageverfahren, bei dem die anfallenden
Rentenzahlungen aus den aktuell eingehenden Rentenbeiträgen bezahlt
werden, wurde längst praktiziert, bevor Adenauer aus dieser finanziellen
Not der Staatskasse eine sozialpolitische Tugend machte. (Die vollständige
Einführung des Umlageverfahrens brachte dann ein Gesetz von 1969, in dem
die Reserven der Rentenkassen auf eine die jährliche Liquidität sichernde
"Schwankungsreserve" reduziert wurden.)
Politischer Stichwortgeber
für Adenauers Rentenreform war der Geschäftsführer des Bundes Katholischer
Unternehmer (BKU), Wilfried Schreiber, der 1955 schrieb: "Das 'vitale
Problem im Industriezeitalter' ... sei die Verschiebung des allein im
produktiven Lebensabschnitt jedes einzelnen erzielten Lebenseinkommens auf
die unproduktiven Phasen der Kindheit und des Alters; dies sei letztlich
nur möglich, wenn die 'jeweils zwei Generationen' der Kinder und
Erwerbstätigen einerseits und der Erwerbstätigen und der Alten
andererseits 'Solidarverträge' schlössen.".
Das Lohneinkommen, das
vom Kapital nur für aktive Arbeit gezahlt wird, soll vom Staat auch auf
die für das Kapital "unproduktiven Phasen" "verschoben"
werden.
Damit wurde erstens ausgesprochen, dass nicht die
Kapitalisten für "unproduktive", das heißt nicht für das Kapital
arbeitende Lohnarbeiter aufzukommen haben, sondern die für das Kapital
"produktiven" Lohnarbeiter selber.
Zweitens sollte auf das
Ansparen, auf das sogenannte "Kapitaldeckungsverfahren" verzichtet werden.
Diese "Lösung", die die Finanzierung der Sozialversicherungen nach dem
Kettenbriefprinzip organisierte "die Letzten beißen die Hunde" -, wird
seither als "Generationenvertrag" gepriesen.
Adenauer konnte also
guten Gewissens die verbliebenen Rücklagen der Rentenkassen verstaatlichen
und mit vergleichsweise geringfügigen Beitragserhöhungen sofort höhere
Rentenzahlungen ausschütten. Mit dieser Rentenreform fuhren Adenauer und
die CDU ihren größten Wahlerfolg ein und erhielten die absolute Mehrheit
aller abgegebenen Stimmen.
"Wissenschaftlich" untermauert wurde dieses
Pyramidenschema der Rentenfinanzen durch einen Professor Mackensen, der
behauptete: "Nun gilt der einfache und klare Satz, dass aller
Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt
werden muss. Es gibt gar keine andere Quelle und hat nie eine andere
Quelle gegeben, aus der Sozialaufwand fließen könnte. Es gibt keine
Ansammlung von Fonds, keine Übertragung von Einkommensteilen von Periode
zu Periode, kein 'Sparen' im privatwirtschaftlichen Sinne...
Volkswirtschaftlich gibt es nämlich keine Ansammlung eines Konsumfonds,
der bei Bedarf konsumiert werden kann und dann gewissermaßen zum
Volkseigentum einer späteren Periode eine willkommene Zugabe wäre. Jede
Fondsansammlung wird in der Geldwirtschaft zur volkswirtschaftlichen
Kapitalbildung, einmal gebildetes Kapital kann man nicht mehr
verzehren."
Auf den ersten Blick erscheint die These von
Mackensen reichlich absurd. Behauptet er doch, eine Gesellschaft könne
nichts ansparen. Jeder weiß jedoch, dass Einzelne und Kollektive sehr wohl
ansparen können und müssen, und dass das Angesparte zu späterer Zeit
verzehrt werden kann.
Herr Mackensen wies jedoch
darauf hin, dass in einer kapitalistischen Volkswirtschaft alles
Angesparte in Kapital verwandelt wird. Durch diese Verwandlung würde es
produktiv genutzt, und könne dann später nicht mehr konsumtiv genutzt
werden, - außer der angesammelte Kapitalstock wird reduziert und damit den
Kapitalisten Schaden zugefügt.
Verständlich
ausgedrückt: Die Sozialversicherungen sind konsumtive Ausgaben, die
möglichst begrenzt sein sollen, um die Akkumulation von Kapital nicht zu
behindern. Je billiger die Sozialversicherungen sind, desto besser für das
Kapital. Und kann es billigere Sozialversicherungen geben, also solche,
die auf Rücklagenbildung verzichten?
In der Tat
besagt die Theorie des Herrn Mackensen nichts weiter, als dass das
Kapitaldeckungsverfahren auf die Gesellschaft übertragen für das Kapital
teurer und ungünstiger ist als das Umlageverfahren. Da hat der Herr
Professor wohl recht.
Dass in der Tat die Lohnarbeiter selber die
Versicherungskosten für die Risiken der Lohnarbeit tragen, das wird durch
die dreifache Form der Beitragserhebung nur notdürftig verschleiert: Ein
Teil der Beiträge heißt "Arbeitgeberbeitrag", ein Teil wird den
Lohnarbeitern vom Bruttolohn abgezogen. Klar ist, dass beides
Lohnbestandteile sind. "Heute bezweifelt niemand mehr, dass die
Arbeitgeberbeiträge zu den Sozialversicherungen echte Lohnbestandteile
sind."
Zu verlangen, dass die Kapitalisten den vollen
Beitrag zu den Sozialversicherungen zahlen, würde an den Finanzen der
Rentenkassen und der Lohnarbeiter kein Härchen ändern - nur auf unseren
Lohnabrechnungen wäre der Bruttolohn um die Sozialversicherungsbeiträge
vermindert. Die Nettolöhne blieben ebenso unverändert wie die Einnahmen
der Rentenkassen.
Auch
der dritte Einnahmen-Bestandteil, der Bundeszuschuss, stammt aus
Steuergeldern und hauptsächlich aus den Taschen der Lohnarbeiter. "Ökonomisch
besteht zwischen dem 'Beitrag' und einer Steuer kein Unterschied. Was die
Beitragsfinanzierung aus Sicht der Politik allerdings attraktiv macht,
ist - in
den Worten des zuständigen Abteilungsleiters im Bundesministerium für
Arbeit Werner Niemeyer ihre 'finanzpsychologische Vorteilhaftigkeit.' Im
Klartext: Solange die Leute glauben, sie täten etwas für sich, tun sie es
bereitwilliger."
"Durch die Spaltung der Sozialabgaben in Arbeitgeber-
und Arbeitnehmerbeiträge, durch die steuerfinanzierten Zuschüsse zu den
Systemen der sozialen Sicherung und durch die Vielzahl von Finanztransfers
wird der Eindruck vermittelt, dass soziale Leistungen nur relativ wenig
kosten."
Die gefeierte Rentenreform von 1957 verminderte die
Bundesgarantie erheblich: Hatte nach dem 2. Weltkrieg der Bund nach § 5 Abs. 2
des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes (SVAG) von 1949 noch die
erforderlichen Mittel für die dauernde Aufrechterhaltung der Leistungen über
die Bundesgarantie zur Verfügung zu stellen, so sind seit dem
Rentenreformgesetz von 1957 durch den Bund nur noch die Mittel
aufzubringen, die das Defizit der Ausgaben für die Dauer eines
Kalenderjahres notwendig macht. Diese Garantie des
Bundes ist nichts wert. Wer behauptet, die Bundesgarantie mache die Renten
"sicher", der ist entweder ein Lügner oder ein Dummkopf.
Die angeblichen
Umverteilungs-Wohltaten des "Sozialstaats" sind eine große Propagandalüge.
Der Sozialstaat senkt durch die Zwangsversicherung die gesellschaftlichen
Lohnkosten für das Kapital auf ein Minimum und wälzt gleichzeitig die
Folgekosten der Lohnarbeiterrisiken auf die Lohnarbeiter selber. "Insgesamt ist die
Ausgleichswirkung der Sozialpolitik eher die eines ... Ausgleichs ...
zwischen verschiedenen Generationen derselben sozialen Schicht ... als die
eines ... Ausgleichs zwischen verschiedenen sozialen Schichten und
Klassen."
Dieses vernichtende Urteil über die angeblichen
"Wohltaten des Sozialstaats" wird auch von anderen bestätigt: "Unter
Berücksichtigung von Subventionen und sozialen Transferleistungen ergab
sich ..., dass Haushalte mit mittlerem Einkommen per Saldo weitaus stärker
als solche mit höheren ... Einkommen durch staatliche
Umverteilungsmaßnahmen zur Ader gelassen wurden."
"Wenn Vertreter der Regierungen sich der enormen Höhe
dieses Sozialbudgets rühmen, erwecken sie oft den Eindruck, dass damit
dank ihrer Initiative der bedürftigen Bevölkerung ein besonderes Geschenk
bewilligt worden ist. Jedoch werden alle diese Mittel zum größten Teil von
den gegenwärtigen und zukünftigen Empfängern selbst aufgebracht."
Sogar die Kommission einer CDU-Regierung musste
zugegeben:
"Die
Sozialpolitik kann immer nur den Konsum und die Versorgung bestimmter
Bevölkerungsgruppen heben, indem sie die Versorgung der Masse der
Bevölkerung an anderer Stelle ... reduziert."
4.1. Was ist von diesem Sozialstaat zu halten?
Unsere staatstreuen bis staatsgläubigen
Linken sind ein Herz und eine Seele, wenn es um "Verteidigung des
Sozialstaates" und seiner "Errungenschaften" geht. Für solche mit der
Existenz von Lohnarbeit und Kapitalismus konforme Linke verkörpern unsere
Sozialversicherungen ganz ihr Ideal eines bürokratischen
Umverteilungs-Sozialismus, und der SPD-Linke Johano Strasser spricht ihnen
alle aus der Seele, wenn er meint: "Im erweiterten Sinne von Sozialpolitik als
'Gesellschaftsgestaltung' kann man sagen, dass das Ziel der Sozialpolitik
in der Tat der Sozialismus ist."
Selbst wo eine
staatskritische und antikapitalistische Linke den Sozialstaat nicht als
Rohmodell ihrer eigenen Sozialismusidee missverstehen, sahen und sehen sie
häufig im sozialstaatlichen Bereich ein kapitalismusfremdes, wenn nicht
sogar kapitalismusfeindliches Element. In diesem Sinn schrieb Rosa
Luxemburg: "Der heutige Staat ist ... Vertreter der
kapitalistischen Gesellschaft, d.h. Klassenstaat. Deshalb ist auch die von
ihm gehandhabte Sozialreform ... eine Kontrolle der Klassenorganisation
des Kapitals über den Produktionsprozess des Kapitals. Darin, d.h. in den
Interessen des Kapitals, findet denn auch die Sozialreform ihre
natürlichen Schranken."
Tatsächlich bilden
staatliche Sozialreformen in Gestalt der Sozialversicherungen keine Schranke gegen
die Interessen des Kapitals, sondern die staatlichen
Zwangsversicherungen wurden von den kapitalistischen
Produktionsverhältnissen selber hervorgebracht.
Staatlichen Zwangsversicherungen wurden nötig, durch
die Trennung der Lohnarbeiter von jedem Eigentum, das als Vorsorge für
Notzeiten in Betracht kommt.
Staatliche
Zwangsversicherungen senken gegenüber privaten Versicherungen die
Beitrags- und damit die Gesamtlohnkosten für das Kapital. In den
staatlichen Zwangsversicherungen finden die Interessen des Kapitals keine
Schranke, sondern ihre historisch notwendige gewordene Verwirklichung.
4.2. Die Finanzsystematik der deutschen
Rentenversicherung
Das Umlageverfahren
der Rentenversicherungen beruht auf dem einfachen Prinzip: Was in einem
Jahr ausgegeben wird, muss in einem Jahr eingenommen werden. Oder:
Jahreseinnahmen =
Jahresausgaben.
Da es mehrere Einnahmearten
und mehrere Ausgabenarten gibt, ergibt sich die folgende ausführlichere
Gleichung:
Beitragszahler mal Beitragshöhe plus
Bundeszuschuss (Einnahmen) = Rentenbezieher mal Rentenhöhe plus
versicherungsfremde Leistungen plus Verwaltungskosten
(Ausgaben).
Da die Beitragshöhe in Prozenten des Lohns berechnet
wird, hat die Lohnentwicklung direkte Auswirkungen auf die Einnahmen aller
Sozialversicherungen.
Versicherungsfremde
Leistungen sind Leistungen, "denen keine
Beitragsleistungen gegenüberstehen ... zum Beispiel Leistungen für
Kriegsfolgen und Rehabilitationen..." Ursprünglich hatte der Bundeszuschuss nur die
Aufgabe, etliche versicherungsfremde Leistungen abzudecken, die seit 1957
ebenfalls über die Rentenversicherungen abgewickelt wurden: "Der
Bundeszuschuss hatte nach dem II. Weltkrieg auch die Aufgabe, die hohen
Kriegsfolgelasten zu finanzieren." Im Jahr 1996
wurden nur 68,5 Prozent der Einnahmen für Rentenzahlungen genutzt. Mit den
restlichen 31,5 % wurden Löcher an anderen Stellen des Staatshaushalts
gestopft.
"Der Anteil des
Bundeszuschusses (nimmt) an der Gesamtfinanzierung der gesetzlichen
Rentenversicherung trendmäßig ab..." "Die Struktur der
Finanzierungsseite der gesetzlichen Rentenversicherung hat sich in der
Nachkriegszeit fortlaufend gewandelt, die quantitative Bedeutung des
Bundeszuschusses ständig abgenommen. Der Bund zahlte im Jahr 1985 rund
17,8% der Gesamtausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung gegenüber ca.
einem Drittel in den 50er Jahren. Hingegen ist der Anteil der
Beitragseinnahmen und der sonstigen Einnahmen, die im wesentlichen aus der
Auflösung von Liquiditätsreserven resultieren, an den gesamten Einnahmen
stark gestiegen."
Unsere Politiker erwecken
gerne den Eindruck, als würden die Renten durch die Bundesgarantie
"sicher". Das ist eine bewusste Irreführung, denn im Falle der
Zahlungsunfähigkeit der Rentenversicherung garantiert der Bund "laut § 1384 RCD
und § 111 AVG ... eine Deckung der Ausgaben der
Rentenversicherungsträger." Damit garantiert der
Bund keineswegs die gesicherte Auszahlung der Renten in einer bestimmten
Höhe. "Bei näherer Untersuchung bedeutet die Bundesgarantie
im Prinzip nichts anderes, als dass unter gesetzlicher Regelung die
Einnahmen und die Ausgaben der Rentenversicherungsträger wieder ins Lot
gebracht werden sollen." Im Klartext: Im Falle
der Zahlungsunfähigkeit der Rentenversicherung kürzt der Bund die Renten
und erhöht die Rentenbeiträge, damit die Versicherung wieder zahlungsfähig
wird. Tolle Garantie! "Vielmehr 'garantiert' die zur Zeit gültige Fassung
nur ein finanzielles Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben der
Rentenversicherung für ein Jahr und keine materielle Sicherheit der Renten
hinsichtlich ihrer Höhe." Wer behauptet, die
Bundesgarantie garantiere "sichere Renten", der ist entweder ein Dummkopf
oder ein Lügner.
4.2.1. Staatliche Manipulation der
Rentenversicherung Zu der konkreten
Ausgestaltung der heutigen Rentenkassen muss man sagen: "Das
umlagefinanzierte Rentensystem, bei welchem sowohl der Beitragssatz als
auch die Höhe der Leistungen zur Disposition stehen, hat ... eine
fundamentale Schwäche: Es ist politisch hochgradig manipulierbar!" Die Finanzen der
Rentenkassen sind hochgradig manipulierbar, aber dennoch tun heute alle
Politiker so, als seien die Rentenfinanzen jetzt und in Zukunft allein
durch die demografische Entwicklung bedroht, die die Zahl der
Rentenbezieher erhöhe und gleichzeitig die Zahl der Beitragszahler
senke.
Kleine Selbständige Die
Zahl der Rentenbezieher wurde immer mehr dadurch ausgeweitet, dass
Berufsgruppen wie Landwirte, Selbständige und Höherverdienende plötzlich
einen Rentenanspruch geschenkt bekamen, ohne vorher entsprechend in die
Versicherungskassen eingezahlt zu haben. "Schließlich
machten sehr viele Versicherte, insbesondere viele ältere, von der
vorteilhaften Nachversicherungsmöglichkeit Gebrauch ..." "Verglichen mit einem Arbeiter entrichtet ein Bauer
nur ein Viertel bis ein Fünftel des Beitrags für eine Rente gleicher Höhe;
und die zu 78% aus öffentlichen Geldern finanzierte Rente kommt zudem
unterschiedslos dem armen Einödbauern und dem Großagrarier mit mehreren
100.000 DM Jahreseinkommen zugute."
Frührentner Die Zahl der
Neurentner ist auch abhängig von der wirtschaftlichen Konjunktur und vom
Rationalisierungstempo der Kapitalisten. In Zeiten der Rezession wie in
Zeiten hoher Innovation und Rationalisierung sortiert das Kapital
verstärkt die älteren Lohnarbeiter aus dem Arbeitsleben aus, die in die
Arbeitslosigkeit oder in die Rente entlassen werden. Ihre
Beitragszahlungen verschwinden auf der Einnahmenseite der Rentenkassen und
eventuell tauchen sie als Frührentner auf der Ausgabenseite auf. Diese Frührentner
werden heute von den Rentenkassen zunehmend mit Rentenkürzungen
abgestraft: "bei der maximal möglichen vorzeitigen Inanspruchnahme
(des vorgezogenen Renteneintritts) von drei Jahren errechnet sich also
eine um 10,8 Prozent niedrigere Rente."
Arbeitslose Die
Einnahmenseite wird erheblich von der Zahl der Arbeitslosen beeinflusst,
für die weniger oder gar keine Rentenbeiträge mehr eingehen. In den 70er
Jahren rechnete man mit einem jährlichen Einnahmeausfall bei den
Rentenkassen von 5000 DM jährlich für jeden Arbeitslosen, also 1 Milliarde
DM je 200.000 Arbeitslose.
Eheleute Ehegatten, bei
denen die Ehefrau nicht berufstätig war, erhalten höhere Leistungen als
Alleinstehende oder Paare, bei denen beide lohnabhängig sind, weil beide
Ehegatten Rentenleistungen beziehen können, auch wenn nur einer eingezahlt
hat.
Bisherige und künftige Rentner Zwar liegt die gegenwärtige Durchschnittsrente
bei Frauen nur bei rund 500 Euro und bei Männern bei rund 1000 Euro, dennoch erhielten
die Rentner der Vergangenheit bis in die Gegenwart der Bundesrepublik für
relativ geringe Eigenleistungen Rentenzahlungen, wie sie nie wieder
vorkommen werden. Bei vielen jetzigen Rentnern wird die staatliche Rente
noch durch Betriebsrenten aufgebessert. "Die Rentner der
ausgehenden 50er, der 60er und auch noch der 70er Jahre, als das
Rentenniveau vom Taschengeld auf Spitzenwerte von bis zu 73,8 Prozent des
Lohnniveaus kletterte, müssen sich wie Sterntalerkinder vor dem
Dukatenesel gefühlt haben: Zeit ihres Arbeitslebens oder zumindest die
größten Teile davon hatten sie Beiträge lediglich in Pfennighöhen
entrichtet und erhielten dafür nun fast lohnersetzende Renten für immer
längere Ruhestandszeiten!" "Die heutige
Rentnergeneration (genießt) eine Altersversorgung ..., die sie als
privater Versicherungsteilnehmer auf der Basis der eingezahlten Beiträge
nie hätte erzielen können."
Beamte Beamte
zahlen keine Beiträge für ihre Rente, erhalten aber steuerfinanzierte
Pensionszahlungen. Beamte genießen also heute schon eine rein
steuerfinanzierte Rente, die manche Linke als Sozialreform der Zukunft
herbeisehnen. Diese Linken meinen wohl, es könnten alle Bürger gleichsam
zu Beamten werden und bequem auf Kosten der Steuereinnahmen leben. Das steuerfinanzierte Altengeld der Beamten liegt
deutlich über den Leistungen der gesetzlichen Rentenkassen. So wurden im
Jahr 1985 für Beamtenpensionen Für 36,8 Mrd. DM und für Rentenleistungen
der gesetzlichen Rentenversicherung rund 153,3 Mrd. DM. aufgewendet. Die Beamten stellen
weniger als 9% der Lohnabhängigen, aber diese Personengruppe von 9% erhält
rund 20% der gesamten Altersruhegelder. "Im Jahr 1987
belief sich das Bruttoversorgungsniveau für Arbeiter und Angestellte auf
45,2%." Die Beamten erreichten
schon 1980 einen durchschnittlicher Ruhegehaltssatz von ca. 72%. "Damit liegt das
Bruttoversorgungsniveau des beamtenrechtlichen Systems deutlich oberhalb
des Bruttoversorgungsniveaus in der Gesetzlichen
Rentenversicherung." Im Gegensatz zur
gesetzlichen Rentenversicherung kennt die Beamtenpension auch keine
Höchstgrenze. Diese Regelung erlaubt unseren Herren Politiker in
wechselnden Staatsämtern astronomische Pensionsansprüche anzusammeln, die
ihre letzten Bezüge weit übertreffen. Unser Finanzminister hat z.B. einen
legalen Rentenanspruch, für den ein Durchschnittslohnarbeiter 450 Jahre
lang Rentenbeiträge zahlen müsste. Aufmerksame Autoren stellen deshalb
verwundert fest: "Eigenartigerweise findet man in der Literatur kaum
Aussagen über die Entwicklung der Beamtenpensionszahlen."
4.3. Die allgemeine "Grundrente" macht alles nur
schlimmer Die Idee einer
steuerfinanzierten Grundrente tauchte erstmals 1985 in einer Studie von
Kurt Biedenkopf auf. Der Biedenkopf-Vorschlag sah vor, dass eine
"Grundrente", die nicht für den vollen Lebensunterhalt ausreicht, aus dem
allgemeinen Steueraufkommen finanziert wird. Sozialversicherungsbeiträge
von Arbeitnehmern und Arbeitgeber sollen entfallen, dafür werden Steuern
erhöht. Diese Grundrente solle mit 40% vom jeweiligen
Durchschnittsnettolohn noch unter dem Sozialhilfesatz liegen.
Direkte und indirekte
Steuern werden jedoch ebenfalls hauptsächlich aus den Löhnen finanziert
und die Umverteilung durch den Sozialhaushalt spielt "sich fast ausschließlich innerhalb der großen Masse
der abhängig Arbeitenden ab..." Eine steuerfinanzierte
Rente würde die Finanzen der jetzigen Sozialkassen innerhalb der
Lohnarbeiterklasse nur anders umschichten. An der Tatsache, dass die
Lohnarbeiter selber für die Armutsrisiken aufkommen müssen, kann und wird
sich dadurch nichts ändern. Zu erwarten ist
jedoch, dass durch die Anhebung der untersten Renten das
Durchschnitts-Rentenniveau insgesamt sinken müsste.
Mit der Reduzierung der
sogenannten "Lohnnebenkosten" würden die Gesamtlohnkosten für das Kapital
sinken. Das Kapital würde durch die steuerfinanzierte Grundrente noch
stärker von Lohnkosten entlastet als es im jetzigen System der
gesetzlichen Sozialversicherung der Fall ist.
Bei der Diskussion um die Grundrente wird die
Finanzlage des Staates gerne verschwiegen oder außer Acht gelassen. Die
Bundesrepublik Deutschland treibt dem Staatsbankrott entgegen. Inzwischen
schlucken die Zinsen für Staatsschulden schon rund 20% der
Steuereinnahmen. Leute wie Biedenkopf
wollen den unvermeidlichen Staatsbankrott hinauszögern und hoffen, mit
Einführung einer billigen Grundrente, Sozialausgaben zu sparen. Eine
solche Grundrente ist nur ein schöneres Wort für Alten-Sozialhilfe. Wer
das jetzige Rentensystem für so eine Grundrente aufgibt, der verhält sich
wie "Hans im Glück" im Märchenbuch von Grimm: Er tauscht seine Kuh gegen
ein Schwein und das Schwein gegen eine Gans.
Wer meint, eine steuerfinanzierte Grundrente könne
für die Masse der Rentner mit Renten von vielleicht 1500 Euro im Monat ein
auskömmliches Leben ermöglichen, der hat von der politischen Ökonomie des
Kapitalismus und seiner Staatsfinanzen nicht das Geringste verstanden.
Gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten, wenn die Leistungen des
"Sozialstaats" am dringendsten und massenhaftesten von den Lohnarbeitern
nachgefragt werden, dann ist am wenigsten Geld da. Das war so nach dem
ersten Weltkrieg, das war so in der Weltwirtschaftskrise von 1929-39, das
war so nach dem zweiten Weltkrieg und das ist auch so in der jetzigen
Wirtschaftskrise. Der kapitalistische Staat verfügt nur so lange über
reichlich Geld, so lange die Profitwirtschaft boomt und das "soziale Netz"
kaum beansprucht wird. Wer 1000 oder 1500 Euro
Grundrente für alle fordert, der ignoriert die kapitalistischen
Finanzkrisen ebenso wie das Profitinteresse des Kapitals. Wer eine so hohe
"Grundversorgung" fordert, der will zwar das Kapital und die Lohnarbeit
bestehen lassen, will aber die Nutznießung des Kapitals den Kapitalisten
nehmen und durch eine "Umverteilung von oben nach unten" den Lohnarbeitern
zukommen lassen. Eine solche "Umverteilung" ist ebenso realistisch, wie
eine Umverteilung, die die Existenz von Himmel und Hölle nicht antastet,
aber allen Teufeln im Himmel Wohnrecht verschaffen will.
Die Sozialstaatslüge - Fallbeispiel Arbeitsamt
1.
Personalbestand Die Bundesanstalt
für Arbeit ("Arbeitsamt") hat rund 80.000 festangestellte und 10.000
weitere Beschäftigte, insgesamt 90.000. Davon sind 22.500 Beamte. Nach Mitarbeiterzahl gerechnet liegt das Arbeitsamt
zwischen dem Bayer-Konzern, mit 117.000 Beschäftigten das 15größte
deutsche Unternehmen, und der Preussag AG, mit 70.000 Beschäftigten auf
dem 18. Rang. Erste Schlussfolgerung: Das
Arbeitsamt ist eine riesige Jobmaschine für sich selbst.
2. Löhne u.
Gehälter Die Personalausgaben des
Arbeitsamtes sind für 2003 mit 3,4 Milliarden Euro veranschlagt.
Umgerechnet auf die Gesamtmitarbeiterzahl ergibt das ein
durchschnittliches Jahreseinkommen von 38.340 pro Beschäftigten. Macht ein
durchschnittliches Monatsentgelt von knapp 3200 Euro im
Monat. Zum Vergleich: Das Durchschnittsentgelt aller
Lohnarbeiter in Deutschland liegt bei 30.300 Euro im Jahr oder bei 2500 Euro im
Monat. Zweite Schlussfolgerung: Das Arbeitsamt
beschäftigt nicht nur viele Leute, es bezahlt auch überdurchschnittlich
mindestens in den oberen Etagen. Kein kapitalistisches Unternehmen leistet
sich den Luxus von unkündbaren Beamten mit einer traumhaften
Altersversorgung. Im Arbeitsamt stellen Beamte 25 Prozent der
Belegschaft.)
3.
Einnahmen Geplante Einnahmen für 2003: 53,163
Milliarden Euro. Davon aus Versicherungsbeiträgen: 49,4 Milliarden
(93 Prozent) von 27,4 Millionen Versicherten. Pro Versicherten
kassiert das Arbeitsamt 1800 Euro im Jahr drei Viertel eines
durchschnittlichen Monatslohns. Dritte Schlussfolgerung: Zum allergrößten
Teil wird das Arbeitsamt aus Versicherungsbeiträgen, d.h. aus dem Lohn
finanziert.
4.
Leistungen Geplante Einnahmen für 2003 waren
53 Milliarden Euro. 3,4 Milliarden Euro gehen
davon ab für Personalausgaben. Weiter gehen ab: 4,4 Milliarden
"Verwaltungsausgaben" Weiter gehen ab: 1,57 Milliarden
sonstige Verwaltungsausgaben und Investitionen. Insgesamt rund 9,4 Milliarden (17 Prozent der
Einnahmen), die das Arbeitsamt den Versicherten für seine Leistungen in
Rechnung stellt. Schlussfolgerung: Jedes kapitalistische
Unternehmen würde alle Manager feuern, die noch einmal das Doppelte an
"Verwaltungsausgaben" zusätzlich zu den Personalkosten aufwendeten.
Bleiben 44
Milliarden an die Versicherten zu verteilen. Was erhalten die
Versicherten als Leistungen daraus?
Von 4,1 Millionen offiziell erwarteten
Arbeitslosen des Jahres 2003 sollen ganze 1,8 Millionen
Arbeitslose im Jahr 2003 Arbeitslosengeld erhalten (44
Prozent). Frage: Was taugt eine Versicherung, die nur 44 Prozent der
Schadensfälle bezahlt?
Für die unterstützten 1,8 Millionen Arbeitslose
werden im Jahr 2003 24,3 Milliarden Euro aufgewendet, macht pro Nase
durchschnittlich 1125 Euro im Monat. Schlussfolgerung: 56
Prozent (2,3 Millionen) der Versicherten kriegen trotz Arbeitslosigkeit
keine Leistung. Nur 1,8 Millionen Arbeitslose kriegen durchschnittlich
1125 Euro im Monat . Und selbst
dieses Geld kriegt niemand ohne behördlichen Schikanen: Im Arbeitsamt
Kiel ist es schon soweit, dass man vor Abholung des Arbeitslosengeldes
einen Alkoholtest machen muss. Wer mehr als 0,5 Promille im Blut hat,
kriegt für den Tag ("als nicht vermittelbar"!) kein Geld. Wer nicht ins
Röhrchen blasen will, bekommt für 14 Tage keine Kohle.
Bleiben noch
17,4 Milliarden Euro zu verteilen.
Die fließen in allerlei berufene und unberufene
Taschen: Teils handelt es sich wie
Kurzarbeitergeld und Winterbaugeld (700 Mio. Euro) um indirekte
Subventionen an das Kapital, das auf Kosten des Arbeitsamtes in schlechten
Zeiten die Lohnkosten einspart, teils handelt es sich um direkte
Subventionen wie 200 Millionen Euro für "Beteiligung Dritter an der
Vermittlung" oder "Förderung selbständiger Tätigkeit" (1 Milliarde
Euro).
Bilanz Die "Wohltaten" des Sozialstaat sind eine
Propagandalüge . Die Lohnarbeiter müssen den
"Wohlfahrtsstaat" teuer bezahlen. Davon leben eine Menge angestellter
Staatsdiener in Bequemlichkeit. Die verbeamteten Staatsdiener leben davon
in Annehmlichkeit.
In
weniger als der Hälfte der Versicherungsfälle (44 %) zahlt das Arbeitsamt
überhaupt etwas aus. Die was kriegen, kriegen wenig und müssen noch
tausend behördliche Schikanen in Kauf nehmen.
Wem also dient also Arbeitsamt und Sozialstaat? In erster Linie der hohen und höchsten
Staatsbürokratie, die sich im Sozialstaat bequeme und gutbezahlte
Arbeitsstellen verschafft haben. In zweiter Linie
dient der Sozialstaat dem Kapital, das auf dem billigen Weg der
staatlichen Zwangsversicherung seine Geschäftsrisiken und Lohnkosten
verringert. Erst ganz zuletzt dient der
Sozialstaat denen, die für die Versicherung der Lohnarbeiterrisiken durch
Beiträge und Steuern selber aufkommen müssen.
Gibt es eine
Alternative? Die einzige Alternative, die ich
sehe, ist der Ausstieg aus dem Kapitalismus und der Abschied vom
kapitalistischen Staat durch eine selbstverwaltete Wirtschaft ohne
Lohnarbeit und ohne Profit.
Nach heutigem Stand der Entwicklung könnte das wie
folgt aussehen: 1. Auf kommunaler Ebene werden Produkt- und
Dienstleistungsbörsen eingerichtet, die landesweit vernetzt sind. Alle
Gesellschaftsmitglieder melden ihren privaten Bedarf an diese kommunalen
Börsen. Hinzu kommt noch die Nachfrage der Kommunen für
Gemeinschaftsaufgaben wie Bildung, Gesundheit, Vorsorge für Notzeiten
etc., für die die Kommunen besondere Fonds in Form von Arbeitsguthaben und
Sachmitteln unterhalten. An diese Börsen melden die Betriebe ihre
Produktions- und Serviceangebote und bestellen ebenfalls ihre betriebliche
Nachfrage. Ein Landesfonds mit Weltgeld wird eingerichtet für den Waren-
und Dienstleistungsverkehr mit dem kapitalistischen Ausland. Die kommunalen Börsen verrechnen landesweit Angebot
und Nachfrage. Die Kommunen übernehmen die Verteilung und den Transport
der hergestellten Produkte und der bestellten Dienstleistungen.
2. Alle Grundsatzentscheidungen über
Produktion und Verteilung werden in Urabstimmungen auf betrieblicher,
kommunaler oder landesweiter Ebene getroffen. Entscheidungen einer
Repräsentationsebene können durch Urabstimmung der jeweils Vertretenen
korrigiert werden.
3. Die bisherigen Betriebsräte der
Belegschaften treten an die Stelle der Aufsichtsräte des Kapitals und
übernehmen deren Rechte. Kleinbetriebe werden in Genossenschaften
umgewandelt.
4. Alle Repräsentanten (Räte) in Betrieb
und öffentlicher Verwaltung (Stadträte, Landesräte) werden (zwei)jährlich
in geheimer und direkter Persönlichkeitswahl (keine Listenwahl)
gewählt.
5. Alle Betriebe führen ihre Kalkulation,
Buchführung und Forschung und Entwicklung öffentlich (z. B. im
Internet).
6. Alle Sitzungen von Repräsentanten
(Betriebsräte, Stadträte, Landesräte) sind öffentlich für die von ihnen
Vertretenen (werden z. B. auch live im kommunalen oder landesweiten
Fernsehen übertragen).
7. Jeder hat
Anspruch auf dieselbe Ausbildungszeit. Nach einer theoretischen und
praktischen Allgemeinausbildung ist die Verteilung der restlichen
Bildungsjahre über ein Lebensalter frei.
8. Alle
Beschäftigungsverhältnisse werden auf Zeit abgeschlossen. Die langjährige
Fesselung an einen Betrieb oder eine einzige Beschäftigung stirbt aus.
Wal Buchenberg, 9.7.2003
Benutzte Literatur Borchert, Jürgen: Renten vor dem Absturz. Ist der
Sozialstaat am Ende? Frankfurt 1993. Buchenberg, Wal (Hrsg): Karl Marx, Das Kapital.
Kommentierte Kurzfassung aller drei Bände. Verlag für Wissenschaft und Forschung VWF Berlin
2002. Gillen,
Gabi/Möller/Michael: Anschluss verpasst. Armut in Deutschland. Dietz
Bonn 1992. Hanesch, W.
/Krause, P./Bäcker, G.: Armut und Ungleichheit in Deutschland. rororo
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Karl Heinrich: Die Epoche des Merkantilismus. In: Schäfer, Hermann
(Hrsg): Wirtschaftsgeschichte der deutschsprachigen Länder vom frühen
Mittelalter bis zur Gegenwart. Würzburg 1989 Lampert, Heinz: Staatliche Sozialpolitik im
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Diktatur 1933 1945. Eine Bilanz. Bundeszentrale für politische Bildung
Bonn 1986: 177 205. Luxemburg, Rosa: Sozialreform oder Revolution?
Leipzig 1899. In: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke Bd.1.1.: 367 466.) Marx, Karl: Grundrisse
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Grenzen der Sozialpolitik in der Marktwirtschaft. In: Schäfer,
Gerd/Nedelmann, Carl: Der CDU-Staat. Analysen zur Verfassungswirklichkeit
der Bundesrepublik. Bd.I. es Frankfurt 1969. 14 47. Nolte, Detlev: Die
Gesetzliche Rentenversicherung als unüberwindliche Barriere der
Sozialpolitik? Analyse des Rentenversicherungssystems in Hinblick auf die
Finanzierung der Sozialrenten. (Diss. Wiso Osnabrück 1987) Frankfurt
1988. Petersen,
Hans-Georg: Sozialökonomik. Stuttgart 1989. Rudzio, Wolfgang: Das politische System der
Bundesrepublik Deutschland. UTB 2. Aufl. 1987. Strasser, Johano: Grenzen des Sozialstaats?
Soziale Sicherung in der Wachstumskrise. EVA Köln 1979. Swaan, Abram de: Der
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der Neuzeit. Frankfurt 1993. (Originalausgabe: Amsterdam 1989). Ziegler, Gerhard: Alter
in Armut? Das Fiasko der staatlichen Altersversorgung. Hamburg 1992. Zöllner, Detlev:
Sozialpolitik. In: Benz, Wolfgang (Hrsg): Die Bundesrepublik Deutschland.
Geschichte in drei Bänden. Bd. 2: Gesellschaft. Frankfurt 1983.
Bei dem Kapitaldeckungsverfahren werden Teile der
Versichertenbeiträge einem Kapitalfonds
zugeführt, so dass die Erträge des Kapitalfonds und der Fonds selbst die
jeweils fällig werdenden Ansprüche der Versicherten abdecken können.
Demgegenüber wird bei dem Umlageverfahren kein
Fonds gebildet, sondern die Beiträge der aktiven Versicherten dienen in
der selben Periode zur Deckung der Rentenansprüche der passiven
Versicherten. Es wird hier natürlich auch hier eine gewisse
Liquiditätsreserve erforderlich sein, um kurzfristige Schwankungen der Einnahmen und
Ausgaben auffangen zu können. Diese Reserve stellt allerdings nur einen
verschwindend kleinen Bruchteil eines nach dem Kapitaldeckungsverfahren
notwendigen Fonds dar. (Petersen: 128.)
Ebenso: Es muss also
folgende Gleichung erfüllt sein: Bt = Rt, Wobei Bt die Beitragssumme und
Rt die Rentenzahlungen des Jahres t darstellen. Die Beitragssumme ist
abhängig von der Zahl der Beitragspflichtigen Zb, dem durchschnittlich
beitragspflichtigen Arbeitsentgeld 1 sowie dem Beitragssatz b. Dann
resultiert die Beitragssumme B1 aus:(2) Bt = Zb x 1 x b. Die gesamte
Rentenzahlung Rt ist von der Zahl der Rentenbezieher Zr und der
durchschnittlichen Rente r abhängig, so dass sich auf der Ausgabenseite
die Gleichung (3) Rt = Zr x r ergibt. (Petersen: 137f.)
Borchert: 32. Vgl.: Während
sich das Kapitaldeckungsverfahren dadurch
auszeichnet, dass jedenfalls theoretisch eine ... strikte
Gleichwertigkeit (Äquivalenz) zwischen den Beitragszahlungen in der
Vergangenheit und den Rentenleistungen in der Gegenwart und Zukunft
bestehen soll, ist diese strikte Äquivalenz beim Umlageverfahren
aufgehoben. ... Beim Umlageverfahren ..., bei
dem stets nur so viel an Beiträgen erhoben wird, wie an Leistungen in
derselben Periode auszugeben ist, stehen grundsätzlich ... sowohl der
Beitragssatz als auch die Höhe der Leistungen zur Disposition.
(Borchert: 29f.)
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